# taz.de -- Kunst in Wittenberge: Im Zeichen der Nähmaschine | |
> Wieder mal ein Grund, nach Wittenberge zu kommen: die Künstlerinnengruppe | |
> Endmoräne denkt mit „Verflixt und zugenäht“ über eine sich leerende | |
> Gegend nach. | |
Bild: Veritas, so hieß die Nähmaschinenmarke, für die Wittenberge weltweit b… | |
Kein Ort in Ostdeutschland wurde nach 1989 so von Westlern überrumpelt wie | |
Wittenberge. Zuerst kamen die Treuhandmanager. Sie legten die 1823 | |
errichtete Ölmühle, in der 500 Menschen arbeiteten, still, und dann die | |
1907 von Isaac Singer gebaute Nähmaschinenfabrik mit 3.200 Beschäftigten. | |
Die denkmalgeschützte Immobilie gehört jetzt einer Bank und steht zum | |
größten Teil leer, lediglich aus dem Verwaltungsgebäude hat man ein | |
Oberstufenzentrum gemacht. Die ehemalige Industriestadt an der Elbe | |
schrumpfte von 30.000 Einwohnern auf 17.500. | |
Daraufhin rückten Journalisten in diese deindustrialisierte shrinking city | |
in Brandenburg ein, denen dann die Wissenschaftler folgten. Von 2007 bis | |
2010 erforschte eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern die Stadt und | |
veröffentlichte zwei Studien. Eine heißt: „Wittenberge ist überall: | |
Überleben in schrumpfenden Regionen“. Die andere: „ÜberLeben im Umbruch. … | |
Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft“. | |
Und nun kam die auf verlassene Orte gewissermaßen spezialisierte | |
Künstlerinnengruppe Endmoräne nach Wittenberge. Auf einer 5.000 | |
Quadratmeter großen Etage im ehemaligen Nähmaschinenwerk hat sie ihre | |
Sommerausstellung „Verflixt und zugenäht. Der Fall Wittenberge. Eine | |
Annäherung“ eingerichtet. | |
Die 24 Künstlerinnen hatten es dabei schwer, mit den Bürgern ins Gespräch | |
zu kommen – weil, so sagte es einer, „die Soziologen sich in der Stadt | |
schlecht benommen“ hätten. Auch der Veritasklub ehemaliger | |
Nähmaschinenwerker, der auf seiner Internetseite beansprucht, „die einzige | |
Institution“ zu sein, „die das verbliebene Erbe des Nähmaschinenwerkes in | |
Wittenberge wissenschaftlich erforscht, bewahrt, pflegt und verwaltet“, | |
hielt sich zurück. Veritas – so hießen die in der Singerfabrik | |
hergestellten Nähmaschinen zu DDR-Zeiten; sie wurden bis nach Sibirien und | |
in die BRD exportiert. | |
Insgesamt sind seit der Wende rund 20.000 Wittenberger ab- und ausgewandert | |
und nur wenige neue zugezogen. Rotraud von der Heides Ausstellungsbeitrag | |
besteht aus der Frage: „Wo sind sie geblieben?“ Ihre Umfrageergebnisse – | |
die Namen der Orte – schrieb sie an eine Wand. Kerstin Baudis ließ zwei | |
Schulklassen die Frage beantworten: „Warum würde ich bleiben?“ Die | |
Antworten („Familie“, „Freunde“, „Kumpel“ …) druckte sie auf rote… | |
die die Schüler anzogen, um damit sowie mit einem Rollkoffer vom | |
modernisierten Bahnhof durch die Stadt in das Nähmaschinenwerk einzuziehen. | |
Ihre Performance ist als Video zu sehen. | |
In einem Nebenraum stellte Annette Munk ein Veritas-Modell aus den | |
siebziger Jahren auf einen Sockel – mit der Inschrift „Ceci n’est pas une | |
Veritas“. Da die Maschinen in der DDR selbst kaum zu bekommen waren, hatte | |
ein Nähmaschinenreparateur ihrer Tante dieses Exemplar einst „mit Herzblut“ | |
aus Ersatzteilen zusammengebaut, ein Unikat, das dann die Mutter der | |
Künstlerin erbte. | |
## Die goldene Nähmaschine | |
Auf dem Boden der Halle hat Gisela Genthner ihre Arbeit ausgebreitet. Die | |
besteht aus zwei Nähmaschinen, die sie in ihre Einzelteile zerlegt hat – | |
die eine Veritas ist aus den sechziger Jahren, die andere aus den | |
Siebzigern und heißt so, wie sie auch etwa vom Versandhaus Quelle verkauft | |
wurde: Privileg. Monika Funke Stern hat dazu eine Pyramide aus | |
Versandkartons aufgestapelt. In der Mitte der Halle hat Dorothea Neumann, | |
die Vorsitzende des Endmoräne-Vereins, eine große goldene Nähmaschine als | |
Denkmal aufgestellt. | |
Imke Freiberg ging der Herkunft des Wortes „Veritas“ – lateinisch für | |
„Wahrheit“ – nach: Es war Prometheus, der „Vorausdenkende“, der diese | |
Göttin aus Ton formte und belebte. In ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung | |
nahm die Kunsthistorikerin Dorothée Bauerle-Willert darauf Bezug. Für sie | |
war die Nähmaschine ein weibliches Instrument. Dem widersprach später der | |
Nähmaschinenkunstsammler Hansdieter Erbsmehl. Er war als Besucher aus | |
Berlin angereist: Lautréamonts dichterisches Bild von der „zufälligen | |
Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ | |
machte laut Erbsmehl die Maschine für die Surrealisten zu einer Metapher | |
für den Geschlechtsverkehr. Franz Kafka entwickelte daraus ein | |
Folterinstrument. | |
Wir kennen heute Bilder von (gefolterten) Näherinnen, die etwa in China zu | |
Tausenden an Nähmaschinen sitzen, um für Westkonzerne Kleider herzustellen, | |
aber es gibt daneben – in Afrika zum Beispiel – ebenso viele Männer, die | |
mit Nähmaschinen arbeiten. Erbsmehl hatte, nebenbei bemerkt, einmal in | |
einem Hörspiel Maschinen des größten Kindernähmaschinenherstellers der | |
Welt, F. W. Müller, die bis 1979 in Kreuzberg produziert wurden, | |
„auftreten“ lassen. | |
Der Verwaltungsbeauftragte für die Veritas-Immobilie, Wolfgang von Hagen, | |
erwähnte in seiner Einführungsrede, dass das Werk das erste in Europa war, | |
das in Stahlbeton gebaut wurde. Auf dem Gelände befindet sich ein | |
Wasserturm mit einer großen Uhr, die die Werktätigen zur Pünktlichkeit | |
ermahnte. Sie geht noch heute, im Turm befindet sich nun ein | |
Nähmaschinenmuseum. | |
Die gewaltsame Devitalisierung der DDR-Industrie hat sinnigerweise die Elbe | |
revitalisiert: Kleine und große Fische springen aus dem Wasser, Seeadler | |
und Möwen kreisen über dem Fluss, an den Stränden brüten Wildgänse, unter | |
den Dächern der Ufercafés und den Schiffsanlegern nisten Schwalben und | |
Mauersegler. Überhaupt ist Wittenberge wegen des großen Leerstands ein | |
Anziehungspunkt für allerlei Vögel geworden, im Nähmaschinenwerk und in der | |
Ölmühle haben sich Spatzen und Tauben angesiedelt. Dadurch ist der Ort für | |
bird watcher interessant geworden. Als Nächstes wird die Stadt also wohl | |
von Naturwissenschaftlern heimgesucht werden. | |
■ „Verflixt und zugenäht“ im ehemaligen Nähmaschinenwerk Wittenberge, B… | |
Wilsnacker Straße 48. Bis 13. Juli, Sa./So. | |
13–18 Uhr. Information zu dem | |
Projekt: [1][www.endmoraene.de] | |
5 Jul 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.endmoraene.de | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Fabrik | |
zeitgenössische Kunst | |
Kreuzberg | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kunstausflug nach Eberswalde: Und alle machen sie Fotos | |
Eine leerstehende Papierfabrik in Eberswalde und eine Gruppe Künstlerinnen: | |
Wie sich Kunst und Vergangenheit begegnen. | |
Kolumne Wirtschaftsweisen: Neuerfindungen am laufenden Band | |
Alles Mögliche muss sich derzeit „neu erfinden“ - auch Kreuzberg, in dem | |
nicht nur der Computer, sondern auch die Selfies und Shelfies das Licht der | |
Welt erblickten. | |
Ausstellungsprojekt Rohkunstbau: Landpartie mit Revolution | |
Raus aufs Land zur „Revolution“: Das Umsturzthema ist diesjähriges | |
Leitmotiv der Rohkunstbau-Schau im Schloss Roskow. | |
Schrumpfende Städte in Ostdeutschland: "Wir sind nutzlos, überflüssig" | |
Soziologen untersuchten drei Jahre lang die schrumpfende Stadt Wittenberge | |
in Brandenburg. Ein Gespräch mit Andreas Willisch über den Glauben an die | |
Arbeit. | |
Was Sie über Sachsen-Anhalt wissen sollten: Im Land der Frühaufsteher | |
Sachsen-Anhalt ist ein künstliches Gebilde ohne eigene Identität, ein | |
schrumpfendes Land mit verlassenen Straßen. Aber es gibt vor der Wahl auch | |
Erfolgsgeschichten. |