| # taz.de -- Vom Markt genommene Medikamente: Gesetz mit Nebenwirkungen | |
| > Nur ein Präparat hilft einem Patienten noch – doch plötzlich ist es nicht | |
| > mehr erhältlich. Was steckt denn dahinter? | |
| Bild: Was, wenn ein Medikament zurückgezogen wird – und es das einzige war, … | |
| Stellen Sie sich vor, ein Autohändler bietet Ihnen einen brandneuen Wagen | |
| an. Er soll mehr als das Doppelte Ihres bisherigen Autos kosten. Aber | |
| dafür, verspricht der Händler, fährt er auch dreimal so schnell, und vor | |
| allem bringt er Ihnen ein Vielfaches an Komfort und Sicherheit. Kaufen Sie? | |
| Sofort, blind und ungeprüft? Absurde Frage, natürlich tun Sie das nicht. | |
| Der Mediziner Stefan Lange aus Köln sagt allerdings: Nach diesem Prinzip | |
| wurden lange Zeit Medikamente verkauft. Die Pharmahersteller haben ihre | |
| Preise selbst festgesetzt – und die Krankenkassen mussten sie bezahlen, | |
| wenn ein Arzt sie verschrieb. | |
| Lange ist stellvertretender Leiter des Instituts für Qualität und | |
| Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Er prüft dort, vereinfacht gesagt, | |
| ob neue Medikamente zur Behandlung einer bestimmten Krankheit wirklich | |
| besser für die Patienten sind als die Mittel, die sie bisher bekamen. Seine | |
| Aufträge bekommt er von der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. | |
| Die Geschichte vom Auto, die er erzählt, veranschaulicht einen | |
| grundsätzlichen und höchst komplexen Konflikt aus der Gesundheitspolitik, | |
| der vorübergehend gesetzlich gelöst schien, aber nun, im Spätherbst 2016, | |
| erneut aufflammt. | |
| ## Ist der Nutzen eines neuen Medikaments höher? | |
| Es ist der Streit um den tatsächlichen Nutzen neuer Medikamente – und die | |
| damit verbundene Frage nach einem angemessenen Arzneimittelpreis: | |
| moralisch, ökonomisch und politisch angemessen. Lange kritisiert: „Was wir, | |
| wenn es um Konsumgüter geht, niemals akzeptieren würden, nämlich Geld | |
| auszugeben, ohne zu wissen, was wir tatsächlich dafür kriegen, haben wir | |
| bei Arzneimitteln über sehr, sehr viele Jahre praktiziert.“ | |
| Es stimmt tatsächlich: Jahrzehntelang durften Pharmahersteller in | |
| Deutschland für Präparate, die sie neu auf den Markt brachten, ihre Preise | |
| ganz allein festlegen. Sie mussten nicht einmal die Studien offenlegen, die | |
| ihre Medikamente durchlaufen hatten, bevor sie zugelassen wurden. Niemand | |
| konnte also verlässlich feststellen, ob sie tatsächlich mehr nutzten als | |
| bereits existierende Mittel; niemand konnte seriös prüfen, ob ihr Preis – | |
| gemessen an ihrem Nutzen im Vergleich zu anderen Medikamenten – | |
| gerechtfertigt war. | |
| Dann aber kam 2011 ein neues Gesetz, ein Spargesetz zu Lasten der | |
| Industrie; der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, ein | |
| FDP-Mann, ausgerechnet, führte es ein. Es trägt den sperrigen Namen | |
| Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz und sieht vor, dass neue Medikamente nur | |
| dann mehr kosten dürfen als ältere, wenn sie den Patienten – nachweislich �… | |
| einen höheren Nutzen bringen. Ein Paradigmenwechsel. | |
| ## Das neue Gesetz hat Nebenwirkungen | |
| Genau dafür hatte sich Stefan Lange zuvor über viele Jahre eingesetzt – | |
| zusammen mit anderen Wissenschaftlern, Ärzten und auch | |
| Krankenversicherungen. Sie wollten, dass sich an dem Preisdiktat, mit dem | |
| die Pharmaindustrie ihre Medikamente in Deutschland vermarkten durfte, | |
| etwas änderte. Es war ein zermürbender Kampf, stets schien die Industrie am | |
| längeren Hebel zu sitzen, aber am Ende haben Lange und seine Mitstreiter | |
| gewonnen. Dachten sie. | |
| Doch nun, im Spätherbst 2016, zeigt sich, dass das im Grundsatz vernünftige | |
| Gesetz in der praktischen Anwendung Probleme verursacht. | |
| Um diese Probleme geht es in der [1][taz.am wochenende vom 26./27. | |
| November] – auch aus Sicht von Patienten, die ertragen müssen, dass | |
| Medikamente, die ihnen halfen, plötzlich vom Markt verschwinden. | |
| Der Streit dreht sich, vereinfacht gesagt, um die Frage, wann ein | |
| Medikament tatsächlich einen höheren Nutzen hat, und wie man ihn ermittelt. | |
| Uneinigkeit herrscht zudem darüber, ob die Kriterien und die | |
| Studienanforderungen, die der jeweiligen Nutzenbewertung zugrunde liegen, | |
| medizinisch angemessen, ethisch vertretbar, untereinander fair gewichtet | |
| und zum Zeitpunkt der Bewertung erfüllbar sind für den Hersteller. Die | |
| Hersteller müssen Nachweise liefern, die mitunter nicht einfach zu | |
| erbringen sind. Ein Medikament, das durchfällt, ist nicht zwangsläufig | |
| unnütz. Sein Preis wird aber niedriger. | |
| ## 27 Medikamente sind so vom Markt verschwunden | |
| Es geht also darum, um noch einmal das Bild aus der Welt der Autos zu | |
| bemühen, ob der TÜV funktioniert. | |
| Mehr als 20 Pharmafirmen haben in den vergangenen fünf Jahren ihre neuen | |
| Medikamente wieder vom deutschen Markt genommen – aus Protest gegen einen | |
| aus ihrer Sicht unwirtschaftlichen Preis. Mindestens 27 Arzneimittel sind | |
| nach Recherchen der taz seit 2011 auf diese Weise aus Deutschland | |
| verschwunden. | |
| Für schwer kranke Menschen kann es lebensbedrohlich sein, wenn sie ihr | |
| Medikament nicht mehr bekommen können. Doch ihre Perspektive kommt bislang | |
| in der Debatte kaum vor. | |
| Es geht in diesem Konflikt um große Fragen: um Leben und Tod, um brutale | |
| Entscheidungen, Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenzugang. Sie gehören | |
| zum klassischen Aufgabenrepertoire von Regierung und Parlament. Doch die | |
| politisch Verantwortlichen ducken sich weg. Sie wälzen die Debatte ab auf | |
| Prüfer, Ärzte, Versicherungen. Den Wissenschaftler Stefan Lange etwa, den | |
| Berliner Arzt Wolf-Dieter Ludwig oder die Sprecherin des Spitzenverbands | |
| der Krankenkassen, Ann Marini. Sie alle sind Experten bei der Frage nach | |
| Nutzen, Kosten und Preisen von Arzneimitteln. Doch sie haben weder das | |
| politische Mandat, hierüber zu entscheiden, noch – diesen Eindruck kann man | |
| zumindest gewinnen – die gebotene Distanz. | |
| ## Die Fronten sind verhärtet | |
| Die über Jahrzehnte verhärteten Fronten nämlich vermochte auch das neue | |
| Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz nicht aufzuweichen. Und vielleicht auch | |
| deswegen fallen die Reaktionen bis heute harsch und unversöhnlich aus, wenn | |
| man gesetzliche Widersprüche oder etwaige Lösungsansätze anspricht. | |
| Unerwünschte Begleitfolgen des derzeitigen Systems, etwa die | |
| Marktrücknahmen zu Lasten einzelner Patienten, werden von den Kritikern | |
| bevorzugt allein der Arzneimittelindustrie vorgeworfen. | |
| Stefan Lange etwa vertritt die Ansicht: „Bei den meisten Herstellern stehen | |
| nicht die Patienten, sondern die Kapitalinteressen an erster Stelle.“ | |
| Andernfalls, glaubt er, wäre es für die Industrie „ein Leichtes“, die | |
| Mittel auf dem Markt zu lassen und zu akzeptieren, „dass der Preis immer | |
| den Daten angepasst wird, die sie uns liefert“. | |
| Die Sprecherin des Spitzenverbands der Krankenkassen, Ann Marini, urteilt: | |
| „Einige Hersteller wählen bei der Zulassung einen Sonderweg für einen | |
| schnellen Markteintritt – wissend, dass damit aussagekräftige | |
| Studienergebnisse für eine Bewertung des Zusatznutzens gar nicht vorliegen | |
| können. Für neue Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen gibt es klare | |
| Vorgaben, was den Erstattungsbetrag angeht. All dies ist den Herstellern | |
| gut bekannt, und dennoch spielen sie mit der Hoffnung der Patienten, statt | |
| auf valide Daten zu setzen. Das ist fahrlässig.“ | |
| Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission | |
| der deutschen Ärzteschaft, räumt ein: „Man kann kritisieren, dass bei der | |
| Zulassung der Medikamente und später bei ihrer frühen Nutzenbewertung zwei | |
| unterschiedliche Messlatten angelegt werden.“ Medikamente werden auf | |
| europäischer Ebene zugelassen, der Nutzen wird mit anderen Methoden | |
| ermittelt. „Die Frage ist aber: Wen muss man deswegen kritisieren?“ | |
| ## Warum tut die Politik nichts? | |
| Für Lange, Marini und Ludwig steht fest, dass die derzeit in Deutschland | |
| gültigen Standards der Nutzenbewertung nicht abgeschwächt werden dürfen. | |
| Und man kann ihre Argumente auch nachvollziehen. Nicht nur wegen der | |
| Preisentwicklung und deren finanziellen Auswüchsen – 2015 zahlten die | |
| Kassen den Rekordwert von 35 Milliarden Euro allein für Arzneimittel, die | |
| von niedergelassenen Ärzten verordnet wurden. | |
| Es geht auch um die Sicherheit und den Schutz der Patienten. Deren Recht | |
| auf seriöse medizinische Beratung vor einer Therapieentscheidung erfordere | |
| mehr und aussagekräftigeres Wissen über die neuen Medikamente, sagt | |
| Wolf-Dieter Ludwig: „Wir brauchen bessere Studien bereits zum Zeitpunkt der | |
| Zulassung, wir brauchen Kosten-Nutzen-Bewertungen, die über die jetzige | |
| frühe Nutzenbewertung weit hinausgehen, wir brauchen mehr öffentlich | |
| geförderte Forschung und Studien, und wir brauchen Transparenz über die | |
| tatsächlichen Kosten für Forschung und Entwicklung von Medikamenten der | |
| Industrie.“ | |
| Auch Unternehmen tragen eine moralische Verantwortung, sicher. Medikamente | |
| sind, unbestritten, nicht irgendeine Ware. | |
| Was aber, wenn die Industrie künftig trotzdem noch mehr Medikamente vom | |
| deutschen Markt nimmt – darunter auch solche, für die es keine | |
| therapeutische Alternative gibt? Sind stures Durchhalten und unnachgiebiges | |
| Kräftemessen dann immer noch probate Mittel? | |
| Wäre es nicht Aufgabe der Politik, zu vermitteln und nach Lösungen zu | |
| suchen? | |
| Im Kampf gegen die weltweit wachsenden Resistenzen gegen Antibiotika bereut | |
| die Bundesregierung inzwischen die Jahre, in denen sie selbst weder | |
| ausreichend in die öffentliche Forschung investierte noch der Industrie | |
| ernstzunehmende Anreize setzte, neue Antibiotika zu erforschen. Dieses | |
| Nicht-Handeln hat die globale Bedrohung durch Infektionskrankheiten | |
| mitverstärkt. Inzwischen ändert die Regierung deswegen Gesetze und setzt | |
| das Problem sogar prominent auf die Tagesordnung internationaler | |
| Wirtschaftsgipfel. Denn sie hat erkannt: Gesundheit ist die zentrale | |
| Voraussetzung für Ausbildung, Arbeitsfähigkeit – und damit den ökonomischen | |
| Wohlstand von Gesellschaften schlechthin. | |
| In Paris versammelten sich Ende Oktober mehr als 3.500 Delegierte aus über | |
| 110 Ländern zu einem Weltkongress gegen den Krebs. Frankreichs Präsident | |
| François Hollande mahnte, der Zugang zu den neuesten Medikamenten sei „eine | |
| globale Frage, eine Frage der Gerechtigkeit, aber auch ein Rechtsanspruch“. | |
| Das Thema Arzneikosten, forderte er, müsse beim nächsten | |
| Gesundheitsministertreffen der Organisation für wirtschaftliche | |
| Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) thematisiert werden. | |
| Was es für Patienten heißt, wenn das einzige Medikament, das ihnen hilft, | |
| vom Markt genommen wird, lesen Sie in der [2][taz.am wochenende vom 26./27. | |
| November]. | |
| 25 Nov 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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