# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Holy Man | |
> Der Fußball wird weiblicher - aber ist das auch wirklich gut so? Fragen | |
> Sie mal mein neues Vorbild Günter Netzer! | |
Bild: Ungleiches Duell: Gladbachs Günter Netzer (l.) gegen Reinhard Libuda von… | |
Fahrradhelme sind eine Zumutung. Es gibt im Alltag kaum etwas, das ich so | |
hasse wie Fahrradhelme. Auf Erwachsene. Unter siebzig. Fahrradhelme sind | |
noch schlimmer als Birkenstock-Schuhe und Burberryschals zusammen. Und mir | |
scheint: Fahrradhelme werden immer mehr getragen. Obwohl ich mich redlich | |
bemühe, jedem Lebensjahr eine neue Erfahrung abzutrotzen, muss ich doch | |
zugeben, dass der Umgang mit dieser Tatsache eine wirklich neue | |
Grenzerfahrung bedeutet, eine Herausforderung bei der ich meine eigenen | |
Ansprüche an heiteren Gleichmut bis an die Schmerzgrenze austesten kann. | |
Aber ich habe jetzt, was den Umgang mit höchstmöglicher Abneigung angeht, | |
ein Vorbild gefunden. Günter Netzer. | |
Zwischen den Spielen gegen Kroatien und Österreich wurde ja breit über die | |
Frage debattiert, wie denn sein könne, dass diese Mannschaft so armselig | |
spiele und was denn da nur passiert und eventuell zwischenmenschlich los | |
sei, uswusf. … Delling und Netzer guckten sich einen Bericht über das Leben | |
der deutschen Mannschaft in ihrem Hotel an, und irgendein Spieler erzählte | |
mit leuchtenden Augen, dass inzwischen der Psychologe da gewesen und nun | |
alles wieder gut sei. "Am Schluss konnten wir uns sogar alle in die Augen | |
schauen", lautete der letzte, enthusiastisch hervorgestoßene Satz. | |
Zurück ins Studio zu den beiden Männern, dem alten und dem jungen. Dellings | |
Gesicht spiegelte das Glück des soeben Gezeigten. Das passiert einem ja | |
schon mal, dass man automatisch zurücklacht, wenn sich einer im Fernsehen | |
freut, aber im Gesicht von Herrn Netzer wurde im | |
Tausendstel-Sekunden-Zeitraffer eine lange Geschichte von | |
Fassungslosigkeit, Abneigung, Spott, Hochmut und Verachtung erzählt, die | |
sich zuerst in Beherrschung und Vernunft veränderte und schließlich in eine | |
persönliche Erkenntnis umsetzte. Es war wunderbar, diesem Prozess in | |
Echtzeit zuzugucken. | |
Netzer hat ein so großflächiges Gesicht, dass man alles darin sehen kann. | |
Gerade weil er es bewusst so unbewegt hält, ist es so gut zu erkennen. Er | |
hob sinngemäß an: "Ich glaube zwar nicht, dass In-die-Augen-Gucken zum | |
besseren Fußballspielen verhilft", um sich dann zu dem versöhnlichen Satz | |
zu entschließen, "aber ich bin aus einer Generation, in der man nicht so | |
einen selbstverständlichen Umgang mit Psychotherapie hatte." Und dann fügte | |
er, mit einer raffiniert gezielten Indiskretion dem jungen Herrn Delling | |
einen kleinen Hieb versetzend, noch hinzu: "Oder mit Psychoanalyse. So wie | |
Sie." Für mich persönlich war das ein noch schönerer Tanz als das Spiel der | |
Spanier. | |
So muss man mit seinen eigenen Vorurteilen umgehen, dachte ich: Erst in | |
versammelter Heftigkeit kommen lassen, Mund geschlossen halten, alles | |
vorbeiziehen lassen, und dann etwas Verbindliches sagen, ohne sich | |
geschlagen zu geben … So wurde Günter Netzer mein Vorbild. Von da an habe | |
ich keine Spielübertragung im Ersten mehr ausgelassen. Und ich bin traurig | |
darüber, erst in zwei Jahren wieder etwas von ihm lernen zu können. | |
Es liegt natürlich daran, dass ich keine Ahnung von Fußball habe. Und mich | |
auch nicht wirklich dafür interessiere, was ein Abseits oder eine Grätsche | |
ist. Ich liebe das an- und abschwellende Geräusch von Gesängen, Trommeln | |
und Schreien wie eine Hintergrundmusik zu dem, was ich gerade tue: | |
aufräumen, kochen, rumsitzen. Manchmal halte ich inne bei dem, was ich tue, | |
und gucke zu. Meistens wird es mir langweilig, wenn nichts passiert, aber | |
manchmal ertrage ich auch die starken Emotionen nicht, wenn zu viel | |
passiert. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich zischend die Luft zwischen | |
den Zähnen hindurch einziehe, wie mir ein "Uuuiii" entfährt oder ein "ach | |
du Kacke". Was würde Günter Netzer jetzt tun?, frage ich mich dann und | |
bewege probehalber meine Lippen langsam von einer Gesichtshälfte in die | |
andere, um durch äußere Nachahmung (beliebtes Gestalttherapiekonzept!) ein | |
Gefühl vom Inneren meines neuen Guru zu bekommen. | |
Alles war früher vorstellbar: Altgriechisch oder Sanskrit studieren, | |
Teppiche weben oder eine Gärtnerei betreiben - aber niemals wäre ich darauf | |
gekommen, dass ich bei Fußballmeisterschaften in erwartungsvoller Freude | |
den Fernseher einschalte. | |
Aber ich bin ja nicht allein. Wer am Montag die Bilder vom Brandenburger | |
Tor gesehen hat, musste feststellen: Zur Begrüßung der Mannschaft auf der | |
Fanmeile waren eindeutig mehr Mädchen als Jungen gekommen. Auch vorher bei | |
den Spielen im Stadion waren sie überall zu sehen: Mädchen, Mädchen, | |
Mädchen. Und fast alle sahen so aus wie die alte und die zukünftige | |
Freundin von Bastian Schweinsteiger. | |
Nun entspricht die Rolle der hübschen und anfeuernden Bewunderin von | |
durchtrainierten Sportlern durchaus dem landläufigen Geschlechterklischee, | |
aber die bessere deutsche Nationalmannschaft wird ja inzwischen auch von | |
Mädchen und Frauen gestellt. Die sind seit 1989 (bis auf einmal, 1993) | |
durchgängig Europameister und zweimal Weltmeister geworden! | |
Dieser verblüffende Wandel sollte uns - und vor allem den Funktionären - zu | |
denken geben. Wir wissen doch aus den Sozialwissenschaften, wie zwiespältig | |
das Vorrücken von Frauen in Männerbastionen betrachtet wird. Fest steht: | |
Sind die Frauen dort erst richt angekommen, bedeutet es den Niedergang des | |
professionellen Images. Siehe Sekretär und Lehrer. Was waren das mal für | |
angesehene Berufe! | |
Unklar bleibt weiterhin, was zuerst war: der Niedergang des Berufsbildes - | |
deshalb dürfen Frauen die frei werdenden Plätze einnehmen - oder Frauen | |
erobern sich neue Räume - deshalb verliert der Beruf sein Image. | |
Könnte die Tatsache, dass Frauen wie ich Günter Netzer anbeten, junge | |
Mädchen stundenlang auf Fußballspieler lauern und die deutsche | |
Frauenfußballmannschaft mehr Meisterschaftstitel als ihre männlichen | |
Kollegen einheimsten, könnte dies bedeuten, dass sich die Sportart auf dem | |
absteigenden Ast befindet? Grölende Prolls als Sinnbild von Fußballfantum | |
sind es jedenfalls. Jetzt ist der fröhlich fahnenschwenkende, gemäßigt | |
patriotische, aber sachkundige Profifan gefragt. | |
2011 findet die Frauenfußball-Weltmeisterschaft in Deutschland statt. | |
Vielleicht gelingt es der ARD in der Zeit bis dahin, ein ähnlich | |
hochkarätiges Moderatorinnenteam zu casten. Das wird allerdings nicht | |
einfach sein. Beide Rollen sind inzwischen perfekt präsentiert und geradezu | |
spirituell aufgeladen. | |
Wenns mit dem Präsidentenamt nicht klappt, könnte Gesine Schwan den Netzer | |
machen. Sie müsste allerdings ihr Lachen auf ein Drittel reduzieren. Man | |
hat schon beim Dalai Lama gesehen, wie schnell das auf die Nerven gehen | |
kann. | |
Und sie müsste in dieser Zen-boshaften Gleichgültigkeit Dinge sagen können | |
wie der Meister. Als Mönch Delling ihn auf das rot-gelbe Tüchlein (Schwarz | |
konnte man auf dem schwarzen Hintergrund nicht sehen, es hätten also auch | |
die spanischen Farben sein können!) im Revers ansprach, entgegnete er mit | |
dem diesjährigen deutschen Koan: "Ich bin aus mir herausgegangen und habe | |
mein Bestes gegeben." | |
2 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Renée Zucker | |
## TAGS | |
Fußball | |
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