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# taz.de -- Ermittlungen gegen Neonazis: Der unerkannte Terror
> Eine Nazigruppe konnte 13 Jahre lang Migranten ermorden, Banken
> überfallen, Anschläge verüben. Die Sicherheitsbehörden haben geschlampt.
Bild: Alles im Blick, aber nichts gesehen?
Die Hälfte des Wohnhauses in der Frühlingsstraße 26 fehlt. Sie wurde
weggesprengt durch eine Brandbombe. Hier im Zwickauer Stadtteil Weißenborn,
zwischen angekokelten Pistolen und Revolvern, haben die Ermittler einen
grausamen Fund gemacht.
Es sind DVDs mit einem Bekennervideo der mutmaßlichen rechtsextremen
Terrorzelle um die vor zehn Tagen tot aufgefundenen Uwe Mundlos und Uwe
Böhnhardt sowie die in U-Haft sitzende - und schweigende - Beate Z.
Sie konnten offenbar 13 Jahre lang unerkannt in ganz Deutschland Migranten
ermorden, einen Anschlag auf Polizisten verüben und ein gutes Dutzend
Banken überfallen. "Nationalsozialistischer Untergrund", kurz NSU, nennt
sich die rechtsmilitante Gruppe in ihrem Video.
Es zeigt eine ganz neue Qualität des braunen Terrors, die noch vor wenigen
Tagen undenkbar schien. Deutschland steht vor einem der größten Skandale
seiner Geschichte. Es geht um kaltblütige Killer, rechtsextreme Netzwerke
und ein offenkundiges Versagen des Staats.
## Tschechischen Pistole Marke Ceska
In dem Propagandafilm, der der taz in Auszügen vorliegt, rühmt sich der
"Nationalsozialistische Untergrund" für neun Morde an türkisch- und
griechischstämmigen Ladenbesitzern, die zwischen September 2000 und April
2006 in verschiedenen deutschen Städten erschossen wurden - mit einer
tschechischen Pistole Marke Ceska, Kaliber 7,65 mm, auch sie fand sich in
den Trümmern des Wohnhauses in Zwickau-Weißenborn.
In dem Bekennervideo der NSU werden Fotos der ermordeten Migranten gezeigt,
die von den Rechtsterroristen offenbar selbst aufgenommen wurden.
"Original" steht auf einem der Bilder einer zerfetzten, in ihrem Blut
liegenden Leiche.
Durch den Clip führt auf zynischste Art die Comicfigur Paulchen Panther,
die an einer Stelle einem Polizisten eine Pistole an den Kopf hält und
abdrückt. Es ist nicht der einzige Hinweis darauf, dass die braune
Terrorgruppe auch hinter dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in
Heilbronn im April 2007 steckt. An einer Stelle in dem
Selbstbezichtungsvideo wird ein Foto von ihrer Trauerfeier gezeigt. Und
auch im Fall dieses Mordes fanden die Ermittler die mutmaßliche Tatwaffe im
Schutt des Zwickauer Wohnhauses.
Am Sonntag hat die Polizei nun in der Nähe von Hannover eine weitere Person
festgenommen, Holger G.: Er soll das vierte Mitglied der Terrorgruppe sein
und den drei anderen seinen Pass und seinen Führerschein gegeben haben.
Außerdem soll er das Wohnmobil angemietet haben, das für den Anschlag auf
die Polizistin Kiesewetter in Heilbronn benutzt wurde.
So grausam die Taten sind, so unfassbar der Fall ist, so viele Fragen
bleiben offen. Wie konnte das Nazitrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate
Z. Ende der 90er-Jahre untertauchen? Wie im Untergrund unerkannt agieren?
Wie über 13 Jahre hinweg offenbar morden und rauben?
## Anfänge in den 90ern
Es ist offenkundig, dass die Sicherheitsbehörden geschlampt haben,
vielleicht sogar mehr als das. In Thüringen soll nun eine unabhängige
Kommission das mögliche Versagen von Polizei und Verfassungsschutz
aufarbeiten - oder gar eine Verstrickung des Nachrichtendienstes des
Landes, den nicht nur Linke sondern selbst Politiker der Union nicht mehr
ausschließen wollen.
Der Anfang der jetzt erst entdeckten "Braunen Armee Fraktion" reicht zurück
bis in die 90er Jahre. Uwe Mundlos und Beate Z. wachsen im Jena der
Nachwendezeit in einem Plattenbauviertel auf. Mundlos, ein Professorensohn,
und Z. werden ein Paar, später stößt der Bauhilfsarbeiter Böhnhardt dazu.
Gemeinsam schließen die drei sich Mitte der 90er-Jahre dem "Thüringer
Heimatschutz" an, einer militanten Neonazi-Kameradschaft.
Der taz liegen Fotos vor, die Mundlos und Böhnhardt 1996 bei einem
Gerichtsprozess gegen einen Holocaustleugner zeigen, der einen Farbanschlag
auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt verübt hatte. Beide tragen sie
kurzgeschorene Haare, Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln und
Bomberjacke - der typische Look in der Neonaziszene der 90er. Mundlos gilt
von den beiden Männer als der Denker, Böhnhardt als der Macher, der Mann
der Tat.
Den Schritt in die Militanz scheinen sie spätestens am 16. August 1996
gegangen zu sein. Das ist der Tag, an dem Beate Z. für das Trio die Garage
Nr. 5 "An der Kläranlage" in Jena anmietet. Hier werden die drei später
eine Bombenbauwerkstatt einrichten. Kurz darauf steht vor dem
Ernst-Abbe-Stadion in der thüringischen Universitätsstadt eine Holzkiste
mit einem Hakenkreuz. "Bombe" steht darauf. Doch noch ist die Kiste leer.
Am 2. September 1997 steht dann ein roter Koffer mit schwarzen Hakenkreuzen
auf beiden Seiten vor dem Theater in Jena. Darin: zehn Gramm TNT. Ein
Zünder fehlte allerdings. Zufall? Absicht?
## Spurlos verschwunden?
Was nun folgt, ist jedenfalls schier unglaublich. Obwohl die
Sicherheitsbehörden das Trio und ihre Nazi-Kameradschaft "Thüringer
Heimatschutz" beobachten, dauert es bis zum 26. Januar 1998, bis sie deren
Wohnungen durchsuchen. Böhnhardt sei der Beschluss in die Hand gedrückt
worden, heißt es in Sicherheitskreisen, er habe aber unbehelligt in sein
Auto steigen und davonfahren können.
Wenige Stunden später wird die Garage An der Kläranlage durchsucht. Die
Ermittler entdecken das Sprengstofflabor mit mehreren Rohrbomben und
insgesamt 1,4 Kilogramm TNT. Als zwei Tage später der Haftbefehl vorliegt,
ist das Nazitrio längst untergetaucht und bleibt 13 Jahre lang spurlos
verschwunden.
Wirklich spurlos verschwunden? Daran gibt es mehr und mehr Zweifel.
Zumindest erzählen jetzt viele, dass in den Jahren immer wieder geraunt
worden sei, dass das Trio in Sachsen lebe. Das sei ein offenes Geheimnis
gewesen, sagt einer, der sie von früher kannte.
Es sind nicht die einzigen Merkwürdigkeiten in dem Fall. Der Verdacht, der
im Raum steht: Der Thüringer Verfassungsschutz habe etwas mit dem
Untertauchen des Trios zu tun, die militanten Nazis möglicherweise sogar
als V-Leute geführt oder sie sogar mit neuen Identitäten versehen.
Normalerweise würde man so etwas ins Reich der Verschwörungstheorien
verschieben. Doch in diesem Fall ist überhaupt nichts normal. Der damalige
Verfassungsschutzpräsident Helmut Roewer jedenfalls gilt als "ganz dunkler
Fleck in der Geschichte Thüringens", wie es in Sicherheitskreisen heißt.
Der heutige Chef des Nachrichtendienst des Landes will jedenfalls nicht
mehr ausschließen, dass sein Amtsvorgänger Quellen auf eigene Rechnung
geführt hat. Roewer selbst will heute nicht mehr über das Nazitrio reden,
der damalige Thüringische Innenminister und sein Staatssekretär wollen sich
angeblich nicht mal mehr an Böhnhardt, Mundlos und Z. erinnern.
## Was trieb der Verfassungsschutz?
Selbst Law-und-Order-Politiker wie Hans-Peter Uhl von der CSU reden
inzwischen von einer möglichen Verfassungsschutzaffäre. Denn fest steht
schon lange: Der Kopf des "Thüringer Heimatschutzes" Tino Brandt stand
jahrelang unter dem Decknamen "Otto" auf der Gehaltsliste des Thüringer
Nachrichtendienstes.
Und Stunde um Stunde kommen neue, irritierende Meldungen dazu. Nach bisher
unbestätigten Medienberichten sollen in dem abgebrannten Haus in Zwickau
"legale illegale Papiere" gefunden worden sein. Solche Papiere erhielten im
Regelfall nur Personen, die verdeckt für einen Geheimdienst spitzelten,
hieß es.
In Thüringen soll nun eine unabhängige Kommission die vielen Fragen um das
Untertauchen der Nazis in den 90ern untersuchen. Das
Geheimdienstkontrollgremium des Bundestags will nächste Woche eine
Sondersitzung abhalten.
Man will es sich gar nicht ausmalen: Sollten tatsächlich staatliche Stellen
ermöglicht haben, dass sich sechs Jahrzehnte nach Ende der NS-Diktatur
Neonazis in den Untergrund absetzen und zu mordenden Terroristen wurden,
dann stürzt die deutsche Demokratie in eine ihrer tiefsten Krisen der
Nachkriegszeit.
13 Nov 2011
## AUTOREN
S. Erb
W. Schmidt
A. Speit
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
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