# taz.de -- Rebellion der Pharmaindustrie: Der Pillenknick | |
> Erstmals sinken die Preise für Medikamente. Der Absatz teurer Medizin | |
> wird für die Pharmaindustrie immer schwerer. Nun drohen die Konzerne mit | |
> einer neuen Standortpolitik. | |
Bild: Werden billiger: Medikamente. | |
BERLIN taz | Die Drohung war wohl kalkuliert von den beiden großen | |
Arzneimittelherstellern Boehringer Ingelheim und Lilly. Sie sollte, so | |
jedenfalls ließ sie sich interpretieren, den Krankenkassen zunächst einen | |
Proteststurm ihrer zuckerkranken Versicherten bescheren. Und anschließend | |
die Politik vor ihren eigenen Gesetzen in die Knie gehen lassen. Die | |
Drohung verbreitete Boehringer Ingelheim per Pressemitteilung am 2. | |
September: "Trajenta® steht Patienten in Deutschland vorerst nicht zur | |
Verfügung." | |
Trajenta®, ein neues orales Antidiabetikum mit dem Wirkstoff Linagliptin, | |
in jahrelanger Forschungsarbeit entwickelt von Boehringer Ingelheim und | |
Lilly. Erst wenige Tage zuvor hatten die Hersteller die Zulassung für den | |
europäischen Arzneimittelmarkt gefeiert - und nun wollten sie dieses | |
vermeintlich innovative, ja als geradezu unverzichtbar gepriesene | |
Medikament ausgerechnet und auf eigenen Wunsch den Patienten in | |
Deutschland, und zwar nur ihnen, verweigern? Es bleibe ihnen leider nichts | |
anderes übrig, behaupteten die Hersteller. | |
Geschehen war Folgendes: Die Pharmafirmen waren empört darüber, dass der | |
Preis, der ihnen für ihr neues Medikament vorschwebte, sich gegenüber den | |
gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland als nicht durchsetzbar | |
abzeichnete: "Die laufenden Gespräche mit den Kostenträgern deuten darauf | |
hin, dass zurzeit keinerlei Bereitschaft erkennbar ist, Preise für | |
medizinische Innovationen auch nur angemessen zu gestalten", teilten die | |
Firmen mit. | |
## Säbelrasseln in Richtung Öffentlichkeit | |
Nun ist die Nachricht, dass Diabetes-Patienten in Deutschland nicht auf | |
Trajenta® zurückgreifen können, für sich genommen nicht tragisch. Auf dem | |
Markt sind mehrere Mittel desselben Wirkstoffs verfügbar. Und die Frage, ob | |
Trajenta® tatsächlich einen patientenrelevanten Zusatznutzen böte gegenüber | |
der besten verfügbaren Standardtherapie - Insulin -, was wiederum einen | |
höheren Preis rechtfertigen würde, ist nach Angaben des prüfenden Instituts | |
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) noch | |
überhaupt nicht abschließend geklärt. "Hier formulieren Firmen eine sehr | |
weit reichende Vorabbefürchtung", sagt Deutschlands oberster | |
Arzneimittelprüfer, der IQWiG-Chef Jürgen Windeler. "Ich würde das als | |
Säbelrasseln in Richtung Öffentlichkeit und Politik bewerten." | |
Die Schrillheit in Ton und Auftreten, mit der Boehringer Ingelheim und | |
Lilly ihre Unternehmensinteressen dieser Tage öffentlich durchzusetzen | |
versuchen, ist kein Einzelfall. Seit zu Jahresanfang das neue | |
Arzneimittelgesetz (Amnog) in Kraft getreten ist, geht ein Beben durch die | |
Pharmabranche: Erstmals in der Geschichte wankt ihr Preismonopol. Denn die | |
forschenden Hersteller können die Preise für ihre patentgeschützten | |
Arzneimittel nicht mehr wie all die Jahrzehnte zuvor selbstherrlich | |
diktieren. Sondern sie müssen ihre innovativen Präparate bereits kurz nach | |
der Markteinführung einer "frühen Nutzenbewertung" durch das IQWiG | |
unterziehen. "Und nur das, was zusätzlich nutzt, darf auch zusätzlich | |
kosten", sagt Jürgen Windeler. | |
Was heißt das? Die Preise, die Hersteller und Krankenkassen auf Basis der | |
Nutzenbewertungsdossiers ab 2012 für ihre Blutverdünner, Schmerz- oder | |
Krebsmittel miteinander werden aushandeln müssen, müssen sich am | |
Zusatznutzen der neuen Präparate gegenüber etablierten Vergleichstherapien | |
orientieren. Kann dieser Zusatznutzen nicht nachgewiesen werden, dann | |
werden die Medikamente automatisch in sogenannte Festbetragsgruppen | |
eingeordnet - was für die Hersteller nach Expertenschätzungen | |
mittelfristige Umsatz- und Ertragseinbußen in zweistelliger Milliardenhöhe | |
bedeuten könnte. | |
Seither ist die Branche in heller Aufregung: Der Streit tobt nicht nur über | |
die Definitionshoheit, was überhaupt eine Vergleichstherapie sei. Es geht | |
vor allem um die Frage, wie viele Milliarden aus dem riesigen Gesamtetat | |
der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) den forschenden | |
Arzneimittelherstellern künftig noch sicher sind. Noch 2010 waren die | |
Arzneiausgaben der GKV für die rund 70 Millionen gesetzlich Versicherten in | |
Deutschland um 1,3 Prozent auf rund 32 Milliarden gestiegen. | |
## Höhere Rabatte | |
Damit müsse Schluss sein, befand 2010 der damalige | |
Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) angesichts eines damals | |
drohenden 11-Milliarden-Lochs in der GKV. Und führte neben den | |
verpflichtenden Preisverhandlungen zum 1. August 2010 auch noch | |
vorübergehend höhere Rabatte auf Arzneimittel ohne Festbetragsgruppe in | |
Höhe von 16 Prozent ein. Bislang hatten die Hersteller 6 Prozent Rabatt auf | |
diese Medikamente gewähren müssen. Die Hauptlast zur Kassenkonsolidierung | |
trugen - in Form von Beitragserhöhungen und Zusatzbeiträgen - die | |
Versicherten. "Von Insolvenzen der forschenden Arzneimittelhersteller hat | |
man indes nichts gehört", ätzt der pharmakritische Arzneimittelforscher | |
Gerd Glaeske aus Bremen. | |
Allerdings hat die Eingruppierung in Deutschland für die Hersteller | |
Auswirkungen weltweit: Etwa 80 Länder orientieren sich am deutschen | |
Preisniveau. Sinken die Preise hierzulande ein bisschen, dann sind die | |
Medikamente andernorts, beispielsweise in Osteuropa, ebenfalls ein | |
klitzekleines bisschen weniger wert. "Der Dominoeffekt ist unbestritten", | |
sagt Glaeske. "Und dann bringt der Hersteller das Medikament in Deutschland | |
eben lieber erst gar nicht auf den Markt." | |
## Der Testballon | |
Der Schweizer Pharmakonzern Novartis hat bereits einen entsprechenden | |
Testballon gestartet - und seine erst im April zugelassene | |
Blutdrucksenker-Kombination Rasilambo in Deutschland zum 1. September | |
wieder vom Markt genommen. Die offizielle Begründung: Der Gemeinsame | |
Bundesausschuss, also das oberste Organ der Selbstverwaltung im | |
Gesundheitswesen, habe für die Nutzenbewertung wissenschaftliche Daten zu | |
der Vergleichstherapie angefordert, die Novartis nicht vorlägen. Eine | |
frühzeitige Abstimmung mit dem GBA sei leider nicht möglich gewesen. | |
Der IQWiG-Chef Jürgen Windeler kontert: "Spannend zu sehen ist, dass der | |
Rückzug des Präparats vor der Nutzenbewertung erfolgt ist." Man müsse, so | |
Windeler, dieses Signal wohl als Einschätzung des Herstellers selbst | |
werten, dass sein Präparat den Test nicht bestehen würde. "Und wenn es noch | |
nicht reif ist, mag es aus Unternehmensperspektive ein kluger Schachzug | |
sein, sich dem Test nicht auszusetzen." Für Patienten, argumentieren | |
Verbraucherschützer, seien das gute Nachrichten, wenn neuerdings die | |
Pharmahersteller Scheininnovationen aus Angst vor späterer Entlarvung und | |
Blamage freiwillig erst gar nicht auf den Markt brächten. | |
## Drohung der Pharmaindustrie | |
Die Industrie freilich reagiert dünnhäutig: Schon gibt es Drohungen, | |
Deutschland künftig auch als Forschungsstandort für Arzneimittel | |
aufzugeben. Als dann auch noch zu Wochenanfang Röslers Amtsnachfolger | |
Daniel Bahr (FDP) ankündigte, dass Kassenärzte und Apotheker künftig auf | |
freiwilliger Basis und in Modellregionen zur Versorgung von Patienten mit | |
Mehrfacherkrankungen sogenannte Medikationslisten aufstellen dürften, in | |
denen sie festlegen, welche Wirkstoffe bevorzugt verordnet werden sollten, | |
war das Maß des Erträglichen für den Bundesverband der Pharmazeutischen | |
Industrie (BPI) und den Verband "Pro Generika" erreicht: Deutschland sei | |
"auf dem Weg zur standardisierten Kochbuchmedizin", zürnte der BPI, sollte | |
tatsächlich eine solche "Arzneimittel-Positivliste" eingeführt werden. | |
Von einer solchen - aus Verbrauchersicht begrüßenswerten - Liste, die unter | |
den rund 50.000 in Deutschland verfügbaren Medikamenten tatsächlich | |
unterscheiden würde zwischen nützlichen und verzichtbaren, ist die Politik | |
meilenweit entfernt - zwei entsprechende Versuche scheiterten in den 90er | |
Jahren am Widerstand und Lobbyismus der Pharmaindustrie. | |
Die Verunsicherung in der Branche ist dennoch so groß, weil ausgerechnet | |
eine FDP-CDU-Regierung ihr all diese sanften Neuerungen eingebrockt hat. | |
Die forschenden Arzneimittelhersteller verstehen seither die Welt nicht | |
mehr. In der Konsequenz schassten sie zunächst ihre langjährige | |
Verbandschefin Cornelia Yzer unter dem Vorwurf, ihre Interessen ungenügend | |
vertreten zu haben. | |
## Tabubruch der Arzneimittelhersteller | |
Und wagten, für viele bis dahin unvorstellbar, einen Tabubruch: Als | |
Nachfolgerin Yzers beim Verband der forschenden Arzneimittelhersteller | |
(vfa) wurde vor einem knappen halben Jahr Birgit Fischer eingekauft, die | |
ehemalige Chefin der mächtigen Krankenkasse Barmer GEK, eine Frau mit einst | |
großer Sympathie für Medikamenten-Rabatte, Generika oder auch Positivlisten | |
für Arzneimittel, und, aus Sicht der Pharmaindustrie schlimmer noch: als | |
ehemalige nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin dem linken Flügel | |
der SPD zuzuordnen. | |
Tatsächlich war die ungewöhnliche Personalentscheidung der späte Versuch | |
der Industrie, wieder anzudocken an einen politischen Dialog, dessen | |
kultureller Zugang ihr in den langen Jahren der Konfrontation | |
abhandengekommen war. Doch Fischer, die sich zu Beginn im neuen Amt | |
wahlweise als "Moderatorin" oder "Brückenbauerin" präsentierte, hat die | |
Hysterie unter den Verbandsmitgliedern bislang nicht zu entschärfen | |
vermocht. "Erste Erfahrungen forschender Pharma-Unternehmen mit der frühen | |
Nutzenbewertung", sagte sie neulich, "geben Anlass zur Sorge." Die frühe | |
Nutzenbewertung ist bislang für kein Medikament abgeschlossen. | |
15 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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