# taz.de -- Kommentar Gauck: Gauck und der Holocaust | |
> Was der künftige Bundespräsident wirklich gesagt und was er gemeint hat. | |
> Und wie er den Holocaust verharmlost. Eine Antwort auf die Kritik an der | |
> Gauck-Kritik. | |
Bild: Holocaust? Ja, aber bloß nicht überhöhen, meint Joachim Gauck. | |
Er lehne das Internet ab, hat Flaubert einmal gesagt, weil es nur noch mehr | |
Leuten erlaube, zusammenzukommen, um zusammen dumm zu sein. Okay, Flaubert | |
hat das über etwas anderes, nämlich über die Eisenbahn gesagt. Aber wer um | |
die Mechanismen von Onlinedebatten weiß, wird nicht völlig bestreiten, dass | |
man diesen Befund aufs Internet übertragen kann. Dem zustimmen dürften auch | |
die Beteiligten der Diskussion um tatsächliche oder vermeintliche Aussagen | |
von Joachim Gauck. | |
Einer dieser Beteiligten ist Sascha Lobo, der mir auf Spiegel-Online | |
[1][vorgeworfen] hat, ich hätte in meiner [2][Kolumne] auf "unredliche | |
Weise" ein Zitat von Gauck aus dem Zusammenhang gerissen und die | |
eigentliche Aussage ins Gegenteil verkehrt. [3][Andernorts] schrumpft diese | |
– an mich oder andere gerichtete – Kritik zu der Floskel, mit der sich noch | |
jeder, der bei irgendeiner unglücklichen Bemerkung ertappt wurde, aus der | |
Affäre zu ziehen versucht hat: "Das Zitat ist aus dem Zusammenhang | |
gerissen!" | |
Da der kleine Disput zwischen Lobo und mir pars pro toto für die ganze | |
[4][Debatte] steht, sei anhand dieses Beispiels und anhand eines besonders | |
heiklen Themas – der Einordnung des Holocausts – eine ausführliche Replik | |
gestattet. | |
Nun, und das vorneweg, ein Zitat ist immer aus dem Kontext gerissen. | |
Entscheidend ist allein, ob es sinnentstellend wiedergegeben wird. Im Netz | |
werden Zitate oft entstellt und Journalisten tragen das Ihrige dazu bei – | |
mit dieser sensationellen Beobachtung hat Lobo natürlich recht und gewiss | |
ist er selbst noch nie einem Twittergerücht aufgesessen. | |
## Text und Kontext | |
Zum Kontext eines Zitates aber gehört mehr als nur die Sätze, die ihm | |
vorangehen oder nachfolgen; das unterscheidet einen Text ja von einer | |
Büchse Ölsardinen. Und einen Text zu kontextualisieren bedeutet, ihn zu | |
deuten: Wer sagt was in welcher Form an welcher Stelle zu welchem Zweck zu | |
welchen Leuten, die ihn wie verstehen können oder sollen? | |
Doch bevor ich darauf zurückkomme, will ich Sascha Lobo einen Gefallen tun, | |
extrem hohe [5][Online-Kompetenz] zeigen und die fragliche Passage – sie | |
stammt aus einem [6][Vortrag,] den Gauck im März 2006 vor der | |
Robert-Bosch-Stiftung gehalten hat – so ausführlich wie möglich zitieren: | |
"Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das | |
geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine | |
Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse | |
entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser | |
Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des | |
Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – | |
Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter | |
erschauern lässt. | |
Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen | |
weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung | |
verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne | |
litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen | |
negativen Tiefpunkt (…) Würde der Holocaust aber in einer unheiligen | |
Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom | |
Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu | |
analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen." | |
Wenn Gauck wirklich nur, wie Lobo glaubt, damit "meinte, dass es gefährlich | |
sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen | |
und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten | |
müsse", an wen richtete Gauck dann diesen Appell? Wer, außer ein paar Nazis | |
und Islamisten, hätte da widersprochen? | |
Und selbst wenn er das gemeint hat, warum hat er es nicht so gesagt? Eine | |
wohlwollende Antwort: Dieser Appell kam ihm intellektuell zu dürftig vor, | |
weshalb er das Ganze etwas aufpeppen wollte – so wie manch einer "das | |
Wetter ist von Regen geprägt" sagt, weil das bedeutungsvoller klingt als | |
ein schlichtes "Es regnet". | |
## Verklemmter Dirty Talk | |
Doch wieso landet Gauck dann ausgerechnet bei der Formulierung von der | |
Überhöhung des Holocausts? Weil er genau das will. Weil er genau diese, in | |
Deutschland so beliebte Form des Tabubruchs bedienen will: das Prinzip des | |
schmierig-verklemmten dirty talks. Mit demselben Trick ist – wenngleich in | |
einem eher harmlosen Zusammenhang – ein anderer Wendehals [7][berühmt] | |
geworden: Jeder weiß, wo genau der Erwin die Heidi anfasst und was sich auf | |
"Schritten" reimt, man muss es nicht eigens sagen. | |
Dieser Trick funktioniert auch in politischen Diskussionen: Ich werfe einen | |
Begriff in den Raum, um ihn hernach verdruckst zurückzunehmen. Aber das | |
Wort, auf das es ankommt, ist ausgesprochen oder angedeutet, auf jeden Fall | |
gesagt und beim Publikum angekommen. Der Rest ist Kopfkino. | |
Doch Gauck hat noch mehr zu bieten. Der Holocaust, meint er, ist eine | |
Ersatzreligion der Gottlosen. Damit stellt er sich in die Tradition von | |
Leuten, die ein Leben und Denken ohne Gott für unvorstellbar halten und den | |
Nationalsozialismus gerne für ein Produkt der Gottlosigkeit [8][halten,] | |
anstatt darin auch das in Ideologie wie Praxis modernisierte und | |
radikalisierte Ergebnis des christlichen Antijudaismus zu erkennen: "Wenn | |
der Zweckrationalität der jeweiligen Macht keine moralischen Gegenkräfte | |
entgegenstehen, die das Zivilisatorische an der Zivilisation schützen, ist | |
eine Gefahr in Verzug, die zu Katastrophen wie den Holocaust führen kann." | |
Unbestreitbar ist der Holocaust ein Produkt der Moderne. Um ihn aber als | |
beispiellosen – und nur bis zu einem gewissen Punkt rational erklärbaren – | |
Zivilisationsbruch zu erkennen, bedarf es jedoch ebenfalls der | |
erkenntnistheoretischen Instrumentarien der Aufklärung. Gauck macht das | |
Gegenteil: Er projiziert, wie Clemens Heni zutreffend [9][schreibt,] "seine | |
Religiosität auf diejenigen, welche den Holocaust überhaupt als | |
spezifisches, präzedenzloses Menschheitsverbrechen erinnern". | |
Dabei ist die Rede von der "Ersatzreligion Auschwitz" weder sonderlich | |
deutsch noch sonderlich klerikal. Immer aber ist sie, ob im Munde eines | |
Neuen Rechten, Linken oder sonst wem, Ausdruck eines Antisemitismus der | |
nicht trotz, sondern wegen Auschwitz argumentiert. Oft in Form des an Juden | |
oder Israelis gerichteten Vorwurfs, aus Auschwitz Profit zu schlagen; bei | |
Gauck als unterstellter "psychischer Gewinn". | |
Aber indem er von einer "Überhöhung" des Holocausts zu einem | |
quasireligiösen Akt spricht, spricht er der Shoah die Singularität als | |
ebenso wahnhaften wie systematischen Massenmord an Millionen Juden ab. | |
Einfach ausgedrückt lautet sein Gedankengang: Ja, es gab den Holocaust, wir | |
wollen ihn nicht vergessen, aber bitteschön nicht übertreiben und die | |
Kirche im mecklenburgischen Dorf lassen. | |
Dieses Bedürfnis nach Schuldabwehr hat Gauck schon etliche Male | |
demonstriert, allen voran mit seiner permanenten Gleichsetzung von | |
Nationalsozialismus und Kommunismus, autoritäre Regimes wie das der DDR | |
eingeschlossen. | |
"Wer", so [10][schreibt] er im Nachwort zur deutschen Ausgabe des | |
"Schwarzbuchs des Kommunismus", nachdem er auf die Unterscheide in der | |
Ideologie und den Staatsformen hingewiesen hat, "die konkrete | |
Herrschaftstechnik vergleicht, die dienstbare Rolle des Rechts und den | |
permanenten Einsatz von Terror, der findet genauso Ähnlichkeiten wie bei | |
der Untersuchung der Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die | |
Bürger." | |
## Nazis und Stalinos | |
Doch der Nationalsozialismus hat nicht nur – so wie der sowjetische | |
Stalinismus oder der italienische Faschismus – Oppositionelle drangsaliert | |
und ermordet. Das Besondere war, dass er einen Teil seiner Bürger (und | |
später einen Teil der Unterworfenen in den besetzten Gebieten) aller | |
Bürger- und Menschenrechte beraubte, ehe er sie industriell ermordete. | |
Zwischen 1933 und 1945 entsolidarisierten sich die meisten deutschen Bürger | |
von ihren jüdischen Nachbarn, untereinander aber kuschelten sie sich zur | |
Volksgemeinschaft zusammen. | |
All das macht Gauck noch nicht zum Antisemiten, und gewiss wird er keiner | |
sein wollen. In der Sache aber betreibt er eine Verharmlosung des | |
Holocausts. | |
So außergewöhnlich ist seine Sicht auf die Dinge freilich nicht, sie bewegt | |
sich auf Höhe des relativistischen Diskurses, wie er bis in die frühen | |
neunziger Jahre unter westdeutschen Konservativen vorherrschte ("der Ivan | |
ist genauso schlimm"); ergänzt um eine spezifische, ostdeutsche Sicht ("wir | |
hatten es auch ganz schlimm") und um eine pfäffische Note ("sowas kommt von | |
sowas"). | |
Kurz: Es ist ein reaktionärer [11][Stinkstiefel,] der demnächst | |
Bundespräsident dieses Landes werden wird. Aber er ist sicher [12][nicht] | |
der erste und wird vermutlich nicht der letzte bleiben. | |
Update: [13][Die Debatte geht weiter.] | |
22 Feb 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,816601,00.html | |
[2] /Kolumne-Besser/!88071/ | |
[3] /Debatte-Gauck/!88217/ | |
[4] http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittene-aeusserungen-ueber-occupy-un… | |
[5] http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,816601,00.html | |
[6] http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_G… | |
[7] http://www.youtube.com/watch?v=MC_bFoH4CfA | |
[8] http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_G… | |
[9] http://clemensheni.net/2012/02/20/ein-politisch-kultureller-super-gauck-ant… | |
[10] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7893552.html | |
[11] /Kolumne-Besser/!88071/ | |
[12] /Blamable-Bundespraesidenten-/!87006/ | |
[13] /Trittin-beschimpft-taz/!88405/ | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
## TAGS | |
Joachim Gauck | |
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