# taz.de -- Debatte Mindestlohn: Gut gebrüllt, CDU! | |
> Endlich streitet auch die Union über den Mindestlohn. Doch ihre | |
> Vorschläge sind wirklichkeitsfremd. Sie ignorieren die Machtverhältnisse | |
> in der Arbeitswelt. | |
Bild: Wenigstens Leben muss man von der Arbeit können. | |
In diesen Tagen ist viel von der Tarifautonomie die Rede. Vertreter des | |
Wirtschaftsflügels der CDU, Arbeitgeber, aber auch Bundesarbeitsministerin | |
Ursula von der Leyen (CDU) betonen: Wenn es zu einem Mindestlohn kommt, | |
dann nur, wenn sich die Tarifpartner mithilfe von WissenschaftlerInnen | |
darauf in einer Kommission einigen. | |
Tarifautonomie, das klingt gut, schließlich ist sie auch im Grundgesetz | |
festgeschrieben. Aber das Lob der Autonomie vernebelt den Blick auf die so | |
entscheidenden Machtverhältnisse. Schaut man genauer hin, wird klar, warum | |
die Arbeitgeber alleine mit den Gewerkschaften Mindestlöhne aushandeln | |
wollen- und die CDU diesen Weg gutheißt. | |
Denn mit den Gewerkschaften haben sie geschwächte Partner am Tisch. Diese | |
Defensive ist aber nur zu einem kleinen Teil von den Gewerkschaften zu | |
verantworten. Sie hat vor allem strukturelle Gründe: In den prosperierenden | |
1960er und 1970er Jahren war das Arbeitskräfteangebot noch knapp. Die | |
Arbeitgeber waren gezwungen, die Tarifpartnerschaft zu pflegen. | |
Das änderte sich grundlegend ab den 1980er Jahren: Die voranschreitende | |
Globalisierung führte zu Betriebsaufspaltungen, Wirtschaftseinbrüche und | |
die Wiedervereinigung zu hoher Arbeitslosigkeit. Dann kamen 2005 noch die | |
Hartz-Gesetze mit der Förderung von Leiharbeit und 400-Euro-Minijobs dazu, | |
mit abgesenkten Sozialhilfesätzen und dem verschärften Zwang für | |
Arbeitslose, Jobs auch weit unter der eigenen Qualifikation anzunehmen. | |
So wurde der Niedriglohnsektor politisch gewollt ausgebaut, verfügbare | |
Arbeitskräfte zur Massenware und die zersplitterten Belegschaften für die | |
Gewerkschaften immer schwieriger zu organisieren. Die Arbeitgeberseite | |
konnte sich von der Tarifpartnerschaft emanzipieren. | |
Wäre es der CDU ernst mit der "Würde der Arbeit" (Angela Merkel), würde sie | |
tatsächlich für existenzsichernde Löhne sorgen wollen, dann müsste sie | |
selbst Entscheidungen fällen, dann müsste sie politische Verantwortung | |
übernehmen, statt das Problem abzuschieben. | |
## Gegenseitige Blockade | |
Wie ertraglos das Kommissionsverfahren sein kann, ist ein offenes | |
Geheimnis. Nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz Branchenmindestlöhne zu | |
vereinbaren, ist ein zähes Verfahren, in dem sich die Tarifpartner oft | |
gegenseitig blockieren. | |
Und mithilfe des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, das für Branchen mit | |
weniger als 50 Prozent Tarifbindung greift, ist bis heute sogar kein | |
einziger Mindestlohn verabschiedet worden. | |
Erst im Sommer befand der Hauptausschuss, ein beim Bundesarbeitsministerium | |
(BMAS) angesiedeltes unabhängiges Expertengremium, dem der SPD-Politiker | |
Klaus von Dohnanyi vorsitzt, dass in den externen Call Centern "keine | |
sozialen Verwerfungen" vorlägen. Obwohl viele der rund 100.000 | |
Beschäftigten für Stundenlöhne von unter 6 Euro arbeiten. | |
## Die Regionalisierung ist falsch | |
Aber wird man überhaupt noch von einem allgemeinen, flächendeckenden | |
Mindestlohn sprechen können, wenn die CDU ihre Debatte beendet hat? Bereits | |
jetzt hat der Wirtschaftsflügel den Vorschlag des christlichen | |
Arbeitnehmerflügels CDA weitgehend zerschreddert. | |
Die CDA wollte den Mindestlohn in der Leiharbeit (7,01 Euro im Osten, 7,89 | |
Euro im Westen) bundesweit auf alle tariflosen Zonen übertragen. Davon hat | |
sich Parteichefin Angela Merkel nach heftigem Gegenwind der | |
Mindestlohngegner bereits verabschiedet. Sie plädiert jetzt für | |
branchenspezifisch und regional unterschiedliche Lohnuntergrenzen. | |
Das jedoch würde eine völlige Zersplitterung der Mindestlohnlandschaft | |
bedeuten. Kritiker des Mindestlohns befürworten diese Zersplitterung: Denn | |
nähme man München zum Maßstab, müsste man auch in Cottbus einen Mindestlohn | |
von 12 Euro einführen, so ihr Argument. | |
Es ist jedoch eine bewusste Irreführung, denn niemand fordert 12 Euro. | |
Selbst die Linkspartei will "nur" 10 Euro. Etliche WissenschaftlerInnen, | |
Gewerkschaften, SPD und Grüne fordern hingegen 8,50 Euro. Für diese Höhe | |
spricht viel: Denn erst ab einem Bruttostundenlohn von 8,50 Euro hat ein | |
alleinstehender Vollzeitbeschäftigter keinen Anspruch mehr auf aufstockende | |
Hartz-IV-Leistungen. | |
## Löhne sind immer künstlich | |
Doch auch das CDA-Konzept, Mindestlöhne nur für tariflose Zonen | |
einzuführen, ist problematisch. Denn was ist eine Zone, und ab wann ist sie | |
tariflos? Wenn die Tarifbindung unter 50, 30 oder 10 Prozent liegt? Wenn | |
seit einem oder zwei Jahren kein neuer Tarifvertrag mehr abgeschlossen | |
wurde? | |
Wer untersucht und überwacht die schwankende Tarifbindung in mehreren | |
hundert Wirtschaftsklassen oder Branchen, wie soll eine sinnvolle Kontrolle | |
von nach Zonen und Regionen ausdifferenzierten Mindestlöhnen möglich sein, | |
wie Beschäftigte noch verstehen, was ihnen zusteht? | |
Soll ein Mindestlohn Wirkung entfalten, soll er (Alters-)Armut bekämpfen | |
und die Sozialsysteme stabilisieren, braucht es einen bundesweit allgemein | |
gültigen Satz - 20 der 27 EU-Länder praktizieren das bereits. | |
Und dann wäre da noch das Schreckgespenst der Mindestlohngegner, eine | |
Lohnuntergrenze koste Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Diese | |
Behauptungen stützen sich zumeist auf die Annahme, die bisher gezahlten | |
Löhne seien Marktlöhne, die im Einklang mit der Produktivität der einzelnen | |
Beschäftigten stünden. | |
## Keine Gefahr für Arbeitsplätze | |
Erhöhe man den Marktlohn "künstlich", komme das natürlich gegebene | |
Gleichgewicht aus den Fugen. Arbeitsplätze würden sich für Unternehmer | |
nicht mehr rentieren und abgebaut. | |
Neue belastbare Studien, die die Praxis in EU-Ländern mit allgemeinen | |
Mindestlöhnen überprüfen, zeigen, dass diese nicht zum Abbau von | |
Arbeitsplätzen führt. | |
Auch die vom Bundesarbeitsministerium noch unter Verschluss gehaltene | |
Studie zur Wirkung der in Deutschland existierenden zehn | |
Branchenmindestlöhne kommt zu diesem Schluss, ist bereits herausgesickert. | |
Die Erklärung? In einigen Branchen gibt es eine unternehmerische | |
Monopolstellung. Dort, wo allgemeine Mindestlöhne eingeführt wurden, wurden | |
also vor allem die Profite der Arbeitgeber reduziert, ohne dass daraus | |
Beschäftigungsverluste erwuchsen. | |
14 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Eva Voelpel | |
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