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# taz.de -- Schrumpfende Städte in Ostdeutschland: "Wir sind nutzlos, überfl�…
> Soziologen untersuchten drei Jahre lang die schrumpfende Stadt
> Wittenberge in Brandenburg. Ein Gespräch mit Andreas Willisch über den
> Glauben an die Arbeit.
Bild: Leere Mitte: Wohnungsleerstand im Zentrum von Wittenberge.
taz: Herr Willisch, welchen ersten Eindruck macht Wittenberge auf einen
Fremden?
Andreas Willisch: Wenn man vom Bahnhof aus die Stadt betritt, ist der
Eindruck: Leere. Es gibt leer stehende Gebäude der Bahn, Brachen. Die Stadt
hat ja ein Drittel weniger Einwohner als 1990. Dass es eine bessere
Vergangenheit gab, ist auch in den Gesprächen zu spüren. Ich habe viele
Leute getroffen, die von dem Tag erzählt haben, an dem sie entlassen
wurden. In Wittenberge gab es die modernste Nähmaschinenfabrik Europas, die
wurde geschlossen. Viele schildern den Tag ihrer Entlassung ganz
detailliert, so als wäre es gerade erst passiert, obwohl es 20 Jahre her
ist.
Weil es ein sozialer Absturz war, der bis heute nachwirkt.
Nicht nur. Für viele war es ja auch eine Erleichterung, diese teils sehr
schwere Arbeit los zu sein. Viele haben sich ein Vorruhestandsleben
aufgebaut, sich in Vereinen organisiert, die Kleingärten sind ein wichtiger
Ort der Stadt. Die Rentner sind ja Profiteure der Einheit. Es geht vielen
materiell nicht schlecht.
Warum dann diese eingravierte Erinnerung an die Entlassung?
Sie sind innerlich verletzt.
Weil sie nicht gebraucht werden?
Ja, und weil sie 1990 als extremen Temperatursturz erlebt haben. Erst die
Erfahrung der Revolution, das war ein Gefühl von Freiheit, ein Hochgefühl,
dass es in Demokratien nur sehr selten gibt. Und genau in diesem Moment
folgt die Erfahrung: Wir sind nutzlos, überflüssig. Dieser Schock hat sich
in vielen Städten Ostdeutschlands festgefressen.
In Wittenberge bekommt jeder sechste Hartz IV. Es gibt aber keine Anzeichen
von Rebellion. Kaum vorstellbar, dass hier Riots ausbrechen wie in England
oder der Pariser Vorstadt. Warum nicht?
Weil der Abstieg abgefedert wurde und nicht so stark mit sozialem Elend
verknüpft ist wie in England. Es gibt Armut in Wittenberge, aber die ist
nicht dominant. Es gibt auch keine erhöhte Kriminalität. Ein Polizist hat
mir gesagt: Das Einzige, was in Wittenberge viel geklaut wird, sind
Fahrräder. Fahrräder sind das Fortbewegungsmittel des unteren Drittels der
Stadt.
Ist der deutsche Sozialstaat also der Puffer, der Revolten verhindert?
In Frankreich gibt es auch einen ausgebauten Sozialstaat. Ein Unterschied
ist, dass in Ostdeutschland keine ethnischen Ghettos existieren, es gibt
keine Banlieue. Und es gibt ja auch ein Drittel der Stadt, das 1990 nicht
als Schock erlebt hat. Das betrifft etwa die Verwaltung. Die ist heute
wichtiger als je zuvor. Sie ist der größte Arbeitgeber und muss um die
Fördermittel dealen. Der Niedergang der Industrie 1990 war unkontrolliert,
doch seitdem wird die Existenz der Stadt auf diesem niedrigeren Niveau
professionell gemanagt.
Sieht man der Stadt die Kränkung an?
Es gibt keinen Ort, an dem sich die Kränkung bündelt, man sieht sie eher in
Szenen. Zum Beispiel am Ersten jeden Monats, wenn die Hartz-IV-Empfänger in
langen Schlangen in der Sparkasse anstehen, um sich ihr Geld zu holen.
Was machen die Überflüssigen mit ihrer Zeit? Welche Strategien haben sie,
um dem Leben Sinn abzuringen?
Vor allem Selbstkontrolle. Ich fand es erstaunlich, wie diszipliniert sich
die allermeisten in diesem reduzierten Leben einrichten. Sie führen
Haushaltsbücher, sie verschulden sich nicht, verkaufen das Auto, gehen nur
noch zweimal im Jahr zum Friseur. Wer noch ein Auto hat, fährt damit so
selten wie möglich. Es regiert Disziplin, auch Glaube an die
Arbeitsgesellschaft. Es gibt Leute, die seit 20 Jahren nur Nebenjobs machen
und trotzdem ihr Leben so einrichten, dass sie jederzeit einen Vollzeitjob
antreten können.
Also wirkt die protestantische Ethik der Arbeitsgesellschaft noch bei
jenen, die nicht mehr Teil dieser Gesellschaft sind?
Ja, in Form von Härte gegen sich selbst. Das Leben in der
Postarbeitsgesellschaft wird betrieben wie Arbeit an sich selbst. Man kann
das auch in den ungeheuer ordentlichen, gepflegten Kleingärten sehen. Das
ist der Ort des ungebrochenen Arbeitsethos der Rentner, ein Ort der
Produktion. Das Problem ist: Sie werden die Massen an Obst und Gemüse nicht
los. Die Kinder verdrehen die Augen und sagen: Ach Papa, nicht wieder so
viele Äpfel. Was soll ich damit in Hamburg?
Wie ist Wittenberge, wenn man die Stadt auf einen Begriff bringt?
Fragmentiert. Es gibt das stabile Drittel, das das Überleben managt. Die
leben in den neuen Einfamilienhäusern am Stadtrand. Sie meiden das Zentrum,
in dem das untere Drittel lebt, die Hartz-IV-Empfänger, Ein-Euro-Jobber,
Niedriglohnbezieher, Leiharbeiter.
Also wie in manchen US-Städten: Das Zentrum verarmt, der Mittelstand wohnt
an der Peripherie?
Ja, so ähnlich.
Gibt es Konflikte zwischen unterem und oberem Drittel?
Nein, man ignoriert sich gegenseitig. Es gibt zwischen diesen Gruppen kaum
Berührungspunkte.
Gibt es einen Schlüsselkonflikt, der die Stadt prägt?
Nein. Es ist typisch für Ostdeutschland, dass Konflikte nicht politisiert
und zugespitzt werden. Es ist kein Zufall, dass der Bürgermeister in
Wittenberge beinahe einstimmig gewählt wurde. Es gibt eine merkwürdige
Stimmungslage: Man erwartet, dass der Staat sich wie ein guter Fürst
kümmert, aber gleichzeitig glaubt man nicht daran, dass er es kann. Es gibt
auch keinen Generationskonflikt. Viele Jüngere verstehen das Trauma der
Älteren, die 1990 aus der industriellen Welt vertrieben wurden, nicht mehr.
Sie halten das für Jammern. Sie selbst sind pragmatisch, wollen etwas aus
ihrem Leben machen, wenn nicht in Wittenberge, dann eben woanders.
Gleichzeitig bieten die Eltern aber noch immer so etwas wie Sicherheit. So
wird die Schwelle zum deutlichen Konflikt nie überschritten.
An der Studie über Wittenberge haben Soziologen, Ethnologen und
Kulturwissenschaftler drei Jahre gearbeitet. Mit welchem
Erkenntnisinteresse?
Wir wollten wissen, wie eine Stadt 20 Jahre nach der Wende funktioniert.
Und?
Es ist eine neuartige Gesellschaft entstanden. Das ist ja im Grunde das
Verwunderliche: Nachdem ursprünglich der Osten so werden sollte wie der
alte Westen, ist der Osten heute zwar als etwas Einheitliches verschwunden,
dem Westen aber dabei überhaupt nicht ähnlicher geworden. Wie diese
Gesellschaft zwischen Leuchttürmen und Hartz IV funktioniert, ist noch
unbekannt. Deshalb muss man aufsammeln.
Für die Studie wurden keine Statistiken erhoben, keine Fragebögen
ausgewertet, das Team hat in Wittenberge eine Weile gelebt. Warum?
Wir wollten durch intensive lange Beobachtung und Interviews die Stadt und
die Einzelnen verstehen. Wir wollten den Leuten eine Stimme geben. Das
erreicht man nicht mit Fragebögen. In der berühmten Studie "Die
Arbeitslosen von Marienthal" von 1933 haben die Forscher die Stadt
vermessen: Wie viele Bücher werden ausgeliehen, wie schnell bewegen sich
Menschen? Wir wollten nicht zählen, sondern in das Alltagsverständnis, in
das Denken der Stadt eintauchen. Und beobachten.
Die Beobachteten haben auf die Beobachtung ziemlich heftig reagiert …
Viele haben sich in Wittenberge aufgeregt, weil in einem unserer Papiere
das Wort "Verliererstadt" vorkam. Die Stadt weiß, dass sie in medialer
Konkurrenz steht, deshalb wehrt sie sich. Die Eliten der Stadt wollen
nicht, dass Wittenberge als Beispiel einer schrumpfenden Stadt gilt.
Andererseits empfindet sich die Stadt noch immer stark als Opfer der Wende.
Da ist etwas Doppeltes. Der französische Soziologe Didier Lapeyronnie hat
das anhand der Pariser Banlieue so beschrieben: Wenn er den Jugendlichen in
den Vorstädten sagt: Leute, das ist ja schrecklich hier, alles kaputt, die
Jugendtreffs zerstört - dann antworten die Jugendlichen: Du hast keine
Ahnung von uns. Wir kümmern uns doch darum, dass hier noch etwas
funktioniert. Also sagt der Forscher, als er das nächste Mal in die
Vorstädte geht: Leute, das ist ja toll, was ihr auf die Beine stellt,
obwohl alles kaputt ist. Und die Jugendlichen sagen: Mann, du hast ja
überhaupt keine Ahnung. Hier ist alles am Arsch, wir zerstören unsere
Schulen, wir sind kriminell. Sie wollen sich nicht von außen definieren
lassen, wehren sich gegen Fremdbeschreibungen. Das ist in Wittenberge auch
so.
Eine Geste der Selbstbehauptung?
Ja, dieser Wechsel der Selbstbilder ist auch funktional. Wenn es darum
geht, Fördermittel zu akquirieren, kramt die Stadt aus ihrem Gedächtnis
ihre besondere Betroffenheit von der Deindustrialisierung 1990 hervor.
Die Marienthal-Studie hatte ein zentrales Ergebnis: Die Arbeitslosigkeit
verlangsamt die Stadt, bis zur Lähmung. Gibt es ein zentrales Ergebnis der
Wittenberg-Studie, wie der Schock von 1990 und die Schrumpfung die Stadt
verändert hat?
Die Zersprengtheit. Es gibt ungewöhnlich viele Inseln, Fragmente in der
Stadt, die eigene Logiken haben. Das ist keine müde Gesellschaft wie in
Marienthal. Es ist eine Gesellschaft, die sich abgefunden hat, aber noch
Zukunftspläne macht.
29 Nov 2011
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Fabrik
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