# taz.de -- Debatte Deutschland-Polen: Von Szepan zu Podolski | |
> Kaum eine andere Migrantengruppe ist besser integriert als die polnische. | |
> Die polnische Kultur in Deutschland blüht. Man sollte sich auch am | |
> Multikulti-Streit beteiligen. | |
Bild: Dem Nachbarn so nah: Verwitterter Grenzstein auf Usedom. | |
Der Streit, ob den heute in Deutschland lebenden 1,5 bis 2 Millionen | |
Menschen polnischer Herkunft der Status einer nationalen Minderheit | |
zukomme, hat etwas Atavistisches an sich. | |
Aber hinter diesem Streit, der zum 20. Jahrestag des deutsch-polnischen | |
Freundschaftsvertrages wieder hochkocht, wird nicht ein nachbarschaftliches | |
sondern ein allgemein-deutsches Problem sichtbar: Welche Konsequenzen | |
ziehen wir aus unserer Existenz als Einwanderungsland? Und wie soll sich | |
künftig entwickeln, was der Philosoph Svetlan Todorov als "Drama des | |
Zusammenlebens" bezeichnete? | |
Was die polnischstämmigen Menschen anlangt, so kann man sich kaum eine | |
Gruppe vorstellen, deren Mitglieder noch weniger Lust verspürten, sich mit | |
den ehemaligen Landsleuten zusammenzutun. Die polnische Kultur in | |
Deutschland blüht, es gibt eine Vielzahl hier lebender und anerkannter | |
Künstler, Schriftsteller und Intellektueller. Zivilgesellschaftliche, | |
kommunale und ökonomische Kooperation verbinden Polen und Deutschland - | |
nicht zu reden von den polnischen Arbeitskräften ohne und mit deutschem | |
Pass, die in den letzten drei Jahrzehnten wesentlich zum deutschen | |
Wohlstand beitrugen. Aber man wird bei uns vergeblich polnische Viertel in | |
den Städten suchen, auf wenig polnische Läden oder Kneipen stoßen. Von | |
einem regen Vereinsleben ganz zu schweigen. Zusammengenommen sind in | |
solchen Bünden und Vereinen rund 25.000 Menschen organisiert, aber die | |
Anzahl der Aktiven soll nicht mehr als 500 betragen. | |
## Zuwanderung und Kontinuität | |
Entgegen den Auffassungen polnischer Konservativer existiert so gut wie | |
keine Kontinuität zwischen der anerkannten polnischen Minderheit in der | |
Weimarer Republik und den heutigen polnischstämmigen Menschen in der | |
Bundesrepublik. Als Minderheit galten nicht die ins Ruhrgebiet | |
eingewanderten Polen mit ihren reichen polnischen Vereinsleben. Sondern die | |
anerkannte damalige polnische Minderheit lebte autochthon in Gebieten, die | |
heute zur Republik Polen gehören. Genauso autochthon wie die heute vor | |
allem in Oberschlesien lebende deutsche Minderheit. Das Gros der polnischen | |
Einwanderer seit den 1970er Jahren erhielt den deutschen Pass, weil es sich | |
auf zumindest partielle deutsche Abstammung berief. So entstand die | |
paradoxe Situation, dass viele Angehörige der vormaligen polnischen | |
Minderheit im "Deutschen Reich" wegen ihrer deutschen Verwandtschaft Polen | |
verlassen und als Deutsche in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. | |
Zwischen den verschiedenen Einwanderungswellen seit den 1970er Jahren | |
existieren gravierende Unterschiede. Die erste Welle waren "deutsche | |
Deutsche", die nicht vertrieben worden waren, aber mit Polen absolut nichts | |
am Hut hatten. Die zweite Welle seit den 1980er Jahren waren Polen, denen | |
die deutsche Abstammung als Ausreisemöglichkeit diente, ohne dass sie ihre | |
polnischen Wurzeln verleugnet hätten. Heute zählen zu den Zuwanderern | |
Menschen, die leichtfüßig zwischen Traditionen und Kulturen pendeln. Der | |
weite Bogen polnischer Immigrantenbiografien lässt sich an den | |
Fußballerkarrieren ablesen: von Fritz Szepan über Stan Libuda bis zu Miro | |
Klose und Lukas Podolski. | |
## Förderung findet nicht statt | |
So künstlich und aufgebauscht die Forderung nach Anerkennung als "nationale | |
Minderheit" ist, so berechtigt sind die Forderungen, die die polnischen | |
Verbände mit ihr verbinden und die auch von vielen verbandsfernen | |
Deutschpolen geteilt werden. Entgegen dem Wortlaut des | |
Freundschaftsvertrages von 1991 wird in den meisten Bundesländern das | |
Polnische nicht als Unterrichtssprache angeboten. Selbst in den | |
Grenzgebieten zu Polen sind die Lernmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Die | |
"Polonia", als Gesamtheit der polnischen Vereinigungen in Deutschland, | |
erhält keine staatliche Unterstützung, eine institutionelle Förderung | |
findet nicht statt. Aber diese Klage verbindet die Polen in Deutschland mit | |
allen anderen in Deutschland lebenden Nationalitäten mit oder ohne | |
deutschem Pass. Nur dass deren Probleme viel brennender sind als die der | |
gut integrierten Polen. | |
Minderheitenabkommen anzustreben wie im Fall der verfassungsmäßig | |
verbrieften Rechte der Sorben, Dänen und Roma verfehlt die Aufgaben, vor | |
denen Deutschland als "polyethnische" Gesellschaft steht. Vielmehr gilt es, | |
mit Gesetzeskraft festzuschreiben, dass alle Migrantengruppen das Recht | |
haben, an allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen mitbeteiligt zu | |
werden, | |
Formal hat die Bundesregierung in ihrem 2. Fortschrittsbericht zum | |
"Nationalen Integrationsplan" 2007 dem Prinzip des "migration | |
mainstreaming" zugestimmt. Sie hat für die Organisationen und | |
Selbsthilfegruppen der Migranten finanzielle Förderung in Aussicht | |
gestellt. Der Fortschrittsbericht erweist aber auch, dass die Migranten | |
nach wie vor lediglich Objekte der deutschen Planungen sind. Den | |
weitgefächerten und auch gesellschaftliche Organisationen einbeziehenden | |
Aktivitäten zum Trotz zeigt sich keine wirkliche Verbesserung bei wichtigen | |
Problemfeldern: der im Vergleich zu den Deutschen doppelt so hohen | |
Arbeitslosigkeit, dem Schulabgang ohne Abschluss, dem mangelnden Zugang zu | |
weiterführenden Schulen und dem Zugang zu Lehrberufen | |
## Praxis des "mainstreaming" | |
Wie es in der Praxis um das "mainstreaming", also die reale Partizipation | |
der Migranten bestellt ist, zeigte sich November letzten Jahres beim | |
vierten von der Bundeskanzlerin einberufenen Integrationsgipfel. Sein | |
Verlauf illustrierte, welche Rolle die Migranten in Wirklichkeit spielen. | |
Nach zig Reden der staatlichen Repräsentanten blieb für die Aussprache nur | |
eine halbe Stunde – dies bei 40 Wortmeldungen. | |
Kein noch so schöner künftiger Aktionsplan bewirkt etwas, wenn sich die | |
Einstellung der politischen Machtelite gegenüber der Migration nicht | |
ändert. Angela Merkel hielt "Multikulti" eine Grabesrede. Kenan Kolat, | |
Vorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland, antwortete, | |
"Multikulti" sei das Lebenselexier unserer multiethnischen Gesellschaft. | |
Dieser Streit muss entschieden werden. Wäre schön, wenn sich auch ein paar | |
Protagonisten der polnischen "Minderheit" an ihm beteiligen würden. | |
16 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
## TAGS | |
Fußball | |
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