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# taz.de -- Lebenserwartung in Deutschland: Wer wenig verdient, ist früher tot
> Die Deutschen werden immer älter. Mit einer Ausnahme: Die Lebenserwartung
> von Niedriglohnempfängern sank in der letzten Dekade um zwei, im Osten
> sogar um vier Jahre.
Bild: Hungerlöhne R.I.P.
BERLIN taz | Die Lebenserwartung von Geringverdienern ist entgegen aller
Trends in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken. Das geht aus Daten zur
Rentenversicherung hervor, die die Bundesregierung auf eine große Anfrage
der Linksfraktion herausgegeben hat.
Das Phänomen betrifft ausschließlich Männer und den Osten härter als den
Westen. Im Bundesdurchschnitt sank demnach die Lebenserwartung von
Geringverdienern zwischen 2001 und 2010 um zwei Jahre. Starben solche
Rentenbezieher 2001 im Durchschnitt noch mit 77,5 Jahren, lag die Zahl 2010
nur noch bei 75,5 Jahren. Im Osten jedoch ging die Lebenserwartung im
gleichen Zeitraum bereits um 3,8 Jahre zurück, also fast vier Jahre. Dort
starben Geringverdiener 2001 im Schnitt noch mit 77,9 Jahren, 2010 jedoch
bereits mit 74,1 Jahre.
Ganz anders stellt sich das Bild dar, wenn man auf Bezieher höherer
Einkommen schaut. Ihre Lebenserwartung ist in den letzten zehn Jahren
gestiegen. Rentenbezieher, die während ihres Arbeitslebens mehr als die
Hälfte des Durchschnittseinkommens bezogen und in die Rentenkasse
einzahlten, lebten 2010 knapp ein Jahr länger als noch 2001, nämlich im
Durchschnitt bis zum Alter von 83,4 Jahren.
Das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt, das für die Berechnung der
Altersbezüge der gesetzlichen Rentenversicherung ausschlaggebend ist, lag
2010 bei 2.666 Euro monatlich. Die Niedriglöhner verdienten jedoch nur
zwischen knapp 1.330 und 2.000 Euro, die Besserverdiener 3.998 Euro und
mehr.
## Wie unter Thatcher
Die Daten zum durchschnittlichen Sterbealter stammen nicht direkt von der
Bundesregierung, sind jedoch eine einfach Rechenoperation, die der
rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias W. Birkwald,
angestellt hat. So lieferte die Bundesregierung, aufgeschlüsselt nach
Einkommensklassen, die Zahlen, wie lange die Menschen ab dem 65. Lebensjahr
ihre gesetzliche Rente beziehen.
Geringverdienende Männer im Jahr 2010 nämlich 10,5 Jahre, 2001 lag der Wert
noch bei 12,5 Jahre. Addiert man zur Grenze von 65 Jahren 12,5 oder eben
10,5 Jahre, errechnet sich das durchschnittliche Sterbealter. Eine
Erklärung, warum Frauen weniger betroffen sind, dürfte darin liegen, dass
sie in der betrachteten Altersgruppe, den Mitte der 1940er Jahre Geborenen,
noch seltener als Männer als Hauptverdienerinnen vertreten sind.
Für Rolf Rosenbrock, Gesundheitsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin,
sind die Zahlen alarmierend - und völlig neu: "Es ist das erste Mal seit
dem Zweiten Weltkrieg, dass die Lebenserwartung bei einer
Bevölkerungsgruppe sinkt. So etwas hatten wir in Europa in den 1990ern nur
einige Jahre in Großbritannien als Auswirkung der radikalen Reformen unter
Margret Thatcher."
## Rente mit 67 nicht vertretbar
Die Gesundheitsforschung weise seit geraumer Zeit auf den Zusammenhang von
Armut beziehungsweise geringem Einkommen und Lebenserwartung und -qualität
hin. So lebten Männer, die nur bis zu 60 Prozent des
Durchschnittseinkommens verdienten, nicht nur mehr als zehn Jahre kürzer
als Besserverdiener. Sie litten auch vier Jahre früher an
chronisch-degenerativen Erkrankungen, berichtet Rosenbrock.
Die neuen Zahlen interpretiert er vor allem als schleichende Kumulierung
einer sich seit den 1970er Jahren verstärkenden Ungleichheit in
Deutschland, auf die auch Wirtschaftsforscher hinweisen. Gerade in den
letzten Jahren haben dabei die Spreizung der Lohneinkommen in Deutschland
sowie die Anzahl der Niedriglohnbezieher rasant zugenommen. "Und im Osten
hatte wir noch zusätzlich das Phänomen, dass ein großer Teil der
Bevölkerung nach der Wende einen ruckartigen Absturz erlebt hat", so
Rosenbrock.
Für Birkwald zeigt sich, dass die Rente mit 67 nicht vertretbar sei. Sie
wurde von der Bundesregierung auch mit der Begründung eingeführt, die
Menschen lebten immer länger und bezögen auch länger Rente - nämlich 2010
im Durchschnitt 19,1 Jahre. Birkwald: "Durchschnittswerte vernebeln die
soziale Härte der Wirklichkeit."
13 Dec 2011
## AUTOREN
Eva Völpel
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