# taz.de -- Interview Ursula von der Leyen: "Werte erhält man nicht durch Star… | |
> Ursula von der Leyen sieht beim Mindestlohn keinen Kurswechsel. Und die | |
> Schwenks bei Atomkraft und Wehrpflicht seien kein Problem. "Die CDU geht | |
> mit der Zeit, um ihre Werte zu erhalten." | |
Bild: Besetzt moderne Themen für die CDU: Arbeitsministerin Ursula von der Ley… | |
taz: Frau von der Leyen, wie schön, dass jetzt auch die CDU für | |
Mindestlöhne ist. | |
Ursula von der Leyen: Wieso? Alle bestehenden Branchenmindestlöhne sind | |
unter CDU-Kanzlerschaft eingeführt worden. | |
Sie schlagen jetzt vor, über eine Kommission mehr zu etablieren. Wie soll | |
das funktionieren? | |
Ein unabhängiges Gremium, in dem Vertreter von Gewerkschaften und | |
Arbeitgebern sitzen, aber auch Wissenschaftler, würde eine Lohnuntergrenze | |
vereinbaren. Die Wissenschaftler stellen sicher, dass es keinen Streit über | |
grundlegende Fakten und statistische Daten gibt. Diese Kommission könnte | |
auch festlegen und begründen, ob sie bei der Lohnuntergrenze Unterschiede | |
für nötig hält. | |
Und die Politik würde diesen Lohn per Gesetz übertragen? | |
So wie wir das heute schon bei den Branchenmindestlöhnen machen. Den Rahmen | |
für den Geltungsbereich schafft der Gesetzgeber, die Höhe des Lohns muss | |
die Kommission eigenständig und unabhängig vom Staat finden. Dafür brauchen | |
wir die Expertise der Tarifparteien. | |
Wie hoch muss ein fairer Mindestlohn sein? | |
Das muss die Kommission festlegen, deswegen werde ich auch keine Vorgaben | |
zur Höhe machen. Der Politik fehlt für die Lohnfindung auch die Expertise, | |
ich vertraue da auf die lange Erfahrung der Tarifparteien. | |
Er müsste doch über dem Existenzminimum liegen? | |
Ich bin sicher, dass eine Kommission sich ernsthaft mit der Lebensrealität | |
der Bürgerinnen und Bürger auseinandersetzen wird. Aber noch einmal: Sie | |
werden von mir keine Aussage zu einer Höhe bekommen. Wichtig ist jetzt, | |
dass die CDU grundsätzlich Ja zu einer allgemeinen, verbindlichen | |
Lohnuntergrenze sagt. Und zweitens darüber diskutiert, wie diese am besten | |
ermittelt werden kann. | |
Da gehen die Meinungen in der CDU weit auseinander. Der mächtige | |
Landesverband NRW würde gerne den Zeitarbeitslohn auf andere Branchen | |
übertragen. | |
Ich unterstütze den Vorstoß von Karl-Josef Laumann, sehe aber bei der | |
Kopplung an die Zeitarbeit noch Diskussionsbedarf. Die Lohnuntergrenze muss | |
ja in allen Branchen akzeptiert werden, und die Zeitarbeit steht für gerade | |
drei Prozent der Beschäftigungsverhältnisse. Eine Kommission mit | |
Mitgliedern, auf die man sich branchenübergreifend geeinigt hat, würde | |
diese Akzeptanz sicherstellen. | |
Die Kanzlerin hingegen plädiert für eine branchenspezifische Lösung. Also | |
fünfhundert Mindestlöhne im Land? | |
Ach was. In zehn Branchen existieren ja schon Mindestlöhne. Sie | |
funktionieren gut, und sie müssen nicht angetastet werden. Wir dürfen die | |
Tariflandschaft nicht zersplittern in unzählige Mindestlöhne, das führt in | |
der Praxis zu schwierigen Abgrenzungsfragen und schwächt so den gewollten | |
Schutz der Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite sollten wir nicht von | |
vornherein die Tür zuschlagen für wenige begründete Unterschiede. Vor allem | |
wollen wir weiße Flecken in der Tariflandschaft bekämpfen … | |
… wo keine Tarifverträge existieren, weil die Gewerkschaften zu schwach | |
sind. | |
Dort stößt die Tarifautonomie an ihre Grenzen, deshalb ist dort die Politik | |
besonders in der Pflicht, einen neuen Rahmen zu setzen. | |
Viele Menschen arbeiten für vier, fünf Euro die Stunde, obwohl es einen | |
Tarifvertrag gibt. Ihr Modell ignoriert die Friseurin in Ostdeutschland. | |
Die Politik muss Übergangsregelungen schaffen. Bei neuen Tarifabschlüssen | |
könnte es sich ohnehin keine Gewerkschaft leisten, unter der | |
Lohnuntergrenze abzuschließen. Dann erledigt sich das Problem von selbst. | |
Was passiert, wenn sich die Tarifpartner in Ihrer Kommission nicht einigen? | |
Internationale Erfahrungen zeigen, dass man in ein Kommissionsmodell | |
Mechanismen einbauen kann und muss, um Pattsituationen zu verhindern. Das | |
wäre auch in Deutschland möglich. | |
Der Mindestlohn ist nur der jüngste Schwenk der Kanzlerin. Stimmt der | |
Parteitag auch über eine moderne CDU ab? | |
Ich wünsche mir, dass dieser Parteitag eins deutlich macht: Die CDU geht | |
mit der Zeit, um ihre Werte zu erhalten. Die CDU ist seit Ludwig Erhard die | |
Partei, die für die Balance von Wirtschaft und sozialer Sicherheit steht. | |
Klar ist: Werte erhält man nicht durch Starrheit. Jede Generation, ob in | |
der Familie, im Betrieb oder der Politik, erneuert Dinge. Aber oft, um die | |
Tradition zu erhalten, nicht, um sie infrage zu stellen. | |
Wehrpflicht weg, Hauptschule auch, Atomausstieg - überfordert Merkel die | |
CDU? | |
Gesellschaftliche Veränderungen finden statt, ob sie uns passen oder nicht. | |
Und die Politik muss darauf reagieren. Als wir in der Familienpolitik das | |
Elterngeld und den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz eingeführt haben, | |
gab es auch Empörung in und außerhalb der CDU. Rückblickend ist klar, dass | |
diese Reform überfällig war. Weil die Lebenswirklichkeit der Menschen | |
längst weiter ist. | |
Aber die CDU hat durch die gehäuften Kehrtwenden ein | |
Glaubwürdigkeitsproblem. | |
Nein, das glaube ich nicht. Die CDU demonstriert doch gerade, dass sie um | |
Antworten auf Fragen der Zukunft ringt. Und welche findet, statt in der | |
Vergangenheit stehen zu bleiben. Das ist die Stärke einer Volkspartei, dass | |
sie die Kraft zur Erneuerung hat, auch wenn es schmerzhafte Debatten | |
kostet. | |
Eine persönliche Frage: Merkel wird nicht ewig Parteichefin bleiben. | |
Verbessert eigentlich jemand, der sich in der CDU progressiv positioniert, | |
seine Chancen auf eine Nachfolge? | |
Positionieren muss man sich mit seinen Überzeugungen. Wo man scheitert oder | |
sich durchsetzt, zeigt sich erst im Rückblick. Schon mein Vater eckte in | |
der Partei permanent an, er handelte aus der Überzeugung heraus, etwas | |
verändern zu wollen. Ich habe andere Themen als er, weil meine Zeit eine | |
andere ist, aber das Prinzip finde ich gut: Ich fühle mich in der CDU zu | |
Hause, bin aber nicht in der Politik, um die Blaupause einfach | |
fortzuschreiben, sondern will mit ihr etwas verändern. | |
Das war keine Antwort. | |
Ob sich in der CDU Karrierechancen durch liberale Standpunkte verbessern? | |
Das weiß ich nicht, ist mir auch egal. Man muss für seine Themen brennen, | |
sonst nimmt man keine Menschen mit. Für eine Volkspartei ist es gut, wenn | |
sie viele unterschiedliche Typen hat, die auf ihre Art überzeugen. | |
Sie besetzen moderne Themen, Sie reden als Einzige in der CDU von | |
"Vereinigten Staaten von Europa". Bringt sich da eine Ersatzkanzlerin in | |
Stellung? | |
Die Erklärung ist sehr viel einfacher - nämlich biografisch begründet. Ich | |
bin in Brüssel geboren und aufgewachsen. Die Begeisterung für Europa, | |
dafür, mit anderen Nationen etwas gemeinsam zu erschaffen, habe ich von | |
Kindheit an aufgesogen. Die Krise macht es nötig, nicht nur über EFSF, ESM | |
oder EWF zu sprechen, sondern über die dahinter stehenden großen Themen: | |
die riesigen Vorteile einer gemeinsamen Binnenwirtschaft, das | |
friedensstiftende Element des Staatenbundes, die Freizügigkeit bei Arbeit | |
und Reisen. | |
Der Europaleitantrag des CDU-Vorstands enthält viele Ideen, um | |
Schuldenländer zum Sparen zu zwingen, und redet von einem EU-Sparkommissar | |
… | |
… den ich auch lieber Währungskommissar genannt hätte. | |
Wie kann er Sparen erzwingen? | |
In der EU gibt es zum Beispiel einen starken Wettbewerbskommissar. Er | |
genehmigt etwa Unternehmensfusionen - oder genehmigt sie nicht, wenn er die | |
Gefahr eines Monopols sieht. Ein Währungskommissar würde mit ähnlichen | |
Durchgriffsrechten über die Haushaltsdisziplin wachen. Wir kämpfen | |
bekanntlich dafür, dass jedes Euroland eine Schuldenbremse in seiner | |
Verfassung installiert. Solange sich ein Land an die Regeln und eine eigene | |
Schuldengrenze hält, ist alles in Ordnung. Aber wenn es sie überschreitet, | |
soll der Währungskommissar die Genehmigung des Staatshaushalts verweigern | |
können - sodass er neu aufgestellt werden muss. Er wacht nur über die Höhe, | |
über die Haushaltsposten entscheiden die gefährdeten Staaten weiterhin | |
völlig autonom. | |
Das wäre ein tiefer Eingriff in die nationale Souveränität. | |
Griechenland lehrt, dass bereits kleine Volkswirtschaften die große | |
Gemeinschaft in tiefe Probleme bringen können. Es gibt kein gemeinsames | |
Europa und den Euro mit all seinen Vorteilen ohne die Kehrseite | |
nachweislich solider Haushaltspolitik. Die Zeiten, in denen Verschuldung | |
eine nationale Angelegenheit war, sind vorbei. | |
10 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Eva Völpel | |
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