| # taz.de -- Streit um neues Arzneimittelgesetz: Lobbyistin mit Vergangenheit | |
| > Eine Frau, die alles mitnimmt: von der SPD-Ministerin zur | |
| > Pharmaindustrie. Doch Birgit Fischer glaubt noch immer an einen Konsens. | |
| > Aber am Donnerstag muss sie scheitern. | |
| Bild: Viel Wissen über Branche: Birgit Fischer war Gesundheitsministerin, arbe… | |
| Birgit Fischer hat ihm damals, im Frühjahr, einen Brief geschrieben. Er hat | |
| ihn nicht beantwortet, aber aufbewahrt, bis heute. Obwohl er ihre | |
| Rechtfertigungen nicht nachvollziehen konnte, die darin standen. Obwohl er | |
| sich vor den Kopf gestoßen fühlte. Wie so viele in seiner und ihrer Partei, | |
| der SPD. Dass sie einfach alles so mitnimmt. Dieses Insiderwissen über das | |
| deutsche Gesundheitssystem, über die Jahre mühsam wie einen Schatz | |
| zusammengetragen. Zuerst in der SPD, deren Landesgesundheitsministerin sie | |
| in Nordrhein-Westfalen bis 2005 war. Anschließend in der Barmer GEK, | |
| Deutschlands größter gesetzlicher Krankenkasse, deren Chefin sie bis Anfang | |
| 2011 war. | |
| Dass sie das alles mitnimmt, alles, worum er und viele andere gemeinsam mit | |
| ihr gerungen zu haben meinten, er im Bundestag, sie in der Gewerkschaft, im | |
| Ministerium, im Bundesrat und später dann eben als Kassenchefin: | |
| Positivliste für Arzneimittel, Kosten-Nutzen-Bewertungen von Medikamenten, | |
| Ende des Hersteller-Preismonopols. Große politische Vorhaben, unerreichbar | |
| freilich unter einem Kanzler, der Schröder hieß und die Pharmabosse zum | |
| Rotwein lud, bevor er die Gesetzentwürfe seiner Fachleute wieder | |
| einkassierte. Aber immerhin Vorhaben, die klar waren in ihrer Zielrichtung | |
| und ihrem Weltbild: geeignet, die Pharmaindustrie und ihre schamlose | |
| Preispolitik in die Knie zu zwingen, theoretisch zumindest. David gegen | |
| Goliath. Wir gut, ihr böse. | |
| Und jetzt? Hat sie die Seiten gewechselt. Hat das Solidarprinzip | |
| eingetauscht zugunsten der Gewinnmaximierung. Birgit Fischer, | |
| Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller | |
| (vfa). Oder, um einen Standesfunktionär zu zitieren: "Cheflobbyistin der | |
| unkeuschen Abzocker." Einen schlechteren Ruf in Deutschland hat nur die | |
| Tabakindustrie. Oder die Waffenlobby. Niemand hat sie für so kaltschnäuzig | |
| gehalten. | |
| Auch deswegen möchten der SPD-Mann und das Dutzend ehemaliger Weggefährten | |
| und aktueller Geschäfts- und Verhandlungspartner ihren eigenen Namen nicht | |
| in der Zeitung lesen. Die einen wollen nicht, dass sie erfährt, wie | |
| getroffen sie sind. Die anderen betrachten ihren Neuzugang immer noch mit | |
| skeptischer Vorsicht. Fünf Monate nach ihrem Wechsel zum vfa und am Tag | |
| ihrer ersten Bewährungsprobe als oberste Interessenvertreterin der | |
| pharmazeutischen Industrie, dazu später, bleibt die Personalie Birgit | |
| Fischer vielen: ein Rätsel. | |
| ## Liebe zum Detail | |
| Birgit Fischer, vor 58 Jahren geboren in Bochum, verheiratet, ein Sohn. | |
| Konziliant, freundlich, kooperativ, uneitel. So beschreiben sie alle, egal | |
| was sie sonst von ihr denken mögen. Eine Frau mit Liebe zum Detail und | |
| "einer Leidenschaft für Menschen", sagt einer, der sie schon seit Langem | |
| kennt. "Wenn es keine Kommunikation mehr gibt, das erträgt sie nicht." | |
| Diese Frau empfängt in einem schlichten Besprechungszimmer ihres Verbands | |
| mit Blick auf den edlen Hausvogteiplatz in Berlin-Mitte, sie sagt: "Ich | |
| empfinde es nicht als Bruch. Ich glaube, dass eine Seite allein nie die | |
| Veränderung bewirken kann. Sondern man muss aufeinander zugehen." Und | |
| diesen Willen zum "Neuanfang", zur "Kooperation statt Konfrontation", zur | |
| "Veränderung", den habe sie gespürt seitens der Industrie, ebenso | |
| "Kreativität" und "Bewegung", und wäre da nicht der klitzekleine | |
| Ruhrgebietsakzent, den sie sich erhalten hat und der ihren Sätzen einen | |
| Hauch von Selbstironie verleiht, sie klänge bald so anstrengend wie | |
| Mediatoren im Psychologieseminar. | |
| Die Rolle an der Spitze der Barmer GEK, Deutschlands größter Krankenkasse, | |
| so streuen ihre düpierten Kollegen aus der gesetzlichen Versicherung jetzt, | |
| der zunehmende Druck angesichts drohender Kassenfusionen und -pleiten, das | |
| alles habe sie wohl überfordert. Birgit Fischer lächelt. Wer sie kenne, dem | |
| erschließe sich ihre Motivation: "Mir ist es immer darum gegangen, auch in | |
| der Politik, unterschiedliche Interessen zusammenzuführen, Visionen zu | |
| haben, Ziele zu entwickeln, immer mit dem Versuch, die Akteure | |
| mitzunehmen." | |
| Unterschiedliche Interessen zusammenführen, die Akteure mitnehmen. So sehr, | |
| dass sie es als Landesgesundheitsministerin lieber erduldete, "BiFi" | |
| genannt zu werden und den eigenen Etat ein ums andere Jahr von der | |
| nordrhein-westfälischen SPD-Machoregierungsclique zusammengestaucht zu | |
| kriegen, als den Clements und Steinbrücks mit deren Waffen zu begegnen und | |
| den Dialog abzubrechen. So sehr, dass sie 2005 beinahe ihr Direktmandat | |
| verloren hätte: Im Streit über die Reform des Maßregelvollzugs in | |
| Nordrhein-Westfalen hatte Fischer nach Abwägung aller widerstreitenden | |
| Interessen ausgerechnet entschieden, dass auch ihr Wahlkreis als Standort | |
| für eine Klinik für psychisch kranke Straftäter geeignet sei. | |
| ## Bruch mit der Tradition | |
| Und jetzt also Pharmaverbandschefin. Mehr als 30 Milliarden Euro gaben die | |
| gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr allein für Arzneimittel aus, | |
| das ist mehr als die Honorare für sämtliche niedergelassenen Ärzte in | |
| Deutschland. Im Arzneimittelbereich entscheidet sich die Finanzierbarkeit | |
| des Systems. Nur: Wer einmal so viel hatte, der verzichtet nicht | |
| freiwillig. Neuanfang? Kooperation statt Konfrontation? Na ja. Es bleibt | |
| der Industrie kaum anderes übrig nach dem Schlag, den ihr die FDP in | |
| Gestalt ihres Bundesgesundheitsministers zu Jahresanfang versetzt hat. | |
| Ausgerechnet die FDP, die natürliche Verbündete der Pharmahersteller. | |
| Dachten diese jedenfalls. Und verkannten in ihrem Rausch zunächst, dass die | |
| Liberalen mit einem sperrigen Wortungetüm namens | |
| Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, kurz Amnog, ein Instrument geschaffen | |
| hatten, das die Hersteller bis dahin bestenfalls Leuten wie Birgit Fischer | |
| zugetraut hätten. Die nämlich kritisierte noch bis vor wenigen Monaten in | |
| Interviews: "Wirtschaftlichkeitsreserven im medizinischen System" seien | |
| deswegen nicht "zu heben", weil "gut organisierte Lobbygruppen wie die | |
| Pharmaindustrie wieder an Einfluss" gewönnen. Nichts da. | |
| Mit dem Amnog bricht Deutschland mit der Tradition, dass die | |
| pharmazeutischen Hersteller die Preise für ihre neu auf den Markt | |
| gebrachten, patentgeschützten Medikamente allein und nach Gutdünken | |
| festsetzen dürfen. Erstmals müssen die Hersteller nachweisen, dass ihre | |
| neuen Medikamente nicht bloß Scheininnovationen sind, sondern für die | |
| Patienten tatsächlich einen Zusatznutzen haben gegenüber herkömmlichen | |
| Therapien. Und nur dann dürfen sie auch noch zusätzlich kosten - wie viel | |
| zusätzlich, das wiederum ist, auch das ein Novum, anschließend auszuhandeln | |
| zwischen dem vfa als Interessenvertretung der Industrie sowie dem | |
| Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen. | |
| ## Ein Coup für die Pharmaindustrie | |
| Als sie des Ausmaßes ihrer Entthronung gewahr wurden, schassten die | |
| Hersteller Anfang 2011 ihre langjährige Cheflobbyistin Cornelia Yzer (CDU). | |
| Nicht noch einmal wollten sie so kalt erwischt werden. Der Einkauf von | |
| Birgit Fischer als Nachfolgerin Yzers war aus Sicht der Industrie ein Coup. | |
| "Nicht die stärksten überleben Veränderungsprozesse", sagt der | |
| Geschäftsführer eines großen Pharmaunternehmens, "sondern diejenigen, die | |
| sich am schnellsten auf das neue System einstellen." | |
| Birgit Fischer schien hierfür die perfekte Frau, eine, die glaubhaft | |
| vorzutragen vermochte, es habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass es | |
| besser sei, sich auf das System einzulassen, als neben dem System zu | |
| bestehen. Berührungsängste seitens der Industrie? Ach was. Was interessiert | |
| es börsennotierte amerikanische Pharmamutterkonzerne, aus welcher | |
| politischen Ecke die deutsche Verbandsvertreterin kommt. Wenn es richtig | |
| brenzlig wird, dann repräsentieren sich die Firmen sowieso selbst, dann | |
| mobilisieren Weltkonzerne wie Pfizer auch schon mal den US-Botschafter ins | |
| Kanzleramt. "Von Fischer wird erwartet", sagt ein Kenner der Szene, "dass | |
| sie eine Position vorbereitet, in Zukunft früher eingebunden zu sein in | |
| politische Diskussionen oder Diskussionen selbst anzustoßen." | |
| ## Glaube an Veränderung | |
| Natürlich will sie selbst mehr. Eine, der Personenkult zuwider ist, eine, | |
| die Politik stets als das Verstehen von Strukturen betrachtet hat, plappert | |
| nicht einfach vor sich hin, wenn sie Sätze sagt wie: "Ich glaube, dass die | |
| Zeit vorbei ist, wo man über Gesetze, Richtlinien und Geld Politik machen | |
| kann. Ich halte es für vollständig abwegig, dass eine Industrie, die | |
| maßgeblich am medizinischen Fortschritt beteiligt ist, quasi neben dem | |
| Gesundheitswesen steht und nicht Teil des Gesundheitswesens ist." Sie | |
| glaubt wirklich an Veränderung. | |
| Wie allein sie mit dieser Erwartung steht, wird beispielhaft der Donnerstag | |
| zeigen. Noch einmal werden sich Birgit Fischer und ein weiterer | |
| vfa-Vertreter da mit den beiden Chefunterhändlern des | |
| Krankenkassen-Spitzenverbands treffen. Seit Monaten stocken die | |
| Verhandlungen, dabei geht es nur um einen winzigen, ersten Teil bei der | |
| Umsetzung des neuen Arzneimittelgesetzes: die Spielregeln, nach denen die | |
| Preisverhandlungen künftig ablaufen sollen. Zu klären ist etwa, was eine | |
| "zweckmäßige Vergleichstherapie" ist, welche europäischen Länder bei der | |
| Ermittlung sogenannter Referenzpreise einbezogen werden sollen und ob | |
| Forschungskosten und Mengenentwicklungen bei der Preisbildung zu | |
| berücksichtigen sind. | |
| Tief sitzt das Misstrauen auf beiden Seiten, dass es hier um nichts anderes | |
| gehe, als übers Ohr gehauen zu werden. Auch deshalb gehen die Beteiligten | |
| davon aus, dass die Verhandlungen selbstverständlich scheitern werden. | |
| Wichtig, heißt es, sei jetzt nur noch, in den anschließenden | |
| Pressemitteilungen zu betonen, dass beide Seiten gemeinsam und aufs gleiche | |
| Maß das ergebnislose Ende der Verhandlungen bedauerten und von | |
| wechselseitiger Schuldzuweisung absehen möchten. Nun müsse leider eine | |
| Schiedsstelle entscheiden. | |
| Scheitern im Konsens. Was für ein Erfolg für Birgit Fischer. | |
| 13 Oct 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| Heike Haarhoff | |
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| Pharmaindustrie | |
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