# taz.de -- Islamexperte über revoltierende Araberinnen: "Heirat und Kinder re… | |
> Geschlechterrollen verändern sich auch in Nordafrika – deswegen sind | |
> Frauen aus den Aufständen nicht wegzudenken. Ein Gespräch mit dem | |
> Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. | |
Bild: "Die Revolutionen sind städtisch, jung und weiblich": Frauen in Kairo im… | |
taz: Herr Schulze, welche Rolle spielen Frauen in den arabischen | |
Aufständen? | |
Reinhard Schulze: Ohne sie hätten diese Revolten gar nicht diese | |
Durchschlagkraft. Das gilt für Ägypten, auch für den Jemen. Das hängt damit | |
zusammen, dass Frauen in diesen Gesellschaften, anders als noch in den | |
siebziger Jahren, in erheblichem Maße am öffentlichen Leben teilnehmen. | |
Deshalb sind sie heute auch Teil der Aufstände. | |
Was hat sich Ihrer Beobachtung nach seitdem verändert? | |
Der Schlüssel ist die Berufstätigkeit der Frauen. Laut Internationaler | |
Arbeitsorganisation (ILO) sind etwa 40 Prozent der Frauen in den arabischen | |
Gesellschaften erwerbstätig. In den siebziger Jahren waren es unter sechs | |
Prozent. Das ist eine massive Veränderung. Viel höher ist das Erwerbsniveau | |
in den westlichen Industriestaaten auch nicht. | |
Wie kam es zu dieser Veränderung? | |
Teilweise wegen der Migration. Die Frauen haben Arbeitsplätze eingenommen | |
von Männern, die ausgewandert sind. Interessant ist, dass Frauen sehr stark | |
bei den leitenden Angestellten vertreten sind. Dass Frauen höhere | |
Positionen bekleiden, ist in Ägypten und Tunesien sehr ausgeprägt, aber | |
auch im Iran. Die Revolutionen, von Tunesien bis zum Jemen, sind städtisch, | |
jung und weiblich. Die Bewegungen sind, was die Geschlechter betrifft, sehr | |
ausgeglichen. | |
Ist das Bild von der unterdrückten, ins Private verbannten arabischen Frau | |
eine europäische Projektion? | |
Wer arbeitet, hat andere Lebenspläne. Heirat und Kinderkriegen reichen | |
nicht. Mit der Erwerbsarbeit wird eine soziale Identität jenseits der | |
klassischen Familienrolle möglich. Das ist der Hintergrund, warum sich so | |
viele Frauen in diesen Ländern an den Aufständen beteiligen, die ja soziale | |
Revolten sind. | |
Sind die Bewegungen so wenig religiös gefärbt, weil so viele Frauen dabei | |
sind? | |
Ja und nein. Die islamistischen Bewegungen, etwa die Muslimbrüder in | |
Ägypten, haben versucht, die wachsende Präsenz der Frauen in der | |
Öffentlichkeit zurückzudrängen. Doch viele Frauen nutzen den Islam | |
ihrerseits heute als Legitimation, um an der Öffentlichkeit teilzunehmen. | |
Darin steckt das Motiv, sich nicht mehr den Männern, sondern nur dem Islam | |
unterzuordnen. | |
Gehen Sie so weit zu sagen: Die Frauen fühlen sich dort nicht vom Islam | |
unterdrückt? | |
Religiös drangsaliert fühlen sich häufig Migrantinnen in Europa, aber auch | |
Frauen in der Türkei. Wer mit Frauen in den arabischen Ländern redet, | |
bekommt jedoch oft anderes zu hören: Unterdrückt fühlen sie sich nicht vom | |
Islam, sondern vom Militär, den Parteien, der Männergesellschaft, die sie | |
ausschließt. | |
Der Islamforscher Olivier Roy sagt, dass die Protestbewegungen "de facto in | |
einem säkularen politischen Raum" stattfinden. | |
Die Islamisten waren der Konterpart der autokratischen Regime. Beide haben | |
sich gegenseitig gebraucht. In dem Moment, in dem plurale Ordnungen | |
entstehen, ist dieses Spiel zu Ende. Den Islamisten fehlt das Feindbild - | |
und damit auch Legitimität. In den Augen der jungen Generation, der Akteure | |
der Revolte, sind die Islamistenverbände Teil der alten Ordnung, von der | |
sie sich befreien wollen. | |
Hat Sie die gleichzeitige Eruption von Aufständen nach Jahrzehnten der | |
Stabilität überrascht? | |
Es war klar, dass es in diesen Gesellschaften viele Widersprüche gibt, die | |
irgendwann zum Ausdruck kommen mussten - aber wann, das war nicht | |
vorhersehbar. Es gibt in diesen Staaten einen scharfen Generationskonflikt | |
- zwischen der privilegierten Großvätergeneration und den vielen Jungen, | |
die ihre Chance haben wollen. | |
Warum wurde der Siedepunkt gerade jetzt erreicht? | |
Das hat meiner Ansicht nach zwei Gründe oder Anlässe: Die Explosion der | |
Nahrungsmittelpreise, dazu die Selbstverbrennung von Mohammed Buazizi in | |
Tunesien, die medial eine ungeheure Wirkung entfaltete. Beides hat einen | |
Stimmungsumschwung bewirkt - von passivem Erleiden zu dem Gefühl: So geht | |
es nicht mehr weiter. | |
Die Revolten in Tunesien und Ägypten haben kein klares politisches Konzept, | |
es sind eher Aufstände von Individuen, von Bürgern. Was ist ihr Projekt? | |
Der Staat soll nicht mehr, wie bisher, die gesellschaftliche Ordnung | |
definieren, sondern umgekehrt: Die Zivilgesellschaft versucht die | |
staatliche Ordnung zu definieren. Der Staat soll Rechtssicherheit und eine | |
Friedensordnung garantieren, aber nicht mehr die Privilegien einzelner | |
Gruppen schützen. Es gibt noch keine kollektive Vorstellung, wie die neue | |
soziale Ordnung aussehen muss. Dies sind eben keine ideologischen Revolten. | |
Was sie antreibt, ist der Wunsch, frei über das eigene Leben zu verfügen - | |
und: Chancengleichheit. Das ist das entscheidende Motiv. | |
Das Offene ist der Charme dieser Bewegungen. Besteht aber nicht die Gefahr, | |
dass sich die alten Cliquen und Strukturen dagegen wieder durchsetzen? | |
Die Gefahr besteht, gerade in Ägypten. Aber das hat zwei Seiten. Es ist ja | |
eine bewusste Entscheidung, keine neuen privilegierten Machtinstitutionen | |
zu bilden, sondern die offenen, etwas anarchischen Formen zu behalten. Weil | |
die Bewegung eben nicht Avantgarde sein oder feste Institutionen will. | |
Davon hat man ja gerade die Nase voll. Man kann das mit den | |
Jugendbewegungen vergleichen, die sich gegen die Adenauer Republik | |
richteten. Auch da ging es, wie jetzt in der arabischen Welt, um | |
individuelle Freiheit. Man wollte sich von den Älteren einfach nicht mehr | |
vorschreiben lassen, wie man leben soll. | |
Also ein arabisches 1968? | |
Ja, aber es gibt Unterschiede. 1968 waren es Kulturrevolten in Demokratien. | |
Was jetzt in der arabischen Welt passiert, ist anders, weiter gespannt. Man | |
kann es eher mit dem politischen Umbrüchen vergleichen, die 1974 und 1975 | |
in Griechenland, Spanien und Portugal passierten - also der Transformation | |
von faschistisch-autoritären Systemen in liberale Demokratien. | |
In Spanien konnte man an die Zeit vor Franco, an eine verschüttete, | |
erstickte demokratische Tradition anknüpfen. Und in Ägypten, geht es da | |
nicht um eine Neuerfindung? | |
Es gibt bei Intellektuellen in Ägypten einen Rückbezug auf die 1930er und | |
1940er Jahre, wo es eine relativ plurale Ordnung gab. Das ist nicht so | |
verschieden, von dem, was in Spanien in den 70ern nach Franco geschah. Ein | |
Unterschied ist, dass sich die Intellektuellen in den arabischen Ländern | |
mit dem Vorurteil auseinandersetzen müssen, dass islamische Gesellschaften | |
unfähig zur Demokratie seien. | |
Das ist eine Projektion des Westens? | |
Ja, sicher. Wenn jemand in Kairo Freiheit und Gleichheit fordert, ist das | |
nicht weniger legitim als wenn jemand das in Paris tut - nur weil es in der | |
ägyptischen Geschichte kein 1789 gab. Menschenrechte und Demokratie sind | |
kein Privileg des Westens - und Araber, die sich darauf berufen, werden | |
hierdurch eben nicht verwestlicht. | |
Wie groß ist die Gefahr eines Rollbacks in Ägypten? | |
50 zu 50. Das Militär hat sich, als es sich gegen Mubarak stellte, gegen | |
das Regime positioniert, das es hervorgebracht hatte. Diese Ambivalenz gibt | |
es auch heute noch. Die Gefahr, dass das Militär auf Privilegien beharrt, | |
ist real. | |
Und was, wenn die Revolten doch scheitern? | |
Dann bleiben die Widersprüche. Dann werden die Geltungsansprüche der Jungen | |
anders zum Ausdruck kommen. | |
Es gibt Prognosen, dass in zehn Jahren in der Region nicht 15 Millionen | |
Menschen unter 30 Jahren arbeitslos sein werden, sondern 100 Millionen. | |
Das ist wegen der Bevölkerungsentwicklung ein realistisches Szenario. Schon | |
heute machen die 15- bis 35-Jährigen fast 40 Prozent der Gesellschaft aus. | |
Tendenz steigend. Das verdeutlicht, wie entscheidend diese Phase jetzt ist. | |
Gelingt es jetzt, den Millionen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, durch | |
Revolte und Reformen eine Perspektive zu geben, ihnen die Selbsttätigkeit | |
zu ermöglichen? Wenn nicht, wird der soziale Druck enorm wachsen. Dann wird | |
es Rebellionen und Verteilungskämpfe geben, von denen wir uns heute noch | |
keine Vorstellung machen. | |
2 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Prozess gegen ägyptischen Ex-Staatschef: Mubaraks Anwalt sucht deutsche Hilfe | |
Der Verteidiger des gestürzten Präsidenten Husni Mubarak will einen | |
deutschen Arzt hinzuziehen. Dieser hatte Mubarak im März 2010 in der | |
Uniklinik Heidelberg behandelt. | |
bundestag.de auf Arabisch: Nur für Touristen und Revolutionäre | |
bundestag.de gibt's nun auf Arabisch. Die Bundesregierung begründet das mit | |
Revolutionen im arabischen Raum – nicht mit Arabisch sprechenden Deutschen. | |
Kommentar Jemen: Keine Demokratie mit den Saudis | |
Ein Garant für eine demokratische Entwicklung war Saudi-Arabien noch nie. | |
Es gibt gute Gründe für die AktivistInnen im Jemen, deshalb wachsam zu | |
bleiben. | |
Aufstand im Jemen: Wie geht es weiter ohne Saleh? | |
Präsident Ali Abdallah Saleh hat das Land verlassen, um sich in | |
Saudi-Arabien medizinisch behandeln zu lassen. Die Opposition feiert. | |
Dauert der arabische Frühling an? | |
Debatte arabischer Frühling: Keine Zukunft für Diktatoren | |
Der Libyenkrieg kann noch lange dauern - am Ende wird Gaddafi sich | |
verantworten müssen. Nun muss in Syrien der Druck auf Assad wachsen. | |
Slavoj Zizek über den Arabischen Frühling: "Ich gebe zu, ich war überrascht" | |
Die Revolutionäre wollen nicht den gleichen liberalen Kapitalismus wie der | |
Westen. Sie wollen mehr. Ein Gespräch mit dem Philosophen Slavoj Zizek. | |
Journalist über kurdischen Frühling: "Wir werden Tragödien erleben" | |
Im Windschatten der arabischen Proteste regt sich auch im nordirakischen | |
Kurdistan der Widerstand. "Awena"-Chefredakteur Asos Hardi über | |
unabhängigen Journalismus. | |
Autor Ben Jelloun über "Arabischer Frühling": "Islamistische Software hat aus… | |
Der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun spricht über | |
die demokratische Volksbewegung, das Recht zum Tyrannenmord und den | |
Laizismus der globalisierten Jugend. |