# taz.de -- Bernd M. Beyer über „Die Saison der Träumer“: „Sehnsucht na… | |
> Bernd M. Beyer erzählt, wie politische und fußballerische Entwicklungen | |
> sich verbinden und warum Rückschauen derzeit auf so großes Interesse | |
> stoßen. | |
Bild: Ungleiches Duell: Gladbachs Günter Netzer (l.) gegen Reinhard Libuda von… | |
taz: Herr Beyer, was war für Sie als politisch und sportlich interessierter | |
Mensch das wichtigste Ereignis der Jahre 1971/72? | |
Bernd M. Beyer: Die Erfolge Willy Brandts. [1][Seine Ostpolitik], das | |
Überstehen des Misstrauensvotums und die breite Unterstützung in der | |
Bevölkerung für seine Reformen. | |
Vergleichen Sie das doch mit dem Fußball. | |
Es gibt ja die These vom Gleichklang der Entwicklungen. Ich bin da aber | |
zurückhaltend. Für die These spricht, dass 1971/72 die Nationalelf | |
offensiver und schöner spielte. Und dass es dann den Schwenk zur WM 1974 | |
gab, wo eher Zweckfußball gespielt wurde, entsprechend der politischen | |
Ernüchterung, die nach den Aufbruchjahren der Reformpolitik einsetzte. | |
Spiegelte sich diese gesellschaftliche Stimmung auch bei den Spielern? | |
Die jungen Spieler waren sicherlich beeinflusst von der Jugendbewegung, dem | |
kulturellen Umbruch. Das zeigte sich in der Form, dass sie individueller | |
auftraten, selbstbewusster, in gewisser Weise vielleicht auch | |
antiautoritär. | |
So richtig globalisiert war der Fußball aber noch nicht? | |
Auch große Vereine wie Bayern München und Borussia Mönchengladbach waren | |
regional verankert. Wichtige Spieler kamen aus der mittleren Umgebung ihrer | |
Vereine. | |
In Ihrem Buch spielt Reinhard „Stan“ Libuda von Schalke 04 eine wichtige | |
Rolle. Können Sie dessen politische Bedeutung beschreiben? | |
Libuda nimmt sich zu dieser neuen Fußballergeneration etwas untypisch aus. | |
Er entstammte proletarischen Lebensverhältnissen und hat sich da Zeit | |
seines Lebens am geborgensten gefühlt. Aber zugleich war das sein Problem. | |
Mit den Mechanismen des modernen Profifußballs kam er nicht klar. Es ist | |
menschlich tragisch, auf welche Art er sich in den Bestechungsskandal | |
verstrickte. | |
Und Günter Netzer? | |
Netzer hat sein Talent, das ja riesig war, erkannt und für sich | |
geschäftlich nutzen können. Er hat sich so ein interessantes Image | |
aufgebaut, und neben seinem Profigehalt hatte er immer noch hohe | |
Nebeneinkünfte. Er führte nebenbei beispielsweise eine Werbeagentur und die | |
berühmte Disco Lovers Lane. Das war damals revolutionär. | |
Beim Bundesligaskandal 1971 waren es ja oft sogenannte Honoratioren, die | |
plötzlich kriminell handelten. Zeigt das auf eine uneingestandene Art die | |
gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs? Dass man in diesem Bereich | |
unbedingt erfolgreich sein musste? | |
Ich glaube nicht. Es gab bei Vorständen vor allem eine enorm hohe | |
Identifizierung mit dem Verein. Es war ja wirklich eine existenzielle | |
Frage, ob man in der Bundesliga blieb. Wer abgestiegen ist, ist ökonomisch | |
tief gefallen, in eine der fünf Regionalligen, denn eine zweite Bundesliga | |
gab es noch nicht. | |
Dass Bestechung unter Strafe stand, war aber bekannt? | |
Ein Unrechtsbewusstsein hat nicht existiert. Solche Schwarzgeldzahlungen | |
haben den Fußball schon immer begleitet. Schon in den zwanziger Jahren war | |
Sepp Herberger gesperrt, 1930 auch Schalke. Und auch die Bundesliga war ja | |
in den sechziger Jahren nicht voll professionalisiert. In diesem Umfeld | |
blühte diese Praxis: um gute Spieler zu halten, zu holen oder eben um | |
Spieler anderer Vereine dazu zu bringen, mal zu verlieren – damit der | |
eigene Klub nicht absteigt. | |
Gehen wir doch die politische Geschichte des Fußballs entlang der | |
Weltmeisterschaften durch. 1954 gilt ja als Ausdruck des „Wir sind wieder | |
wer“. | |
Das ist eher eine Interpretation, die sich viel später durchgesetzt hat. | |
Die Politik hielt sich aus der WM damals komplett raus, Konrad Adenauer | |
wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, zum Finale nach Bern ins | |
Wankdorfstadion zu fahren. | |
Und 1974? | |
Helmut Schmidt hat sich auch nicht für Fußball interessiert. Der Fußball | |
galt damals nicht als politisch bedeutend. Auch die Spieler haben sich | |
nicht als Repräsentanten der Nation gefühlt. Niemand hat bei der Hymne | |
mitgesungen. Und die Fußball-WM im eigenen Land war kein | |
bundesrepublikanisches Projekt. | |
1990 hat sich das geändert? | |
Ja, der Teamchef Beckenbauer stand für eine Modernisierung, für eine | |
Öffnung des Fußballs. In den achtziger Jahren hatte der Fußball ja wirklich | |
ein schlechtes Image: Es wurde schlecht gespielt, und in den Stadien | |
tummelten sich Nazis. Aber dann avancierte der Fußball zum nationalen | |
Kulturgut und übernahm auch einen gesellschaftlichen Auftrag, etwa mit der | |
Kampagne „Keine Macht den Drogen“. | |
Was lässt sich über 2014 sagen? | |
Das war der Höhepunkt der Entwicklung, die 1990 begonnen hatte. Mit | |
Privatfernsehen, Öffnung gegenüber neuen Zuschauergruppen, aber auch mit | |
systematischerem Training – so wurde der Fußball für viel mehr Menschen | |
attraktiver. Erster Zwischenhöhepunkt war die WM 2006. Da bestand ja das | |
ganze Volk aus einem Heer von Fußballfans. [2][Diese Entwicklung wurde | |
konsequent zur WM 2014 weiter getrieben], die ja unglaublich professionell | |
vorbereitet wurde – bis hin zum eigens gebauten Mannschaftsquartier. | |
In Ihrem Buch haben Sie sich mit den Parallelen zwischen Politik, Fußball | |
und Kultur beschäftigt. Gibt es eine andere Saison, die dafür auch Stoff | |
böte? | |
Am ehesten die Saison 91/92, als erstmals zwei ostdeutsche Vereine in die | |
Bundesliga integriert wurden. Das könnte ja ein Lehrstück werden, wie der | |
westdeutsche Fußball mit seinem Geld die ostdeutschen Vereine leer gekauft | |
hat. | |
Und? Wird es dieses Buch geben? | |
Nein, von mir wohl nicht. Allerdings bin ich schon sehr überrascht, wie | |
viel Zuspruch mein 71/72-Buch erhält. | |
Woran könnte das liegen? | |
Momentan wird ja vieles als Stillstand empfunden, nicht zuletzt durch den | |
Lockdown. Da gibt es natürlich Raum für einen Rückblick, als es in der | |
Gesellschaft und auch im Fußball eine Aufbruchstimmung gab. Und vielleicht | |
können viele den Fußball heute nicht mehr genießen, weil die | |
Kommerzialisierung überdreht ist. Da besinnt man sich gern der „guten alten | |
Zeiten“, als die Spieler noch um die Ecke wohnten und nicht nach zwei | |
Saisons wieder verschwanden. | |
Ist das nicht ein bisschen zu viel der Romantisiererei? | |
Die ist in der Tat nur teilweise berechtigt: Man blickt einfach auf ein | |
anderes Stadium der Entwicklung zurück. Auch damals regten sich viele über | |
die „viel zu hohen Gehälter“ der Stars auf. Andererseits ist der Fußball | |
momentan tatsächlich dabei, diverse rote Linien zu überschreiten, siehe die | |
WM 2022 in Katar. | |
20 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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