# taz.de -- Kommentar Gauck und Totalitarismus: Pathos statt Analyse | |
> Im "Schwarzbuch des Kommunismus" fordert Joachim Gauck undifferenziert, | |
> den Kommunismus als ebenso totalitär einzustufen wie den | |
> Nationalsozialismus. | |
Bild: Gauck hat Probleme mit dem Totalitarismus. | |
Der künftige Bundespräsident Joachim Gauck stützt sich in vielen | |
Einlassungen auf die sogenannte Totalitarismustheorie, hat immer wieder | |
einen "antitotalitären Konsens" gefordert und im Jahre 2008 die "Prager | |
Erklärung" unterschrieben. | |
Die "Prague Declaration on European Conscience and Communism", | |
unterzeichnet von unbestreitbaren Demokraten wie Vaclav Havel, aber leider | |
auch von rechtsradikalen Politikern aus dem Baltikum, zielte im ersten | |
Artikel auf die Einsicht, dass beide, das NS-Regime wie kommunistische | |
Regime, mit ihren mörderischen Kriegen und Ausrottungsmaßnahmen sowie der | |
Verletzung von Bürger- und Menschenrechten das Hauptunglück des 20. | |
Jahrhunderts gewesen seien. Abschließend fordert die Erklärung ein | |
gemeinsames öffentliches Gedenken an den Fall der Berliner Mauer, das | |
Massaker auf dem Tiananmenplatz sowie an nicht näher bezeichnete Mordtaten | |
in Rumänien. | |
Die Problematik all dessen liegt keinesfalls in der moralischen | |
Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus, die nach Timothy | |
Snyders sorgfältig recherchierter Studie "Bloodlands" nicht mehr zu | |
bestreiten ist. Sondern in der ungenauen Fassung des Begriffs "Communism", | |
der sämtliche Regime des Ostblocks vor 1989 umfasst und sie damit alle zu | |
Fällen von Totalitarismus erklärt. | |
Schon 1998 hat Gauck im "Schwarzbuch des Kommunismus" über die DDR | |
geschrieben, man habe dort in den letzten Jahren vor 1989 einen Kommunismus | |
erlebt, "der nicht mehr mordete und folterte. Dankbare Zeitgenossen haben | |
deshalb allerlei euphemistische Bezeichnungen für die Ära ersonnen. Eine | |
nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem | |
Urteil gelangen, das diesen Kommunismus als ebenso totalitär einstuft wie | |
den Nationalsozialismus." | |
Eine wirkliche Meisterin des politischen Urteils, auf die sich Gauck auch | |
in diesem Beitrag immer wieder bezieht, war Hannah Arendt. Ihr lag alles an | |
theoretisch belehrter Urteilskraft; ebendiese Urteilskraft aber wird durch | |
persönliche Betroffenheit verständlicherweise beeinträchtigt. So auch in | |
Gaucks Einschätzung der letzten Jahre der DDR. | |
## Schludrige Gleichsetzung | |
Denn was die Beurteilung der Sowjetunion und ihrer Satelliten, damit auch | |
der DDR, nach Stalins Tod betraf, war Arendt deutlich anderer Meinung als | |
die Autoren der "Prager Erklärung". Im 1966 erschienen Vorwort zu ihrer | |
Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" schreibt sie: "Ich | |
erwähnte bereits den Abbau totaler Herrschaft, der nach Stalins Tod | |
einsetzte. […] Dass man die Sowjetunion im strengen Sinn des Wortes nicht | |
mehr totalitär nennen kann, zeigt natürlich am deutlichsten das | |
erstaunliche und üppige Wiederaufblühen der Künste in den letzten zehn | |
Jahren." | |
Freilich wird Arendt in ihrer unbestechlichen Genauigkeit noch deutlicher, | |
und ihr damaliges Urteil sollte eine Warnung vor jeder undifferenzierten | |
Verwendung des Begriffs der "totalen Herrschaft" sein, vor allem aber vor | |
der schludrigen Gleichsetzung des despotischen Polizei- und Sozialstaats | |
DDR mit dem Stalinismus. | |
Müsse man doch - so Arendt im Blick auf die UdSSR - feststellen, "dass die | |
totale Herrschaft, die furchtbarste aller modernen Regierungsformen […] mit | |
dem Tode Stalins in Russland nicht weniger ihr Ende gefunden hat als in | |
Deutschland mit dem Tode Hitlers". Dass aber dieser Stalinismus | |
ausgerechnet in der DDR auch noch Stalins Tod überdauert haben soll, wird | |
kaum jemand behaupten wollen. | |
Nun muss man Arendt, die nur zu gut wusste, warum sie an anderer Stelle | |
über das Versagen von Intellektuellen nachdachte, keineswegs in allem recht | |
geben. Gleichwohl: So unerlässlich es ist, dass Europa zu einer gemeinsamen | |
Kultur des Gedenkens an die Schrecken und Verbrechen des 20. Jahrhunderts | |
findet, so notwendig sind differenzierte Betrachtungen. | |
Das gilt sowohl für die Verlogenheit der autoritären | |
nachnationalsozialistischen Bundesrepublik als auch für den hilflosen | |
Antifaschismus der ostdeutschen Parteidiktatur. Sowenig die Bundesrepublik | |
ein faschistischer, so wenig war die DDR nach 1953, auf jeden Fall nach | |
1961, ein stalinistischer Staat. Gerade einer künftigen europäischen | |
Gedenkkultur wegen ist es höchste Zeit, dass an die Stelle jedweden Pathos | |
nüchterne Analyse tritt. Das lehrt Hannah Arendt. | |
24 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
Micha Brumlik | |
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Opfer | |
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