# taz.de -- Papst in Deutschland: Wenn das Fieber steigt | |
> Der Papst geht auf Tournee durch die Republik. Was löst das aus? | |
> Abneigung. Zuneigung. Eine Expedition in die Seelenwelt von Anbetern und | |
> Hassern. | |
Bild: Einstimmen auf den Papst in Freiburg. | |
BERLIN taz | Papstfieber. „38 Grad“ bei Nathalie Mutter – Ministrantin ist | |
sie. Noch höher ist es bei Schwester Hanna-Lucia. Sie zog wallfahrend durch | |
Südbaden, um Benedikt XVI. den Weg zu bereiten. | |
Auch in der katholischen Schule in Erfurt ist die Temperatur erhöht. Aber | |
auf eine werktätige Weise. Und in Berlin erst. Da wird das Fieber als | |
Reinigung verstanden. Wer es durchsteht, steht hinterher mit besserer | |
Abwehrkraft da. Wo stehen? Was abwehren? | |
Berlin, Erfurt, Freiburg sind die drei Städte, die der Papst auf seiner | |
Deutschlandreise besucht. Empfangen wird er wie eine Königin in langen | |
Kleidern, roten Schuhen. Manche hoffen, dass er etwas sagt, was als | |
Botschaft direkt von Gott kommt. | |
Andere hoffen, dass ihm etwas einfällt zu den Skandalen und Versäumnissen | |
der Kirche. Zu Missbrauch, zu Gleichberechtigung, zu Bigotterie. Zur | |
Ökumene auch. Und wieder andere hoffen, dass er den Mund hält. Der Papst | |
ist Projektionsfläche für vieles. Für viele. | |
## Erfurt. Ein Bischof mit dem erdverbundenen Gang | |
Zum Beispiel in Erfurt. Im Osten. In Thüringen. Die Annäherung an die Stadt | |
ist sperrig. Dabei ist sie schön. „Aber wer kennt schon Erfurt?“, fragt der | |
Erfurter Bischof Joachim Wanke auf der Pressekonferenz. Bekannt sei die | |
Stadt nur durch den Amoklauf vor bald zehn Jahren. Wanke ist ein ruhiger, | |
weißhaariger Mann. Sein Gang erdverbunden, aber auf weiche Art, als | |
streichle er den Boden mit jedem Schritt. Er sieht den Papst als | |
Repräsentanten des christlichen Glaubens. Glaube und Kirche verkörpern | |
Freiheit für ihn. | |
Für diese Freiheit sei ihm kein Aufwand zu schade. Elf Millionen kostet das | |
Spektakel sein Bistum. Nicht mitgerechnet die Kosten für Sicherheit, die | |
das Land Thüringen trägt. Einwände wischt der Bischof mit Hauptsätzen | |
beiseite: „Ein wichtiger Gast ehrt auch die Gastgeber.“ – „Viele Mensch… | |
können den Papst sehen.“ – „Das ist mir die Sache wert.“ | |
Andere in Erfurt hoffen ebenso, dass der Papst die Stadt bekannt macht. | |
Weimar kennen alle. Erfurt, nur 25 Kilometer von Weimar entfernt, kenne | |
keiner. „Gut, Paganini war einmal hier“, sagt eine Frau, die eilig den | |
Domplatz überquert. Auch der Chauffeur der Hochzeitskarosse, schwarze Hose, | |
weißes Hemd, grauer Pferdeschwanz, der vor dem Dom mit den hochgereckten | |
Türmen wartet, bis die Trauung in der Kirche vorbei ist, glaubt, dass | |
Erfurt bedeutender wird durch den Papst. | |
Er findet die ganze Aufregung um Kosten und Absperrungen verlogen. „Die | |
Hoteliers am Domplatz, die sollen ihre Goschen halten“, es hört sich wie | |
„Guschen“ an, wenn er es sagt, „weil sie zwei Tage zumachen müssen. Das | |
holen sie wieder rein.“ Der Chauffeur des blumengeschmückten Autos glaubt, | |
dass Hunderttausende nun da hinpilgern werden, wo der Papst den Fuß gesetzt | |
hat. Magie der Fußstapfen – ob Ratzinger das Format hat? „Auf jeden Fall.�… | |
Mit seiner Verteidigung irritiert der Chauffeur ein paar Leute, die auf | |
einer Bank vor dem Dom sitzen, und auf den Pomp, der wegen des Papstes | |
betrieben wird, schimpfen. „Den Mülleimer darf man nicht rausstellen“, sagt | |
der Dicke in der Mitte. Und nur Papstbier ausschenken. „Papstbier!“ Er | |
schüttelt sich, seine ganze Körperfülle, die wegzufließen droht, zittert. | |
Da fährt der Hochzeitskarossenfahrer dazwischen: „Die Erfurter sollen sich | |
nicht so aufregen. Potemkinsche Dörfer, das sind sie doch von früher | |
gewohnt.“ | |
Früher. Früher ist wichtig. Früher ist DDR. Damals bot die Kirche Halt in | |
der Verneinung. Wer mit Papstfans in Erfurt spricht, stößt ständig auf | |
diese Erinnerung: „Kirche war Freiheit“, sagt der Leiter des | |
Koordinierungsbüros für den Papstbesuch. Er steht in der Aula der | |
katholischen Schule. Über hundert Freiwillige sind gekommen, um | |
hunderttausend Briefe mit Eintrittskarten und Prospekten zu packen. | |
Er zeigt auf die Leute – Männer, Frauen, Junge, Alte – die, jeder für ein… | |
Handgriff eingeteilt, zusammen zu einer Humanmaschine werden. „Hier sind | |
Menschen, die zu DDR-Zeiten auf der Straße, in der Schule, auf der Arbeit | |
gegängelt und überwacht wurden“, sagt der Leiter. „Und dann sind sie in d… | |
Kirche, und da war Freiheit.“ Für diese Freiheit stehe der Papst. An die | |
Person sei das nicht gebunden. Wojtyla. Ratzinger. Egal. Dass der Papst | |
auch als Politiker auftritt – im Bundestag – und als Demagoge? „Ich seh d… | |
nicht“, sagt er. | |
Weil Christen in der DDR staatliche Repression erlebten, egal welcher | |
Konfession, hat sich die Trennung zwischen Protestanten und Katholiken in | |
der DDR verwischt. Das lassen sich der katholische Pfarrer Wigbert Scholle | |
und die protestantische Laienpriesterin Annemarie Keller auch heute nicht | |
nehmen. Keller und Scholle vertreten zwei Pfarrgemeinden in der Erfurter | |
Innenstadt. Sie arbeiten zusammen, tauschen mitunter ihre Kirchen und auch | |
schon mal die Seelsorger. Das Papstfest mit Fernsehübertragung wird in der | |
evangelischen Kirche gefeiert. Es gilt: praktische Umsetzung der Ökumene | |
bis in die Sprache hinein. „Kirche ist eine Erzählgemeinschaft. Wir | |
erzählen vom gleichen Gott.“ Nur ein Drittel der Thüringer will die | |
Erzählung allerdings hören. | |
An der Ökumene kommt der Papst in Erfurt nicht vorbei. Zumal vom | |
christlichen Bevölkerungsdrittel drei Viertel evangelisch sind. Deshalb | |
wohl hält Benedikt XVI. einen Gottesdienst in der Kirche des | |
Augustinerklosters, in dem Martin Luther von 1505 bis 1511 lebte. „Das muss | |
man sich vorstellen: Rechts und links des Grabsteines, auf dem Luther seine | |
Gelübde ablegte, werden sich der Papst und die protestantischen | |
Würdenträger und -trägerinnen gegenübersitzen“, sagt der Kurator des | |
Klosters, das heute eine Begegnungsstätte ist. | |
Ein ökumenisches Daseinswunder sei das, meint er. Zumal da noch Ratzingers | |
Wort, dass die evangelische Kirche gar keine Kirche sei, sondern nur eine | |
religiöse Gemeinschaft, wie eine Eiterbeule im Hintergrund schwärt. | |
Eigentlich wirkt der groß gewachsene Kurator, der bald in Rente geht, | |
ruhig. Aber das lasse ihn doch fiebern. Er hofft neben dem Daseinswunder | |
sogar auf ein Wortwunder. Welches? „Wenn Benedikt XVI. den päpstlichen | |
Bann, der bis heute auf Luther liegt, zurücknehmen würde. Hoffen darf man | |
ja.“ | |
Abends unweit des Domplatzes in der „Frommen Helene“ – einer verstaubten | |
Wohnzimmerkneipe, in dem nostalgische Wilhelm-Busch-Fans und melancholische | |
Biertrinker verkehren, bricht sich der Stammtischglaube Bahn. Der ist | |
antikirchlich. Dicht gedrängt im kleinen Innenhof hocken die Gäste. | |
Papstfieber? Kaum. Einer sagt etwas: „Bringt nur Stress.“ Die anderen | |
improvisieren darauf, als säßen sie mit Luftgitarre auf einer Bühne: | |
„Siebzig Kilometer Autobahn gesperrt. Und beleuchtet. Mehr Tamtam, als wenn | |
Obama käme.“ | |
Der Nächste: „Der Papst verbietet Kondome, und in Afrika sterben die Leut.“ | |
Ein anderer: „Die Zeugen Jehovas sind schlimmer.“ Der Erste wieder: „Mir | |
machen die Jugendlichen Angst. Wenn die so auf den Papst abfahren, fahren | |
sie auch auf was anderes ab. Ich seh schon Chancen für nen neuen Hitler.“ | |
## | |
Anders als Erfurt sollte Freiburg ein Heimspiel sein für den Papst. In der | |
südbadischen Diözese sind 42 Prozent der Menschen katholisch. Aber so | |
einfach ist es nicht. Denn die Leute durchschauen, dass das Heimspiel ein | |
Schauspiel ist. | |
Wie die rotblonde Frau, die in der Vorhalle des Freiburger Münsters sitzt. | |
Sie sagt, ihr Papstfieber sei ein innerliches Vibrieren. Wie fühlt sich das | |
an? Wie Schmetterlinge? Wie Verliebtsein? „Ja auch, nein, ganz anders.“ Wie | |
denn? „Ich lächle innerlich. Alles in mir lächelt. Magen, Nieren, Leber, | |
Lungen, das Herz lächeln.“ Die junge Frau stutzt. „Irgendwie ist es | |
komisch, wenn ich beim Aufzählen was vergesse. Die Milz zum Beispiel. Wer | |
denkt schon an die Milz.“ | |
Warum ist es komisch? „Ich komme mir dann amputiert vor.“ In der Vorhalle | |
ist es unruhig, immer neue Touristengruppen kommen, lassen sich die | |
eingravierten Brotmaße auf dem Sandsteinsockel des Münsters erklären: dass | |
1320 ein gutes Erntejahr war und 1317 ein schlechtes. „Ich habe es gern, | |
wenn was ans Herz geht“, sagt die junge Frau noch. Eigentlich will sie | |
Schauspielerin werden. Gerade allerdings verdingt sie sich als | |
Fremdenführerin. „Ich habe mich reingesteigert für Sie.“ | |
Die alte Frau, die sich auf einer Bank mitten im Markttreiben rund um das | |
Münster ausruht, einem Markt, der überquillt von Früchten, Blumen, Wurst, | |
Speck, Gemüse und Brot, lavaroten Tomaten, Trauben, süß wie Sirup, die | |
fiebert auch nicht. „Ich bin nicht katholisch.“ Aber auf den Flugplatz, wo | |
der Papst seine Abschlussmesse halten wird, da will sie hin. „Ich find das | |
gut.“ Warum? „Wir haben alle nur einen Herrgott.“ Um mit dem zu sprechen, | |
brauchen Sie den Papst? „Nein. Aber ich bin ja bald neunzig und mir | |
gefällt's, wo viele Menschen sind.“ | |
Immerhin Schwester Hanna-Lucia lässt sich auf spirituelle Weise von | |
Benedikt XVI. anstecken. Sie gehört zu den Schönstatter Marienschwestern. | |
„Wenn ich den Papst liebe, liebe ich durch ihn Gott“, sagt die 34-jährige | |
Erzieherin, die gerne lacht und für alle betet. Sie hat für den Papst eine | |
Wallfahrt organisiert von Oberkirch bei Offenburg, wo sie lebt, nach | |
Freiburg. Am Ende waren es 53 Leute, die mit Pilgerstab, Fahne und | |
Madonnenbild durch die Ortschaften zogen. | |
„Alle Anstrengungen, der Schweiß, der Durst, die schmerzenden Füße, das | |
gebe ich dafür, dass die Reise des Papstes fruchtbar wird“, sagt sie. | |
Singend sind die Pilger und Pilgerinnen im Freiburger Münster eingezogen. | |
Manche hätten geweint. „Für mich persönlich ist der Papst keine politische | |
Person. Er ist ein Vater.“ Sie brennt für ihn. Wie es sich anfühlt? „Wie | |
eine Sehnsucht.“ | |
In den siebziger Jahren war „Jesus Christ Superstar“. Heute ist es der | |
Papst. Vom Original zur Kopie. Egal. Das gilt auch für junge Leute, | |
wenngleich sie distanzierter an die Sache rangehen. Nathalie Mutter, eine | |
achtzehnjährige Gymnasiastin, die bei der Abschlussmesse des Papstes auf | |
dem Freiburger Flughafen ministrieren wird, und der 22-jährige | |
Jazztrompeter, der das Papstlied komponierte. Sie machen mit, obwohl sie | |
Kritik an der Kirche haben. Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche, | |
„das wäre nur gerecht“, sagt die Ministrantin. Und das Zölibat, findet si… | |
solle abgeschafft werden. Trotzdem engagiert sich die blonde junge Frau | |
gern. | |
Die Kirche böte einen Rahmen, in dem man aufgefangen werde. Das Religiöse | |
sei mittlerweile geschickt verpackt. „Nicht mehr altmodisch.“ Und der | |
Jazztrompeter, der auf dem Freiburger Bahnhof schnell zu sprechen ist, | |
bezeichnet sich als Christ, „aber ich nehme die Bibel nicht wörtlich“. Mit | |
Missionierung, Alleinvertretungsanspruch, Kondomverbot ist er nicht | |
einverstanden. Das untergrabe die Autorität. „Aber wir jungen Leute leben | |
in einer Zeit, in der so vieles beliebig wird.“ Die Kirche mit ihren klaren | |
Vorgaben sei da ein Gegenmodell. „Da weiß ich, woran ich bin. Das ist nicht | |
irgendwie.“ | |
## Eine Begegnung, die den Text sprengt | |
Beim letzten Versuch, Antworten aufs Papstfieber in Freiburg zu finden, | |
geschieht etwas, das diesen Text sprengt. Peng. Wäre das hier Theater, | |
fiele der Vorhang mitten im Stück. Hebt er sich wieder, sitzt die Autorin | |
mit auf der Bühne. Denn als ich Thomas Dietrich sehe, Leiter des | |
Sozialpastoral im Erzbischöflichen Seelsorgeamt in Freiburg, der seit | |
Monaten mit Papsttexten bestückte Gottesdiensthilfen entwickelt, damit die | |
Landpfarrer ihre Gemeinden auf den Papst vorbereiten können, wird klar: Wir | |
sitzen uns als Wissende gegenüber. Maskierung zwecklos. Er weiß: Ich bin | |
aus der Kirche ausgetreten. Und ich weiß, dass er, will er glaubwürdig | |
sein, den Papst kritisch sehen muss. | |
Dietrich zog in den neunziger Jahren ins Pfarrhaus in dem Dorf, in dem ich | |
aufgewachsen bin, als der alte Pfarrer, der dort ab den fünfziger Jahren | |
für vier Jahrzehnte seine Verderbtheitsbotschaften und Höllenszenarien in | |
die Köpfe der Gemeinde hämmerte und Generationen von Kindern, vor allem | |
Mädchen, im Beichtstuhl in seine sexuellen Fantasien verwickelte, endlich | |
tot war. Das sechste Gebot war der Eingang in seine Unterwelt. Unkeuschheit | |
das Unwort. | |
Acht-, neun-, zehnjährige Kinder fragte der Pfarrer ab. Auch mich: „Hast du | |
mit deinen Brüdern zusammen gebadet? Habt ihr die Unterhosen angehabt?“ (In | |
den sechziger Jahren saßen wir nicht nackt in der Wanne. Nicht im Dorf.) | |
„Was hast du gesehen, als ihr die Unterhosen ausgezogen habt? Hast du | |
absichtlich hingeschaut? Habt ihr euch angefasst? Habt ihr euch zwischen | |
den Beinen angefasst? Hast du dich allein angefasst? Wo? Wie? Wann?“ | |
Das Unkeusche war das Unbekannte – und trotzdem Sünde. Versuchten Kinder, | |
es ihren Eltern zu erzählen, stießen sie auf Abwehr. In den katholischen | |
Dörfern verkörperte ein Pfarrer Autorität. Mitunter die einzige. Gingen die | |
Kinder nicht beichten, mahnte es der Pfarrer an. Kontrolle, Gängelung, | |
Machtmissbrauch – alles da. Wer konnte, ging. Ich. In den Achtzigern wandte | |
sich jemand, der blieb, an die Bild-Zeitung und machte die Übergriffe | |
öffentlich. Zu früh – ein Gesellschaftsthema war Missbrauch in der Kirche | |
damals nicht. Im Dorf aber waren viele sauer auf die, die es gewagt hatten, | |
den Pfarrer so zu brüskieren. | |
Und dann kam dieser Dietrich, klein, wohlgenährt, modern und dem Leben | |
zugewandt, in den neunziger Jahren ins Dorf. Auf Familienfesten lernte ich | |
ihn kennen. Ein Pfarrer, für den die veraltete Sexualmoral, die | |
Geschlechterdefinition, die starren Familienbilder „der Kaugummi an der | |
Schuhsohle der Kirche sind“. So sagt er es in dem kleinen schmucklosen | |
Besprechungszimmer des Freiburger Seelsorgeamtes. „Euer Dorf“, sagt | |
Dietrich, „hat einem die Luft abgestellt.“ Wusste die Kirchenleitung, was | |
sich der alte Pfarrer erlaubte? „Ja“, antwortet er. | |
Obwohl sich Dietrich seit Monaten durch Ratzinger-Texte arbeitet und Zitate | |
herauspickt, um den Gläubigen die Größe des Papstes nahe zu bringen, komme | |
bei ihm keine Euphorie auf. Der Papst stehe fassungslos vor der modernen | |
Gesellschaft mit ihrem Weltanschauungspluralismus, sagt er. „Eigentlich | |
wäre er eine der wenigen globalen Größen, der die Dinge sagen könnte, die | |
die westliche Welt gesagt bekommen muss, obwohl sie sie nicht gerne hört.“ | |
Nur sei er im Grunde politisch desinteressiert. „Wer politisch | |
desinteressiert ist, fördert die beharrenden Kräfte.“ Vor der Rede | |
Benedikts XVI. im Bundestag zittere er. Und beim Abschied auf dem Flur: | |
„Wenn er zu Missbrauch nichts sagt …“ Er beendet den Satz nicht. | |
## | |
In Berlin ist Missbrauch in der katholischen Kirche ein Thema. Und | |
Ratzingers Homophobie. Auch die Diskriminierung der Frau, die sich die | |
Kirche erlaubt. Die Demokratiefeindlichkeit des katholischen Monarchen | |
dazu. Denn nicht nur die Papstfans sind im Fieber. Auch seine GegnerInnen. | |
Tische und Stühle sind zur Seite geräumt im Salon des Verbandes der Lesben | |
und Schwulen, damit ein Dutzend Frauen und ein Mann üben können. Singend | |
und tanzend wollen sie ihren Protest unter die Leute bringen. Aus „Ein | |
Jäger aus Kurpfalz“ wird: „Der Papst kommt nach Berlin. Dort spricht er vor | |
dem Bundestag, ne Messe gibts danach, da protestieren wir.“ Dreistimmig | |
wird das Lied einstudiert. A cappella gesungen. Es klingt gut. | |
Nebeneinander stehen die Aktivistinnen. Eine hat ihre Hand lässig auf dem | |
Tresen einer kleinen Bar in der Ecke gestützt. Die daneben steht klassisch | |
auf Standbein und Spielbein. Neben ihr sitzt eine auf dem Barhocker, die | |
Beine gekreuzt, dann eine im Rock auf dem Stuhl, eine weitere mit rot | |
lackierten Nägeln im Sessel. Der einzige Mann im Raum stellt den Papst dar. | |
Der soll sich ekeln, wenn er die zweite Strophe hört: „Für Benedikt ne | |
Qual: schwul oder lesbisch, ganz egal, transgender lieber nicht, so | |
Benedikt es spricht.“ In der dritten wird angeprangert, dass der Papst mit | |
dem Kondomverbot den Tod von Leuten, die an Aids sterben, in Kauf nimmt. In | |
der vierten, dass die katholische Kirche frauenfeindlich ist. | |
Professionell geht das zu. Nur Trischa D. hält sich zwischendurch das | |
Notenblatt vors Gesicht. Es kostet sie Überwindung, sich singend zu zeigen. | |
Trischa D. ist eine intersexuelle Frau und hat ihr Geschlecht angleichen | |
lassen müssen, um mit sich im Einklang zu sein. Blond, groß, weich, | |
bedächtig, umsichtig, perfekt geschminkt, perfekt manikürt, schön ist sie. | |
Dass sie sich beim Protest gegen den Papstbesuch engagiert, überrascht sie | |
selbst. „Es ist wie eine Emanzipation“, sagt sie. „Homophob denkende Leute | |
können sich auf den Papst beziehen.“ Deshalb sei sie aus der Anonymität | |
rausgegangen, um einem von Benedikts Ausgrenzungsgedanken betroffenen | |
Menschen ein Gesicht zu geben. | |
Im Januar hat der Lesben- und Schwulenverband ein Plenum zum Papstbesuch | |
einberufen. „Der Papst wurde vom Bundespräsidenten als Staatsgast | |
eingeladen und darf im Bundestag sprechen, das hat unseren Widerspruch | |
herausgefordert“, sagt Jörg Steinert, der Geschäftsführer. Womit er nicht | |
rechnete: dass mittlerweile mehr als sechzig Organisationen zur | |
Demonstration gegen die menschenfeindliche Geschlechter- und Sexualpolitik | |
des Papstes aufrufen. Darunter sind Frauen- und | |
Menschenrechtsorganisationen, kritische Christen, suspendierte Geistliche, | |
Exmuslime und Humanisten, Gewerkschaften und Parteien. Zum ersten Mal seit | |
langem gibt es in der Frauen-, Homosexuellen-, Gender- und Queerszene ein | |
breites Bündnis über all die Grenzen hinweg, die die Gruppen in den letzten | |
Jahren atomisierten. So gesehen stiftet der Papst Frieden – zumindest unter | |
seinen Gegnern. | |
Weil viele gar nicht wissen, welche undemokratische, | |
menschenrechtsverletzende Politik der Papst als Oberhaupt des Vatikans und | |
der katholischen Kirche zu verantworten hat, haben die Gegner zuallererst | |
Aufklärungsveranstaltungen organisiert, etwa zur katholischen Kirche und | |
zum Arbeitsrecht. Die Kirche unterläuft das Diskriminierungsverbot bei | |
ihren Angestellten – in Deutschland immerhin 1,3 Millionen Leute. Der Staat | |
billigt der Kirche gesetzlich zu, dass sie sich nicht an das | |
Gleichstellungsgesetz halten muss. | |
Bei einer anderen Veranstaltung wurde der Vatikan als Staatsgebilde | |
erklärt. Die Staatsgründung, die den Papst zu einem Staatschef macht, geht | |
auf ein Abkommen mit dem Faschisten Mussolini von 1929 zurück. Ein Abkommen | |
mit den Nationalsozialisten von 1933 wiederum ist die Grundlage dafür, dass | |
es in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche nicht gibt und der | |
Staat bis heute die Kirchensteuer eintreibt. In einem Vortrag wurde von | |
„der Rattenlinie“ berichtet, dem Fluchtweg von Nazi-Kriegsverbrechern nach | |
Südamerika mit Hilfe des Vatikans. In einem anderen ging es um den Vatikan | |
als Unternehmen und seine Verquickung mit mafiosen Strukturen. | |
## Trennung von Kirche und Staat gibt es nicht | |
Menschenrechte standen ebenfalls auf der Agenda. So hat der Vatikan etwa | |
die Menschenrechtscharta der UNO nicht unterschrieben und eine 2008 von der | |
EU eingebrachte UN-Resolution zur Entkriminalisierung Homosexueller | |
zusammen mit den Ländern, in denen Homosexualität unter Todesstrafe steht, | |
abgelehnt. Auch das vormoderne Frauenbild der katholischen Kirche ist | |
Thema. Niemand soll sagen können, die Gegner seien nur Geiferer, die gegen | |
die Eiferer protestieren. | |
In der Katholischen Akademie in Berlin wird der Besuch ebenfalls zum Anlass | |
genommen, um auf hohem Niveau und nicht nur mit Devotionalien und Gebeten | |
auf den Papst vorzubereiten. Die kulturkritischen Motive Benedikts XVI. | |
sollten vorgestellt werden. Kultur habe einen Bezug zum Göttlichen, zur | |
Gemeinschaft und zur Geschichte. Man könne die Welt nicht verstehen, ohne | |
sich auf Göttliches zu beziehen, stellt der Referent die Ideen des Papstes | |
vor. Die, die nicht konform gehen mit dieser Sicht, mahnt Benedikt XVI. mit | |
dem Satz: „Humanismus ohne Gott ist inhuman.“ Es gelang nicht, das Publikum | |
zu überzeugen, denn deutlich wird: Der Kulturbegriff des Papstes wird nur | |
im Singular gedacht. Und zwar als Leitkultur. Das war vielen Zuhörern und | |
Zuhörerinnen zu eng. | |
Vor der Hedwigs-Kathedrale, der Bischofskirche in Berlin, stehen zwei | |
grauhaarige Frauen. Dass der Papst kommt, das wissen sie. Vom Papstfieber | |
wissen sie nichts. Besser sei es, den Messdiener zu fragen, raten sie. | |
„Aber sagen Sie, ist er denn ernsthaft krank?“ | |
## sonntaz-Reporterin, hat nach dieser Recherche beschlossen, dass sie auf | |
die Gegendemonstration in Berlin geht | |
21 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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Bundespräsident | |
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