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# taz.de -- Dokumentarfilm über Chodorkowski: Der Held bleibt ein Rätsel
> Wer ist Michail Chodorkowski? Selbstloser Demokrat, Opfer Putins,
> arroganter Konzernchef? "Der Fall Chodorkowski" umkreist diese Fragen,
> ohne klare Antworten zu geben.
Bild: Der berühmteste Häftling in Russland: Michail Chodorkowski.
Am Anfang schwenkt die Kamera langsam über ein Schneefeld. Eine kleine
Ölförderanlage kommt ins Bild, dann eine russische Kirche. Am Ende des
360-Grad-Schwenks fällt der Blick auf drei russische Jugendliche. "Michail
Chodorkowski hat Russland viel Geld gestohlen", sagt einer.
Danach sehen wir in einer schwarzweißen, animierten Sequenz, wie 2003
russische Polizisten das Flugzeug des Konzerchefs Chodorkowski stürmen. Die
Kamera fokussiert die Augen der Figur, sie zeigen Erschrecken und eine
seltsame Gefasstheit.
In dieser Exposition werden die Elemente sichtbar, mit denen der Regisseur
Cyril Tuschi in "Der Fall Chodorkowski" arbeitet: die Inszenierung des
Dokumentarischen, der Sinn für ästhetische Effekte und der Anspruch, mehr
als eine politische Reportage zu sein. "Der Fall Chodorkowski" wirft einen
Panoramablick auf Putins Russland und bedient sich mannigfacher
ästhetischer Facetten.
## Neoliberaler Typ
Die zarte, flirrende Orchesterkomposition von Arvo Pärt erpresst uns nicht,
wie so oft in Dokumentarfilmen, zu Gefühlen, sie begleitet die Bilder auch
nicht, sie scheint über ihnen zu schweben. Zudem inszeniert sich Cyril
Tuschi als Ich-Erzähler. Eigentlich, sagt Tuschi im Off, ist "Chodorkowski
einer, vor dem mich meine Eltern immer gewarnt haben: ein Neoliberaler, der
mit Kultur nichts am Hut hat".
Seit dem Erfolg von Michael Moore ist diese "Ich-und-die-Welt"-Pose im
Dokumentarischen in Mode. Solche Subjektivierungen wirken leicht
überambitioniert. Doch hier ist das Ich sparsam dosiert und damit ein
brauchbares Mittel, um russische Politik, von der die meisten Zuschauer nur
vage Vorstellungen haben, näher zu rücken.
Chodorkowski ist der berühmteste Häftling in Russland. Er war ein
Komsomol-Funktionär, der ein Lenin-Bild über sein Bett hängte. Unter
Gorbatschow eröffnete er eine der ersten Privatbanken in Moskau. In den
Neunzigern, als das Staatsvermögen in wilden, räuberischen
Korruptionsschüben privatisiert wurde, war er vornweg: Er war Besitzer von
Yukos-Öl und mehrfacher Milliardär.
## Arroganter Typ
2003 fiel er in Ungnade, weil er es wagte, Putin vor laufender Kameras
vorzuhalten, wenig gegen die Korruption zu tun. Seitdem sitzt er wegen
Steuerhinterziehung im Knast und wird mit immer bizarreren Anklagen
überschüttet. Ist Chodorkowski ein selbstloser Demokrat, ein unschuldiges
Opfer des autoritären Putin-Regimes? Oder ein Konzernchef, der nur seine
Macht überschätzte? Oder beides?
Cyril Tuschi umkreist diese Frage aus verschiedensten Perspektiven. Er
interviewt Chodorkowskis Mutter, die Exchefin der Bildungsstiftung des
Exkonzerchefs, den Sohn, der in den USA lebt. Er befragt politische Gegner,
die Chodorkowski Arroganz attestieren, und Oppositionelle in Moskau,
Finanzberater in London und einen eloquenten Ex-KGB-Offizier, der als
Bodyguard für ihn arbeitete.
Ein verbitterter Mitarbeiter klagt, dass Chodorkowski, obwohl er sich,
Teile seines Vermögens und auch Jobs für Mitarbeiter ins Ausland hätte
retten können, sich verhaften ließ. Eine Art rücksichtloser Märtyrer also.
Joschka Fischer berichtet, wie euphorisch Putin war, als er mit einem Trick
den Yukos-Konzern zerschlagen ließ. Und im großen Finale sieht man
staunend, wie Tuschi Chodorkowski während des Prozesses interviewt. Der
Angeklagte wirkt in seinem Glaskasten gelassen selbstbewusst und sagt: "Ich
war vielleicht etwas naiv."
## Autoritärer Typ
So schält sich Schicht für Schicht heraus, was passiert ist: In den 90ern
war Chodorkowski ein rabiater Oligarch, der mit Korruption nach oben kam.
Doch um die Jahrtausendwende versuchte er den Konzern Yukos zu zivilisieren
und Mindeststandards an Transparenz einzuführen. Mit seinem plötzlich
erwachten politischen Sendungsbewusstsein kam er Putin in die Quere, der
von mehr Marktwirtschaft nichts und von einer vitalen Zivilgesellschaft
schon gar nichts hielt. Chodorkowski war, so ein Weggefährte, "Teil eines
Systems, dessen Opfer er wurde".
Ein Rätsel bleibt der Held selbst, den sein Sohn einen "autoritären Typ"
nennt. Warum ließ er sich verhaften, obwohl er wusste, was auf ihn zukommen
würde? Warum wandelt er sich überhaupt vom rücksichtlosen Macher zum
(gegenüber Familie und Mitarbeitern nicht weniger rücksichtlosen)
Überzeugungstäter?
Mag sein, dass Chodorkowskis jüdische Herkunft und die Ahnung, nie
hundertprozentig Teil der russischen Machtelite zu sein, einen
distanzierten Blick auf sich selbst ermöglichten. Das Bild, das Tuschi
entwirft, ist nicht scharf, etwas bleibt verschwommen. Im Gedächtnis haften
bleibt der irritierend uneindeutige Blick der Comicfigur Chodorkowski im
Moment der Verhaftung: ängstlich und ruhig zugleich.
17 Nov 2011
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Michail Chodorkowski
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