| # taz.de -- Folgen aus dem Silikon-Skandal: Qualitätssiegel mit Risikofaktor | |
| > Ob Hüftprothesen, künstliche Kniegelenke oder Silikoneinlagen: | |
| > Medizinprodukte brauchen keine staatliche Zulassung. Nach dem Skandal | |
| > schweigen die Verantwortlichen. | |
| Bild: Einst geschaffen für den schönen Schein, jetzt nur noch ein Haufen schl… | |
| Die Patientin, die Petra Berger am Freitag vorletzter Woche operierte, war | |
| mit entzündeten Brüsten in ihre Praxis für plastische und ästhetische | |
| Chirurgie in Frankfurt am Main gekommen. | |
| Und mit einem Verdacht, der sich unterm Ultraschall bestätigte: Ihre | |
| starken Schmerzen in beiden Brüsten rührten von defekten | |
| Silikon-Brustimplantaten der französischen Firma PIP (Poly Implant | |
| Prothèse), die sich die Patientin vor einigen Jahren in einer Klinik in | |
| Deutschland im Rahmen einer Schönheitsoperation hatte einsetzen lassen. | |
| "Das Implantat in der einen Brust war rupturiert, hatte also Risse", | |
| berichtet die Ärztin, "aus dem anderen war Silikon ausgetreten." In einer | |
| Brust entdeckte Berger zudem einen Knoten, den sie herausgeschnitten und in | |
| die Pathologie eingeschickt habe. Auch die Lymphknoten seien verdickt | |
| gewesen. Untersuchungsergebnisse lägen noch nicht vor. Sie gehe aber davon | |
| aus, sagt die Ärztin, dass es sich nicht um einen Tumor handele, sondern um | |
| ausgelaufenes Silikon, das der Körper sodann eingekapselt habe. | |
| Der Skandal um defekte und in betrügerischer Absicht gefertigte | |
| Billigsilikon-Brustimplantate der Firma PIP erreicht nach Frankreich und | |
| Großbritannien jetzt auch Deutschland - wenngleich das Ausmaß des Schadens | |
| nach derzeitigem Kenntnisstand geringer ist als in den europäischen | |
| Nachbarländern. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte | |
| (BfArM) in Bonn, der deutschen Aufsichtsbehörde, die dem | |
| Bundesgesundheitsministerium unterstellt ist, sind bislang 19 Fälle mit | |
| Rissbildungen bekannt. | |
| ## Deutsches Meldewesen arbeitet zeitverzögert | |
| Allerdings arbeitet das deutsche Meldewesen aufgrund seiner föderalen | |
| Strukturen gemeinhin zeitverzögert, sodass davon auszugehen ist, dass die | |
| tatsächliche Zahl höher ist. Petra Berger etwa hatte den Fall ihrer | |
| Patientin fünf Tage nach der Operation zwar der taz, aber noch nicht den | |
| Behörden gemeldet. Weder die Behörden noch Ärzte in Deutschland, Frankreich | |
| und Großbritannien haben derzeit Nachweise für einen ursächlichen | |
| Zusammenhang zwischen defekten PIP-Implantaten und etwaigen | |
| Krebserkrankungen. | |
| Weswegen das BfArm die Empfehlung, die es am Nachmittag des 23. Dezember | |
| auf seiner Homepage veröffentlichte, als "vorbeugende Sicherheitsmaßnahme" | |
| verstanden wissen möchte. Danach sollten Patientinnen mit | |
| PIP-Brustimplantaten "wegen des Risikos möglicher Rissbildungen in jedem | |
| Fall ihren implantierenden Arzt oder ihre Klinik aufzusuchen". Ziel sei | |
| eine "individuelle Risikoabwägung". Und: "Im nachgewiesenen Fall einer | |
| Beschädigung bzw. Rissbildung ist grundsätzlich eine Explantation zu | |
| empfehlen, um weitergehende Gesundheitsgefahren zu vermeiden." | |
| ## Kosten im Zweifel selbst tragen | |
| Eine "pauschale Empfehlung" an alle Patientinnen, PIP-Brustimplantate | |
| grundsätzlich und präventiv entfernen zu lassen, wie sie der französische | |
| Gesundheitsminister am vorigen Freitag abgab, mögen in Deutschland derzeit | |
| weder das BfArM noch der Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) | |
| aussprechen. | |
| Was nach Besonnenheit seitens der Behörden und dem Verzicht auf jegliche | |
| Panikmache klingen soll, bedeutet für Frauen, die die PIP-Implantate jetzt | |
| einfach nur noch aus ihren Brüsten weghaben wollen, dass sie im Zweifel die | |
| Kosten für die Entnahmeoperation und den Ersatz durch intakte Implantate | |
| komplett oder zumindest in Teilen selbst tragen müssen. Die französische | |
| Firma PIP, die für ihr Produkt haften und auch Schmerzensgeld und | |
| Schadenersatz zahlen müsste, ging 2010 in Konkurs. | |
| Ihr Exchef Jean-Claude Mas, 72, ist untergetaucht und wird inzwischen von | |
| Interpol gesucht. Einen Rechtsnachfolger gibt es nicht. Bleiben die | |
| gesetzlichen Krankenkassen. Sie aber kommen nur sehr bedingt für | |
| medizinische Folgekosten für privat finanzierte Schönheitsoperationen auf, | |
| Eingriffen also, die ursprünglich ausschließlich aus ästhetischen Gründen | |
| erfolgten. | |
| Zwar beteuern die Kassen selbstverständlich zunächst, sämtliche | |
| Untersuchungen zu bezahlen, die notwendig sind, um herauszufinden, ob das | |
| Implantat defekt ist. Auch übernehmen sie die Herausnahme der defekten | |
| Implantate unter Vollnarkose - dann jedenfalls, wenn hierfür eine | |
| "medizinische Notwendigkeit" vorliegt. Anschließend jedoch beteiligen die | |
| Kassen die Patientinnen "in angemessener Höhe" an diesen Untersuchungs- und | |
| Explantationskosten. Für ein neues Implantat aus ästhetischen Gründen | |
| zahlen sie generell nicht. | |
| ## "Schönheitsoperationen sind Privatvergnügen" | |
| Wie viel Prozent der Untersuchungs- und OP-Kosten im Fall der | |
| PIP-Geschädigten "angemessen" sind und ob eine ärztliche Empfehlung zur | |
| rein präventiven Explantation als medizinische Notwendigkeit von den Kassen | |
| anerkannt wird, vermochte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen | |
| bis Redaktionsschluss nicht zu sagen. Nur so viel: "Schönheitsoperationen | |
| sind in der Regel Privatvergnügen und kein Fall für die | |
| Solidargemeinschaft." | |
| Selbst dann nicht, wenn der Vorwurf an die Frauen, mit der Schönheits-OP | |
| ein allein zu verantwortendes Risiko in Kauf genommen zu haben, eindeutig | |
| widerlegt ist? Immerhin besaßen die - in betrügerischer Absicht mit | |
| Billigsilikon gefüllten - PIP-Implantate das europäische | |
| CE-Sicherheitssiegel, auf das Ärzte wie Patientinnen sich verlassen | |
| mussten. | |
| Denn das Siegel ist europaweit der einzig existierende vermeintliche | |
| Qualitätsnachweis, ein Nachweis freilich, der vergleichsweise mühelos zu | |
| erwerben ist: Im Gegensatz zu Arzneimitteln gibt es in Europa für | |
| Medizinprodukte wie künstliche Hüftgelenke, Knie- oder Wirbelprothesen | |
| keinerlei staatliche Zulassung, kritisiert Deutschlands oberster | |
| Medizinprüfer Jürgen Windeler. Die Hersteller müssen nur nachweisen, dass | |
| ihre Produkte technisch in der Lage sind, das zu erreichen, was sie | |
| versprechen, und das auch nur anhand ihrer eigenen Studien. Die | |
| CE-Kennzeichnung erhalten die Hersteller von privaten Prüfinstituten, die | |
| sie selbst beauftragen. | |
| Der Patientenschutzbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU), | |
| schweigt. Eine Bitte um Stellungnahme seitens der taz ist seit sechs Tagen | |
| unbeantwortet. Die Verbraucherzentrale Bundesverband, Dachorganisation | |
| sämtlicher Verbraucherzentralen der Länder, empfiehlt, die Frage doch bitte | |
| einzeln an die 16 Landesmitglieder zu richten. | |
| Die Bundeszentrale ihrerseits beantworte ausschließlich | |
| "gesundheitspolitische" Fragen. Die Unabhängige Patientenberatung | |
| Deutschland (UPD), sonst eine verlässliche Institution, wenn es um | |
| engagierte Worte zur Verteidigung von Patienteninteressen geht, befindet | |
| kühl: "Irgendwo ist auch mal Schluss." Niemand, sagt ihr Sprecher Rainer | |
| Sbrzesny, habe die Frauen schließlich gezwungen, sich ihren Busen | |
| vergrößern zu lassen. | |
| ## Zu viel Scham für eine Klage | |
| Es sei dieses gesellschaftliche Klima, sagt Kerstin van Ark von der | |
| Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen | |
| Chirurgen, das dazu beitrage, dass die betroffenen Frauen in Deutschland, | |
| anders als etwa in Frankreich, bislang nicht auf die Barrikaden gingen. | |
| "Die Scham ist groß, gerade nach Schönheitsoperationen, für die die Frauen | |
| oft jahrelang gespart haben und über die sie ohnehin nicht gern sprechen", | |
| weiß der Berliner Medizinrechtler Jörg Heynemann, der bundesweit zahlreiche | |
| durch fehlerhafte Medizinprodukte Geschädigte vertritt. | |
| So groß, dass viele Frauen hierzulande erst gar nicht versuchen, ihre | |
| Rechte einzuklagen, sondern beinahe dankbar Angebote wie das der | |
| Frankfurter Chirurgin Petra Berger akzeptieren: Berger untersucht und | |
| operiert derzeit ihre eigenen Patientinnen, denen sie einst PIP-Implantate | |
| eingesetzt hat, kostenlos. Unabhängig davon, ob die Implantate bereits | |
| Risse zeigen oder nicht. | |
| "Lediglich" die Kosten für den Narkosearzt, 450 bis 700 Euro, sowie die | |
| Kosten für die neuen Implantate, je nach Hersteller 400 bis 750 Euro pro | |
| Brust, müssten die Patientinnen selbst bezahlen, sagt sie. Fremden | |
| Patientinnen berechnet Berger dagegen für die Herausnahme der | |
| PIP-Implantate 1.800 Euro, zuzüglich Narkose- und Ersatzimplantatkosten. | |
| Ein "fairer Preis", findet die Ärztin. Normalerweise koste eine | |
| Brustvergrößerung zwischen 6.000 und 7.000 Euro. | |
| Unterdessen bestätigten die beiden in Europa führenden | |
| Brustimplantate-Produzenten, Eurosilicone und Nagor, der taz, den deutschen | |
| PIP-Geschädigten auf Wunsch ab sofort kostenlose Ersatzimplantate zur | |
| Verfügung zu stellen, allerdings nur dann, wenn die PIP-Implantate | |
| nachweislich Risse zeigten. "Das Ganze wirft doch auf die gesamte Branche | |
| ein schlechtes Licht", begründet Frank Menke, Ansprechpartner für | |
| Eurosilicone und Nagor in Deutschland, die Entscheidung der Unternehmen. | |
| Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, | |
| Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen, Peter Vogt, wünscht sich | |
| plötzlich strengere Zulassungskriterien für Medizinprodukte: "Es ist | |
| unverständlich, warum eine Zulassung aufgrund von Studien möglich ist, die | |
| der Hersteller selbst veranlasst und durchgeführt hat - und das auch noch | |
| in ganz Europa." Er werde sich, droht Vogt, in dieser Sache an den | |
| Bundesgesundheitsminister wenden. Der schweigt. | |
| 26 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| ## TAGS | |
| Gesundheitspolitik | |
| Patientenrechte | |
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