# taz.de -- Islamisten-Aussteiger in Somalia: College statt Kalaschnikow | |
> Ein Kämpfer, der ausstieg: Abdulkader war Mitglied der islamistischen | |
> al-Shabaab in Somalia. Doch dann wurde die Miliz immer brutaler. Jetzt | |
> studiert er. | |
Bild: Erst bekämpften sie ausländische Truppen, dann öffneten sie sich für … | |
MOGADISCHU taz | Abdulkader trägt eine Anzughose und ein weißes Hemd. In | |
der kriegszerstörten somalischen Hauptstadt Mogadischu ist das für junge | |
Leute seines Alters - Abdulkader ist 21 Jahre alt - keine alltägliche | |
Kleidung. Die meisten tragen abgerissene Jeans oder Militärhosen, die sie | |
irgendwo gebraucht bekommen haben. | |
Viele junge Somalier haben - passend zu der Hose in Tarnfarben - auch eine | |
Kalaschnikow und verdienen ihren Lebensunterhalt auf die ein oder andere | |
Art mit der Waffe. Nach [1][zwanzig Jahren Bürgerkrieg] haben sie kaum eine | |
andere Chance, an Geld zu kommen, als mit der Kalaschnikow. | |
Abdulkader also trägt ein weißes Hemd und hat keine Waffe dabei. "Ich mache | |
eine Ausbildung zum Buchhalter", sagt er. Das ist im somalischen Kontext | |
ohnehin ein seltener Berufswunsch. Weil Somalia seit zwanzig Jahren keine | |
funktionierende Regierung hat, gibt es kaum staatliche Bildungsangebote. | |
Abdulkader geht auf ein privates "College", an dem einige ältere Somalier | |
versuchen, ihr Wissen an die jungen Leute weiterzugeben. | |
Dass sich Abdulkader ausgerechnet für die Buchhaltung interessiert, ist | |
besonders erstaunlich, wenn man seine Vorgeschichte kennt: Abdulkader war | |
fünf Jahre lang Mitglied der islamistischen bewaffneten Gruppe al-Shabaab, | |
die seit Jahren gegen die schwache somalische Übergangsregierung kämpft. | |
Am vergangenen Samstag zog sich die radikale Miliz offenbar aus der | |
Hauptstadt zurück. Die Hintergründe und die Tragweite dieses Abzugs sind | |
weiterhin nicht ganz klar: Ist der Rückzug wirklich ein wichtiger | |
militärischer Etappensieg der Regierung, wie Präsident Sharif Sheikh Ahmed | |
triumphierend erklärte? Oder nur eine Falle der Islamisten? | |
## "Al-Shabaab" bedeutet "die Jugend" | |
Abdulkader hält den Rückzug für eine Falle. "Ich traue den Shabaab nicht", | |
sagt der angehende Buchhalter, der die Miliz von innen kennt. "Al-Shabaab" | |
bedeutet "die Jugend", und Abdulkader war tatsächlich erst 14 Jahre alt, | |
als er sich Ende 2003 einer Bewegung anschloss, die sich wenig später mit | |
den Shabaab verbündete: der sogenannten Union der Islamischen Gerichte | |
(ICU). | |
"Ich bin davon ausgegangen, dass die Islamisten mit der Anarchie in Somalia | |
Schluss machen und endlich wieder eine Art Justiz einführen würden", sagt | |
er. Ihm und den meisten Somaliern schien damals jedes Rechtssystem besser | |
als der Zustand der Gesetzlosigkeit, unter dem die Bevölkerung schon seit | |
vielen Jahren litt: Warlords erpressten an ungezählten Straßensperren | |
Steuern, ihre Milizionäre vergewaltigten hemmungslos und plünderten, was | |
ihnen gefiel. | |
In einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren galt, waren die | |
Zivilisten gegenüber den Bewaffneten immer die Schwächeren, die kein Recht | |
bekamen. Dass die Strafen der Islamisten manchmal drakonisch waren, dass es | |
in Mogadischu erste öffentliche Hinrichtungen gab - die meisten Somalier | |
nahmen das in Kauf oder begrüßten es als die in ihren Augen einzig wirksame | |
Maßnahme gegen den Terror der Warlords. | |
Trotz der zum Teil drakonischen Strafen umfasste die Union der Islamischen | |
Gerichte auch gemäßigte Kräfte. Der heutige somalische Präsident Sharif | |
Sheikh Ahmed, der mit dem Westen kooperiert und von den Radikalen bekämpft | |
wird, war führendes Mitglied der ICU. Deshalb stand er, Informationen aus | |
Sicherheitskreisen zufolge, seinerseits bereits im Fadenkreuz einer Drohne | |
der CIA. | |
## Vor dem Training gab's Gehirnwäsche | |
Kurz nachdem sich Abdulkader Ende 2003 der ICU angeschlossen hatte, wurde | |
in einem Trainingscamp im Süden Somalias die Miliz al-Shabaab gegründet. | |
Das Camp wurde nach Informationen westlicher Geheimdienste von Mukhtar Ali | |
Robow geleitet - dem derzeit eher gemäßigt auftretenden Shabaab-Kader, der | |
nun angesichts der Dürre als Erster Bereitschaft signalisiert hat, | |
ausländische Helfer ins Land zu lassen. | |
Die militärische Führung der Shabaab übernahm Aden Hashi Farah Ayro, der | |
laut mehreren Quellen 2000/2001 in einem afghanischen Terrorcamp geschult | |
worden war. Im Mai 2009 wurde er im Süden Somalias beim Angriff durch eine | |
US-Drohne gezielt getötet. | |
Von den Hintergründen der Shabaab wusste Abdulkader damals nichts. Er wurde | |
in Mogadischu "geschult", in einem der halb zerstörten Gebäude in der | |
Hauptstadt. Vor der militärischen Ausbildung wurden er und die anderen | |
"Rekruten" erst einmal einer Gehirnwäsche unterzogen. Werkzeug der | |
Indoktrinierung waren Audiokassetten, islamistische Radiosendungen, | |
Hasspredigten in den Moscheen - "sie wollten uns zu anderen Menschen | |
machen". | |
Abdulkader fiel durch seinen Eifer auf, stieg trotz seiner Jugend schnell | |
auf und wurde Kommandant einer kleinen Einheit. Den militärischen Teil | |
lernte er on the job: "Bei den Gefechten waren immer erfahrenere Kämpfer in | |
der Nähe, die mich korrigierten." | |
Mit der Zeit wurde die Shabaab-Miliz immer brutaler. Anlass dazu gab der | |
Einmarsch der äthiopischen Armee in Somalia im Dezember 2006. Die Äthiopier | |
hatten die Zustimmung der UNO und die Unterstützung der US-Regierung unter | |
dem damaligen Präsidenten George W. Bush. Innerhalb kurzer Zeit beendete | |
das äthiopische Militär die Herrschaft der Union der islamischen Gerichte | |
in Mogadischu. | |
Für die Shabaab hätte es keine bessere Rekrutierungskampagne geben können | |
als den Einmarsch der Äthiopier: Die beiden Nachbarländer Somalia und | |
Äthiopien sehen sich seit vielen Jahren als Erzfeinde. Die Shabaab, die nun | |
massiven Zulauf hatten, gingen in den Untergrund. Sie begannen mit | |
Selbstmordattentaten und selbst gebauten Bomben zu kämpfen. Schließlich | |
zogen die Äthiopier ab, an ihrer Stelle soll seitdem eine afrikanische | |
Eingreiftruppe, die Amisom, die schwache somalische Regierung unterstützen. | |
## Er dachte, sie bringen Gerechtigkeit | |
Die Amisom mit Soldaten aus Uganda und Burundi wird seitdem von der Shabaab | |
mit denselben Waffen bekämpft wie vorher die Äthiopier: durch militärische | |
Angriffe, aber auch durch Selbstmordattentate, mit selbst gebauten Bomben | |
und neuerdings auch durch Scharfschützen. Abdulkader stieg vor drei Jahren | |
aus. "Ich hatte gedacht, dass die Islamisten Gerechtigkeit bringen", sagt | |
er, "aber die Morde wurden immer willkürlicher." Er tauchte ab und floh in | |
Mogadischu in das Gebiet, das die Regierung kontrolliert. Seitdem ist er | |
auf der Flucht vor der Rache der Shabaab. | |
Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste trat die islamistische Miliz | |
Anfang 2010 al-Qaida bei. Wie stark sie derzeit ist, ist schwer | |
einzuschätzen. Ende vergangenen Jahres soll sie rund 9.000 Kämpfer gehabt | |
haben, davon etwa 450 Ausländer: Extremisten aus dem Westen, aber auch aus | |
der arabischen Welt: aus Afghanistan, Jemen, Saudi-Arabien und anderen | |
Staaten. Mehrere Quellen berichten, dass die Miliz massive finanzielle | |
Probleme habe. In den letzten Monaten habe sie außerdem viele Mitglieder | |
verloren. | |
Davon ist auch Iman Ahmed überzeugt. Er ist Berater des somalischen | |
Verteidigungsministeriums und versucht, militante junge Somalier wieder für | |
ein friedliches Leben zu gewinnen. "Vor allem viele Ausländer sind in den | |
letzten Wochen gegangen", sagt er. Das habe mit den Kämpfen im Jemen und in | |
Libyen zu tun. "Etliche ausländische Shabaab-Mitglieder kämpfen jetzt in | |
einem dieser beiden Länder." | |
Mehreren Berichten zufolge ist die Gruppe außerdem moralisch geschwächt, | |
seit Amisom-Soldaten am 8. Juni eher zufällig einen ihrer wichtigsten Kader | |
töteten: Fazul Abdullah Mohammed, der zugleich als Führer von al-Qaida in | |
Ostafrika galt. Verunsichert und demoralisiert hätten seitdem viele Kämpfer | |
Somalia verlassen. | |
Darunter seien nicht nur Terroristen aus arabischen Ländern, sondern auch | |
Rückkehrer aus dem Westen, vor allem aus den USA und Großbritannien, sagt | |
Iman Ahmed. Viele dieser jungen Somalier sind im Westen geboren und | |
aufgewachsen oder schon vor Jahren dorthin geflohen. Die islamischen | |
Prediger dort seien oft viel radikaler als die Imame in der Heimat, sagt | |
Iman Ahmed. "Nach Somalia kommen sie nur noch zum Sterben. Angeworben | |
wurden sie viel früher in Europa oder den USA." | |
Iman Ahmed schätzt, dass in den Reihen der Shabaab 200 Rückkehrer aus dem | |
Westen kämpfen. "Die sind es meist, die innerhalb der Miliz die | |
Verbindungen zu al-Qaida halten." Die Rückkehrer hätten überhaupt engere | |
Kontakte zum internationalen Terrorismus. "Manche kommen auch nur nach | |
Somalia, um hier für den bewaffneten Kampf geschult zu werden." | |
## Skepsis bleibt | |
Die gegenwärtige Schwäche der Shabaab könnte ein wichtiger Grund dafür | |
sein, dass sich die Miliz am Wochenende offenbar [2][aus Mogadischu | |
zurückzog]. Viele Beobachter bleiben jedoch skeptisch. Dazu gehört auch | |
einer, der noch deutlich mehr weiß als Iman Ahmed, aber aus | |
Sicherheitsgründen weder seinen Namen noch seine genaue Funktion genannt | |
wissen will. | |
In letzter Zeit seien einige Shabaab-Mitglieder in andere Länder geschickt | |
worden, um dort Anschläge zu verüben, sagt er. So wie den vom Juli 2010 in | |
Kampala, bei dem 76 Menschen starben. Uganda war Ziel des Attentats | |
geworden, weil das Land im Rahmen der Amisom in Somalia die meisten Truppen | |
stellt. | |
Derzeit stünden drei weitere Länder im Fokus der Shabaab: Burundi als das | |
zweite Land, das im Rahmen der Amisom Soldaten nach Somalia entsandte. | |
Kenia, das bereits zweimal Ziel von islamistischen Terroranschlägen wurde. | |
Und Südafrika, weil ein südafrikanisches privates Militärunternehmen in | |
Somalia operiere, Bancroft Global Development. Grund für die | |
Anschlagspläne, meint der Gesprächspartner: Die Rache für den Tod Fazuls | |
stehe noch aus. Die gegenwärtige Ruhe sei trügerisch. | |
Iman Ahmed hingegen ist nach dem Abzug vieler ausländischer Kämpfer aus | |
Somalia zuversichtlich. Die somalischen Kämpfer seien weniger gefährlich | |
als die internationalen, sagt er. Diese Meinung teilen die meisten | |
somalischen Helfer: "Mit den somalischen Shabaab-Mitgliedern kommen wir | |
schon irgendwie klar", sagen sie. Das könne ein Funke der Hoffnung sein für | |
die Menschen in den Hungergebieten unter islamistischer Kontrolle. | |
9 Aug 2011 | |
## LINKS | |
[1] /Hungersnot-in-Ostafrika/!75619/ | |
[2] /Regierungstruppen-uebernehmen-Kontrolle/!75816/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Rühl | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Somalia: Massaker an Friedenstruppe | |
Die islamistische Shabaab-Miliz will in Somalia bis zu 150 Soldaten der | |
AU-Friedenstruppe getötet haben. Die Afrikanische Union streitet dies ab - | |
Fotos zum Trotz. | |
Flüchtlinge aus Somalia: Der Neubeginn im Staub | |
450.000 Somalier leben in Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt. | |
Und täglich kommen 1.200 neue dazu. Sie bauen sich hier ein neues Leben | |
auf. | |
Erdogan in Somalia: Hohe Diplomatie in Zeiten des Hungers | |
Der türkische Premier Erdogan besucht Mogadischu als Zeichen islamischer | |
Solidarität. Auch die Präsidenten der wichtigsten Kriegsparteien, Uganda | |
und Eritrea, treffen sich. | |
Kommentar Hungersnot in Somalia: Somalia muss regierbar werden | |
Die politische Dimension der Hungersnot in Somalia wird oft ausgeblendet. | |
Somalia braucht staatliche Strukturen, aber nicht nach westlichem Modell. | |
Regierungstruppen übernehmen Kontrolle: Islamisten aus Mogadischu vertrieben | |
Die Shabaab-Milizen sind auf dem Rückzug aus der Hauptstadt. Mogadischu | |
wird von der Regierung kontrolliert. Aber nun plündern Armeeangehörige die | |
Bevölkerung aus. | |
Hungersnot in Somalia: Hilfsgüter trotz islamistischen Terrors | |
Das UN-Welternährungsprogramm ist in Somalia nicht sehr erfolgreich. Andere | |
Hilfsorganisationen erreichen auch Gebiete, die von islamistischen Milizen | |
kontrolliert werden. | |
Hungersnot in Somalia: Drei weitere Regionen betroffen | |
In drei weiteren Regionen in Somalia herrscht Hungersnot – so lautet die | |
Einschätzung der UNO. Sie rechnet mit einer weiteren Ausdehnung in den | |
kommenden sechs Wochen. | |
Hungersnot in Ostafrika: Paradoxon Somalia | |
Es gibt keine staatlichen Strukturen, in Somalia herrschen Krieg und | |
Zerfall. Und dennoch funktioniert einiges in dem ostafrikanischen Land. | |
Eine Länderkunde. | |
Kommentar Somalia: Unterirdische Berichterstattung | |
Im Falle Somalias verdrehen die Medien ziemlich vehement die Tatsachen, um | |
das jüngst ins Wanken geratene westliche Katastrophenbild Afrikas zu | |
retten. |