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# taz.de -- SPD-Chef Sigmar Gabriel: "Wir haben Fehler gemacht"
> Der Parteichef der SPD muss sich auf dem nächsten Parteitag der
> Wiederwahl stellen. Sigmar Gabriel über die geplante Bundesratsblockade
> und seine stets niedrigen Beliebtheitswerte.
Bild: Sigmar Gabriel wird von der Occupy-Bewegung ignoriert. Sein Rat: "Da hilf…
taz: Herr Gabriel, die Koalition senkt für sechs Milliarden Euro Steuern.
Warum freuen Sie sich nicht?
Sigmar Gabriel: Weil das Geld nicht da ist. Während Schwarz-Gelb
Steuergeschenke verteilt, nimmt allein der Bund knapp 30 Milliarden Euro
neue Schulden auf. Am Ende zahlen die Bürger die Zeche dafür - durch höhere
Kindergartengebühren oder die Schließung von sozialen und kulturellen
Einrichtungen in den Kommunen. Der Beschluss von Sonntag dient nur der
Befriedung der Koalition. Und es ist abenteuerlich, dass Merkel Griechen
und Italiener zum Sparen zwingen will, dazu aber selbst nicht bereit oder
in der Lage ist.
Ärgern Sie sich, dass die FDP einen Sieg errungen hat?
Das Ganze ist eine große Demütigung der FDP durch die CDU und ihren
Bundesfinanzminister. Zwei Jahre lang hat die FDP vollmundig 20 Milliarden
Euro Steuersenkung versprochen. Aber die FDP hat ihre Selbstachtung ja
längst aufgegeben. Die schämt sich für nichts mehr.
Sie haben angekündigt, dass die SPD im Bundesrat blockieren will. Werden
sich arme Länder, in denen eine große Koalition regiert, am Ende kaufen
lassen?
Die Länder, in denen die SPD mitregiert, werden nicht zustimmen. Wir nehmen
die Schuldenbremse ernst und wollen keine Politik auf Pump mitmachen. Im
Übrigen haben die allermeisten Menschen ja nichts von dieser sogenannten
Steuersenkung: 40 Prozent der Haushalte in Deutschland zahlen keine
Einkommenssteuer, weil sie zu wenig verdienen. Und für viele andere geht es
gerade mal um 2 Euro mehr im Monat.
Und nun sind Sie es, die den Leuten nicht einmal die paar Euro gönnen?
Ich gönne den Menschen vor allem bessere Löhne und die Gebührenfreiheit in
Kindergärten und an Hochschulen. Und ich bin sicher, dass die Menschen von
uns erwarten, dass wir Vorsorge für Risiken treffen.
Aber können Sie überhaupt ernsthaft gegen einen höheren Steuerfreibetrag
stimmen? Der muss doch ohnehin an das Existenzminimum angepasst werden.
Selbst dann würden die Länder zu Recht fordern, dass der Bund für die
Kosten aufkommt. Wenn die Koalition den Spitzensteuersatz anheben würde,
wie das ja in der Union auch einige fordern, könnte man darüber sicher
reden.
Merkel will neben der Steuersenkung nun auch den Mindestlohn, eigentlich
ein SPD-Thema. Ärgert Sie das?
Nein, das ist ein großer Sieg für SPD und Gewerkschaften. Wir zwingen die
Union dazu, einen Mindestlohn einzuführen, den sie 10 Jahre lang strikt
abgelehnt hat. Diese Wende ist für die CDU vermutlich nicht weniger
bedeutsam als der Atomausstieg. Allerdings darf es kein Scheinmindestlohn
sein. Er muss Menschen, die Vollzeit arbeiten gehen, unabhängig von
Sozialhilfe machen. Dafür ist der CDU-Vorschlag bei Weitem noch nicht
ausreichend.
Trotzdem erscheint die CDU damit sozialer. Wie gefährlich ist das für die
SPD mit Blick auf die Bundestagswahl 2013?
Gar nicht. Merkel wäre sicher auch bereit, sich zur Vorsitzenden des
Fanclubs der Vermögenssteuer wählen zu lassen, wenn das ihre Wahlchancen
erhöhen würde. Aber sie hat eben auch ein wachsendes
Glaubwürdigkeitsproblem. Die permanenten Kurswechsel wirken demobilisierend
auf ihre eigenen Wähler. Uns unterscheidet sehr viel von der Union: Wir
wollen gleichen Lohn in der Leih- und Zeitarbeit, eine echte Pflegereform,
die Bürgerversicherung, eine konsequente Regulierung der Finanzmärkte, die
Finanztransaktionssteuer. Nichts von dem wird Merkel liefern können.
Auch Rot-Grün hat in der eigenen Regierungszeit die Finanzmärkte massiv
dereguliert und den Spitzensteuersatz gesenkt. Ist das glaubwürdig?
Wir verschweigen nicht, dass wir Fehler gemacht haben. Auch SPD und Grüne
haben sich vom Trommelfeuer der Marktideologen einschüchtern lassen. Der
Unterschied zu Konservativen und Liberalen ist aber: Wir haben dazugelernt.
Die Richtung muss eine ganz andere werden.
Sie haben gerade eine Europareise hinter sich gebracht, und versucht, mit
der Occupy-Bewegung ins Gespräch zu kommen. Fühlen Sie sich der Bewegung
verbunden?
Ja, aber ich mache mir nichts vor: Die haben nicht auf den SPD-Vorsitzenden
gewartet. Die trauen der etablierten Politik nicht über den Weg.
Viele Aktivisten haben das Vertrauen in institutionelle Politik verloren.
Wie gewinnen Sie es zurück?
Da hilft nur der Dialog. Aber ich verstehe und akzeptiere auch diejenigen,
die sagen, selbst diesen Dialog wollen wir nicht, weil wir Sorge haben,
irgendwie vereinnahmt zu werden. Es ist nicht schlimm, wenn sich da erst
einmal etwas parallel entwickelt.
Teilen Sie die Ziele der Bewegung?
Ja, wenn es darum geht, dass Menschen selbst über ihr Leben bestimmen
sollen - und nicht die Finanzmärkte.
Und die Kapitalismuskritik?
Die teile ich, aber ich sehe keine Alternative zur sozialen
Marktwirtschaft. Denn eine Verstaatlichung aller Produktionsmittel führt in
eine noch ungerechtere Gesellschaft.
Was wollen Sie?
Wir erleben gerade eine Zeitenwende: Das Zeitalter der Marktradikalen und
Neoliberalen geht zu Ende. Und die alte soziale Frage erscheint in neuer
Form: Demokratie oder Herrschaft der Märkte. Für die SPD heißt das: Wir
wollen den Kapitalismus das zweite Mal bändigen. Die SPD hat 150 Jahre
Erfahrung damit und ich finde, dass wir stolz darauf sein können, was wir
an Fortschritten für Freiheit und Demokratie, Frieden und sozialer
Gerechtigkeit durchgesetzt haben. Das geht nicht mehr allein auf nationaler
Ebene. Deshalb ist Europa wichtig.
Ist die Zeit des unbegrenzten Wachstums beendet?
Eine älter werdende Gesellschaft mit begrenzten Ressourcen und steigender
Weltbevölkerung wird nicht mehr so schnell wachsen, wie wir es gewohnt
sind. Die Herausforderung besteht darin, dennoch soziale Gerechtigkeit zu
schaffen. Früher haben wir gesagt: Der Kuchen muss nur größer werden, dann
können auch alle mehr bekommen. In Zukunft müssen wir auch entscheiden, was
nicht wachsen, sondern schrumpfen soll, etwa Energie- und
Landschaftsverbrauch.
Auf dem bevorstehenden Bundesparteitag stehen Sie erstmals zur Wiederwahl
als SPD-Chef. Wie ist Ihre Zwischenbilanz?
Wir haben viel mehr erreicht, als man uns zugetraut hätte. Die SPD ist
geschlossen, wie haben viele Landtagswahlen gewonnen und laufen keiner
anderen Partei hinterher.
Die Kanzlerkandidatendebatte schien in den vergangenen Wochen überhitzt.
Müssen Sie da jetzt Ruhe reinbringen?
Ich finde es mit Verlaub sehr ruhig in der SPD, was diese Frage angeht.
Jedenfalls wird in den Medien darüber mehr diskutiert als bei uns. Aber ich
gebe zu: Diese Mediendebatte hat uns gut getan. Denn solange über die Frage
spekuliert wird, wer der nächste SPD-Kanzler wird, ist eines klar: Frau
Merkel wird es nicht.
Gerhard Schröder mahnte jüngst zur Eile mit der Entscheidung über die
Kandidatur - Sie wollen erst Ende 2012 entscheiden. Hat er inhaltlich
recht?
Nein. Gerd Schröder hat über seine eigene Kanzlerkandidatur erst 6 Monate
vor der Wahl entschieden. Die Leute haben im Moment andere Sorgen, als die,
wer SPD-Kanzlerkandidat wird.
Wer bestimmt eigentlich, wer Kanzlerkandidat wird?
Die SPD. Wer sonst?
Ihr Vize Olaf Scholz sagt: Die Kanzlerkandidatur wird nicht im Hinterzimmer
entschieden. Es wird automatisch der, der die größte Aussicht auf Erfolg
hat.
Es wäre verlogen zu sagen, dass die Popularität des Kandidaten keine Rolle
spielt. Aber es ist nicht der einzige Faktor. Programm, Team und Person
müssen zusammenpassen.
Wenn es um Popularität geht, entsteht doch ein Zugzwang, dass Steinbrück es
wird - der war in seiner Regierungszeit Deregulierungsfan.
Das stimmt nicht. Steinbrück hat in der Wirtschaftskrise wichtige Impulse
für die internationale Regulierung der Finanzmärkte gegeben, leider hat
Schwarz-Gelb die nicht fortgeführt.
Macht es Ihnen eigentlich etwas aus, dass Sie selbst hinter Steinbrück und
Steinmeier stets nur der drittbeliebteste sind?
Nein. Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier haben Deutschland in
tragenden Funktionen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geführt.
Deshalb haben sie zu Recht so hohe Beliebtheitswerte.
In Ihrem letzten Buch haben Sie Ihre linke Sozialisation betont. Sind Sie
der linke Kandidat von den dreien?
Wir haben alle unterschiedliche Profile und Charaktere. Links sein bedeutet
für mich, an die Emanzipation des Menschen, an die Kraft der Aufklärung zu
glauben. Das tue ich. Und ich weiß: Das tun Frank-Walter Steinmeier und
Peer Steinbrück auch.
9 Nov 2011
## AUTOREN
G. Repinski
U. Schulte
## TAGS
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
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