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# taz.de -- Hungersnot in Ostafrika: Paradoxon Somalia
> Es gibt keine staatlichen Strukturen, in Somalia herrschen Krieg und
> Zerfall. Und dennoch funktioniert einiges in dem ostafrikanischen Land.
> Eine Länderkunde.
Bild: Die Viehexporte allein aus Südsomalia wurden im Jahr 2010 auf 360 Millio…
BERLIN taz | Wenn dieser Tage Tausende Somalis den Hungertod sterben,
können ihre begüterten Landsleute das am Smartphone mitverfolgen. Am 12.
Juli, während die internationalen Hungerhilfsappelle für Somalia immer
lauter wurden, eröffnete die größte Telefongesellschaft im seit zwanzig
Jahren eigenständigen nordsomalischen Teilstaat Somaliland, Telesom, das
erste 3G-Netzwerk des Landes. Den 1,5 Millionen Somalis mit Netzempfang
stehen nunmehr modernste Apps aus aller Welt offen.
Der boomende Mobilfunksektor Somalias ist eines der vielen Wunder eines
Landes, das seit zwanzig Jahren weltweit als Inbegriff des Chaos gilt. Seit
über zwanzig Jahren gibt es in Somalia keinen Zentralstaat mehr. Aber der
Handyempfang ist besser als im Nachbarland Kenia, die Reichweite moderner
Technologien größer als im Nachbarland Äthiopien. Das alte somalische
Händlervolk hat zwanzig Jahre Staatenlosigkeit genutzt, um sich früher als
viele afrikanische Kollegen global zu vernetzen und Somalias alte
Brückenfunktion zwischen Afrika und Asien geschickt zu nutzen.
Staatliche Ordnung gibt es nur in Teilgebieten, ohne nachhaltige Stabilität
und internationale Anerkennung. Und es gibt keinen dauerhaften Frieden. Ein
Viertel der somalischen Bevölkerung ist heute auf der Flucht, die
Unterernährungsrate ist die höchste der Welt. Das Nebeneinander von
bitterem Elend und ökonomischer Innovation, nationalem Dauerkonflikt und
lokaler Stabilität ist das somalische Paradoxon, das man begreifen muss, um
den Somalis heute wirksam helfen zu können.
## Niemand will den Zentralstaat
Einig sind sich so gut wie alle Somalis in der Ablehnung des Wunschziels
der internationalen Gemeinschaft: ein starker Zentralstaat in Mogadischu.
Das düstere Erbe des letzten Staates in Somalia wirft bis heute seinen
Schatten. Militärdiktator Siad Barre, ein Gewaltmodernisierer vom Schlage
Saddam Husseins und Muammar al-Gaddafis mit ähnlichem Hang zu Personenkult,
schmiedete aus Somalia ab seinem Putsch 1969 eine aggressive,
nationalistische Militärdiktatur.
Das war schwer zu ertragen für eine nomadisch geprägte Gesellschaft, an der
die Kolonialzeit kaum Spuren hinterlassen hatte. Zweimal zog Barre in den
Krieg gegen Äthiopien und verlor. Danach traten die Landbevölkerungen in
den bewaffneten Aufstand. Anfang 1991 rückte eine bunte Koalition von
Rebellen in Mogadischu ein, Siad Barre floh, die Somalis jubelten.
Doch über den weiteren Weg waren sich die Rebellen uneins. Die aus dem
Norden, am härtesten vom Krieg gezeichnet, gingen nach Norden zurück und
errichteten das alte Britisch-Somaliland 1991 neu als Republik Somaliland.
Im Rest Somalias, vor allem in Mogadischu und im Süden, bekämpften sich
Warlords. Es entwickelte sich eine schlimme Hungersnot. Ähnlich wie heute
schwoll der internationale Ruf nach Eingreifen an. Eine UN-Mission blieb
zahnlos. Um humanitäre Hilfe zu schützen, landeten im Dezember 1992
US-Marines am Strand von Mogadischu mit martialischem Gehabe, als wäre es
die Normandie 1944. Sie wurden zur Zielscheibe. Im Oktober 1993 wurden 19
US-Soldaten grausam in Mogadischu getötet, in Reaktion gab es verheerende
Luftangriffe mit Hunderten Toten. Die USA zogen ab.
Somalia verschwand danach praktisch von der Weltkarte. Es blieb in der
internationalen Debatte der Begriff "Somalisierung" als abschreckendes
Modell für kriselnde Staaten weltweit. Hochgerüstete Clanmilizen teilten
sich das Land untereinander auf, führten Krieg gegeneinander und stritten
auf Friedenskonferenzen. Eine Regierungsbildung nach der anderen verlief im
Sand.
Derweil florierte die informelle Wirtschaft. Aber sie wurde nach den
Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York schwer getroffen: Die
informelle Geldwirtschaft der Somalis kam in den Verdacht, als
Geldwaschanlage für al-Qaida zu dienen; der florierende somalische
Viehexport wurde Opfer eines saudischen Embargos; die reichen Fischbestände
wurden asiatischen Raubflotten überlassen. Dies begünstigte zwei
Entwicklungen, die Somalia heute als globales Sicherheitsrisiko erscheinen
lassen: Piraterie und ein militanter, gewaltbereiter Islamismus.
## Das islamische Recht
Die somalischen Islamisten, die heute verteufelt werden, haben ihren
Ursprung in pragmatischen Überlegungen der Händlerschicht. Als Somalia sich
im Chaos einrichtete und die Warlords sich von einer gescheiterten
Friedenskonferenz zur nächsten hangelten, brauchte die Geschäftswelt
trotzdem Rechtssicherheit - und die lieferte mangels Staat das islamische
Recht. Ein Netzwerk islamischer Gerichte entstand und sagte im Namen des
Islam den Clanmilizen den Kampf an. Im Juni 2006 übernahm die "Union
Islamischer Gerichte" in Mogadischu die Macht. Erstmals seit vielen Jahren
kehrte in der Hauptstadt Frieden ein.
Das widersprach allen Friedensplänen, die auf Ausgleich unter Warlords
setzten, und die Welt war alarmiert, weil es Islamisten waren. Äthiopien,
Somalias alter Erzfeind, marschierte Ende 2006 in Mogadischu ein,
international bejubelt. Die Islamisten waren weg, der Frieden auch. Eine
Übergangsregierung wurde eingesetzt, im Lande selbst verachtet. Die
Äthiopier zogen 2008 wieder ab.
Der Krieg spitzte sich danach zu. Die Heißsporne unter den Islamisten
bildeten eigene Gruppen, führend darunter die Miliz al-Shabaab (Jugend).
Die bedächtigeren unter ihnen boten sich nach Äthiopiens Abzug als
Ordnungsmacht an. So kam es zu dem Kuriosum, dass der einstige Führer der
Union Islamischer Gerichte, Sheikh Sharif Ahmed, den Äthiopien im Dezember
2006 unter dem Beifall des Westens von der Macht vertrieben hatte, im
Januar 2009 auf einem afrikanischen Gipfel unter dem Beifall des Westens
erneut zu Somalias Präsident gekrönt wurde.
Sharif ist bis heute im Amt und bekämpft mittels einer afrikanischen
Eingreiftruppe die Shabaab. Die Welt erkennt seine Regierung an, aber sein
Herrschaftsgebiet ist kaum größer als der Vatikan, eine schmale Küstenfront
Mogadischus samt Hafen und Flughafen. Sein Regime gilt als extrem korrupt,
es veruntreut nach Angaben seiner eigenen Rechnungsprüfer fast die gesamte
Auslandshilfe. Die Shabaab kontrollieren halb Mogadischu und fast ganz
Somalia außerhalb von Puntland, Somaliland und einigen zentralsomalischen
Clangebieten.
## Die Pattsituation
Wenn etwas in dieser Pattsituation funktioniert, dann der Handel: Im Land
selbst wird ja nichts produziert, und es gibt keine anderen
Einkommensquellen. Den Rechnungsprüfern in Mogadischu zufolge exportiert
allein Kenia jährlich Qat im Wert von 250 Millionen Dollar nach Somalia; im
Gegenzug verkaufen südsomalische Hirten in Kenia ihr Vieh. Die Viehexporte
allein aus Südsomalia wurden 2010 auf 360 Millionen Dollar geschätzt. Dazu
kommen die Einnahmen Somalilands. Der Umsatz der Mobilfunkfirmen soll
allein in Südsomalia bei 540 Millionen Dollar im Jahr liegen. Die Regierung
in Mogadischu verzichtet darauf, dies regulär zu besteuern, mit Ausnahme
von hohen Hafengebühren.
Über den von Shabaab kontrollierten Hafen Kismayu läuft ein schwunghafter
Handel mit Holzkohle für die Golfstaaten; nach UN-Recherchen verdienen die
Shabaab daran jährlich 180 Millionen Dollar. Importiert werden Lebensmittel
für die internen Märkte. Der Viehexport läuft meist auf dem Landweg nach
Kenia beziehungsweise aus Somaliland nach Jemen und Saudi-Arabien. Dass die
Viehpreise dieses Jahr aufgrund von Dürre und nachfolgender schlechter
Tierqualität dramatisch gesunken sind, gilt als Hauptgrund für die aktuelle
Hungersnot, weil dadurch den Landbevölkerungen die Einnahmen wegbrechen.
Somalias Händler arbeiten meist pragmatisch mit allen Seiten. Dadurch haben
sie auch ein Interesse an einem effizienten Bankensektor und
funktionierenden Kommunikationsnetzwerken. Das zeugt von lebendigen
Selbstheilungskräften.
Außenstehende gehen meist davon aus, Somalia sei noch eine traditionelle
Clangesellschaft, in der die Macht bei den Ältesten liegt und die man nur
durch eine Entwicklungsdiktatur ruhig halten kann. Aus diesem Bild zog Siad
Barre seine Legitimität. Politische Macht ist dabei gleichbedeutend mit dem
Monopol über Außenbeziehungen und die damit einhergehenden Devisen und
Auslandsgelder. Doch hat sich dies seit dem Verschwinden des Staates
verschoben. Maßgeblich in Somalia heute ist die Kontrolle des Außenhandels,
unabhängig von der politischen Macht. Deswegen funktioniert die heutige
Regierung Sharifs nicht. Die Somalis brauchen den Wettstreit zwischen
mehreren politischen Machtzentren, damit nicht eines alles zermalmt.
Wer in Mogadischu den Flughafen beherrscht, kann zwar internationale Gäste
empfangen und sich als Staatsmann aufspielen. Aber wer die Häfen
Mogadischu, Kismayo, Bosasso und Berbera beherrscht, kontrolliert das Geld.
Wenn etwas seit Jahren Bestand in Somalia hat, dann dass diese vier Häfen
in verschiedenen Händen liegen: Berbera in der Republik Somaliland, Bosasso
im 1999 ebenfalls abgespaltenen Puntland, Kismayo in den Händen südlicher
Milizen - heute der Shabaab - und Mogadischu unter Kontrolle der
angeblichen Regierung.
Solange das so bleibt und die Akteure pragmatisch zusammenarbeiten, gibt es
Hoffnung. Doch wenn die Weltgemeinschaft die Teilsomalias in Gut und Böse
sortiert und in den Krieg gegeneinander hetzt, kann es keinen Ausweg geben.
3 Aug 2011
## AUTOREN
Dominic Johnson
Dominic Johnson
## TAGS
Somaliland
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