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# taz.de -- Forscherin über Ausbildungsplätze: "Viele Jugendliche drehen Schl…
> Mehr Schüler finden heute Ausbildungsplätze - aber nur zum Schein. Die
> Forscherin Heike Solga über abgehängte Hauptschüler und geschönte
> Statistiken.
Bild: Hohe Anforderungen: Ein Uhrmacher-Azubi am ersten Tag.
taz: Frau Solga, die Zahl der aktuellen Schulabgänger, die keinen
Ausbildungsplatz finden, wird jedes Jahr kleiner. Sie sagen trotzdem, das
duale Ausbildungssystem stecke in der Krise. Warum?
Heike Solga: In etlichen Ausbildungen ist die Anforderung an Jugendliche
immer höher geschraubt worden. Für Hauptschüler oder auch Realschüler ohne
tolles Zeugnis wird es trotz sinkender Schülerzahlen also weiterhin schwer
bleiben, eine Ausbildungsstelle zu finden. In Ostdeutschland sehen wir
zudem bereits die Effekte des demografischen Wandels: In etlichen Regionen
gibt es Azubiplätze, aber keine Azubis - oder umgekehrt. Dieses Problem
wird sich in den nächsten Jahren vergrößern. Die Jugendlichen werden also
künftig mit deutlich höheren Mobilitätsanforderungen konfrontiert werden.
Die Jugendlichen müssen also flexibler werden. Inwiefern sollten aber auch
die Betriebe umdenken?
Sie müssten unter anderem über höhere Ausbildungsvergütungen nachdenken,
wenn sie Azubis aus weiter entfernten Regionen anlocken wollen. Denn viele
der Jugendlichen, die eine Ausbildung machen, kommen nicht aus reichen
Familien, die sich ohne weiteres eine zweite Wohnung leisten können.
Die Wirtschaft sieht das Problem am Ausbildungsmarkt aber vor allem bei den
jungen Menschen. Regelmäßig klagen die Arbeitgeber, dass immer mehr
Jugendliche gar nicht ausbildungsreif seien.
In den 1960er und 1970er Jahren sind die Jugendlichen nach dem
Hauptschulabschluss in der 8. Klasse, also oft mit 14 Jahren, auf einen
Ausbildungsplatz gekommen. Heute liegt das Durchschnittsalter bei neu
abgeschlossenen Ausbildungsverträgen bei 19,8 Jahren. Die Betriebe haben
sich seit langer Zeit darauf eingestellt, dass sie es mit jungen
Erwachsenen zu tun haben, die auch ein höheres schulisches
Vorbildungsniveau mitbringen. Davon können sie in Zukunft nicht mehr
ausgehen. Sie werden sich umorientieren und verstärkt auch wieder
Hauptschüler einstellen müssen.
Welche neuen Anforderungen kommen da auf die Ausbilder zu?
Die Auszubildendengruppe wird heterogener. An den Berufsschulen brauchen
wir kleinere Lerngruppen und mehr Personal, die Ausbilder müssen sich
darauf einstellen, dass sie den Schülern mehr beibringen müssen. Und die
Segregation an den Berufsschulen muss aufgebrochen werden: Denn auch dort
werden Schüler ohne Schulabschluss von denen mit Schulabschluss getrennt.
Das ist nicht mehr zeitgemäß.
Wirtschaft und Politik verkünden jedes Jahr, dass der Ausbildungspakt ein
voller Erfolg sei. Aktuell soll es nur noch rund 18.000 unversorgte
Bewerber geben. Stimmt diese Lesart?
Die Statistik ist ein Riesenproblem. Ausbildungsreife Jugendliche, die
keinen Ausbildungsplatz ergattert haben und in berufsvorbereitenden
Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems stecken, werden nicht als
unversorgte Bewerber mitgezählt. Würde man das tun, wird klar, dass
mindestens rund 200.000 Ausbildungsplätze fehlen.
Die Unternehmen müssen also deutlich mehr Ausbildungsstellen anbieten?
Ja, nur ein Viertel aller Betriebe bietet überhaupt Ausbildungsplätze an.
Natürlich kann nicht jeder kleine Betrieb ausbilden. Aber man sollte sich
fragen, ob nicht die großen Betriebe wieder über Bedarf ausbilden müssten.
Und es braucht mehr Ausbildungsverbünde, wo Jugendliche in verschiedenen
Betrieben lernen, wenn der einzelne Betrieb zu klein ist. In Ostdeutschland
gibt es diese Verbund- oder überbetriebliche Ausbildung häufig schon.
Brauchen wir eine verpflichtende Ausbildungsplatzabgabe für Betriebe, die
von der Größe her ausbilden könnten, es aber nicht tun?
Bei so einer Abgabe besteht die Gefahr, dass sich die Unternehmen
freikaufen, das sehen wir beispielsweise bei der Verpflichtung, Behinderte
einzustellen oder eine Abgabe zu zahlen. Außerdem muss das Geld dann auch
in die Ausbildung fließen. Dänemark hat beispielsweise eine Art
Ausbildungsplatzabgabe und gibt das Geld an kommunale Verbünde, die
außerbetriebliche Ausbildungen ermöglichen.
Was aber macht man mit den Jugendlichen, die erst einmal keinen
Ausbildungsplatz finden? Bietet diesen Jugendlichen das Übergangssystem
genügend Perspektiven?
Das Übergangssystem beinhaltet ja ganz unterschiedliche Maßnahmen. Rund ein
Drittel der Jugendlichen, die darin stecken, können das Abitur nachholen,
das ist sehr sinnvoll. Viele Jugendliche empfinden aber, dass sie nur
Schleifen drehen.
Können sie sich die Zeit in der Warteschleife denn später anrechnen lassen?
Theoretisch gibt es in einigen Bundesländern die Möglichkeit, dass eine
Maßnahme im Übergangssystem, also beispielsweise das
Berufsgrundbildungsjahr, auf eine spätere Ausbildung angerechnet werden
kann. In der Realität geschieht das kaum. Etliche Jugendliche absolvieren
also ihr erstes Ausbildungsjahr zwei- oder dreimal. Das ist sehr
frustrierend, sie vergeuden ihre Lebenszeit. Und dann gibt es im
Übergangssystem die Schüler ohne Hauptschulabschluss. Denen suggeriert man,
wenn ihr den Abschluss nachholt, wird es besser. Wird es in der Regel aber
nicht.
Wie also sollte man das Übergangssystem reformieren?
Man muss es viel besser mit der Berufsausbildung verzahnen. Die
Jugendlichen brauchen eine Perspektive, wenn man sie schon in
berufsvorbereitende Maßnahmen steckt.
Und wenn sie trotzdem keinen Ausbildungsplatz bekommen?
Auch da könnte man sich am dänischen Modell orientieren. Dort bleiben
Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, auf der
Berufsschule, machen aber auch betriebliche Praktika. Sie bewerben sich
dann jedes Jahr erneut auf einen Ausbildungsplatz. Wenn sie einen bekommen,
steigen sie sofort in das zweite oder dritte Ausbildungsjahr ein. Klappt es
gar nicht, schließen auch diese Jugendlichen ihre Ausbildung ganz normal
ab, eben auf der Berufsschule.
Mit dem Modell werden sie sich unter Gewerkschaften und Arbeitgebern aber
keine Freude machen. Die achten mit Argusaugen darauf, dass die
betriebliche Ausbildung der Standardweg bleibt.
Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen folgt dem Marktprinzip. Und
wenn Betriebe Jugendliche nicht auswählen, dann muss ich mir als Staat und
Gesellschaft überlegen, was passiert mit denen, die nicht ausgewählt
wurden, wie kann ich denen trotzdem zu einer Ausbildung verhelfen.
Das kostet aber.
Ja, sicherlich würden sich die Länder gegen solch eine Idee erst einmal
sträuben, denn sie müssten für die schulische Ausbildung bezahlen. Aber sie
finanzieren andererseits auch schon das Übergangssystem mit, das jedes Jahr
rund 4 Milliarden Euro kostet. Man könnte da viele Gelder sinnvoll
umschichten. Und hier wäre dann auch das Geld aus einer
Ausbildungsplatzabgabe sinnvoll investiert.
Rund 15 Prozent der Jugendlichen, 1,5 Millionen Personen, haben keine
abgeschlossene Berufsausbildung. Die Bundesregierung will diese Zahl
perspektivisch halbieren - hat sie dafür die Weichen richtig gestellt?
Die 1,5 Millionen haben sich aufgestaut, als es einerseits zu wenig
Lehrstellen gab, andererseits die geburtenstarken Jahrgänge auf den
Ausbildungsmarkt drängten. Die Zahl wird sicher zum Teil durch die
demografische Entwicklung, das heißt den Rückgang der Schülerzahlen,
automatisch sinken.
Das Problem erledigt sich also von selber?
Nein. Denn der Anteil der Hauptschüler, die keine Chance haben, eine
Ausbildung zu absolvieren, wird nicht automatisch sinken. Schon weil wir es
in den Schulen mit einer steigenden Migrationspopulation zu tun haben. Die
Schulen sind darauf aber, Stichwort Sprachförderung, nicht eingestellt.
Und sie werden zudem wohl Personal abbauen, wenn die Schülerzahlen sinken.
Die Gefahr besteht. Wir müssen aber gerade in die Schwächsten an der Schule
investieren, in Jugendliche, die sehr früh das Gefühl bekommen, gescheitert
zu sein. Wir brauchen sie als Arbeitskräfte statt als Hartz-IV-Bezieher und
müssen einer zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft vorbeugen. Die
große Frage ist ja auch: Wie lange werden sich die Jugendlichen ihre
perspektivlose Situation einfach so anschauen?
16 Nov 2011
## AUTOREN
Eva Völpel
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