# taz.de -- Das Krisenmanagement der Atomindustrie: Frau Hashimoto erzählt ein… | |
> Atomreaktoren erzeugen vor allem Geld. Die Börse meldet: „Tokio heiter“. | |
> Wie sich das alles für eine ganz normale japanische Bürgerin anfühlt, | |
> erzählt Frau Hashimoto. | |
Bild: Umfang und Ausmaß der Katastrophe des havarierten Atomkraftwerks in Fuku… | |
Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Atomreaktoren vor allem eins | |
erzeugen, nämlich Geld. Energie ist nur ein Nebenprodukt. Der Nutznießer, | |
die Atomindustrie, ist ein weltweit operierendes totalitäres Finanz- und | |
Machtkartell, das sich bei der Durchsetzung seiner Interessen von nichts | |
und niemandem aufhalten lässt. Die Atomindustrie ist verflochten mit den | |
Weltkonzernen und steuert Regierungen, Organisationen, Wissenschaft und | |
Massenmedien beim Vorantreiben ihrer Multimilliardengeschäfte. Die | |
radioaktiven Spuren dieser Geschäfte hinterlässt sie auf dem gesamten | |
Erdball. In allen Lebewesen, in Boden, Wasser, Luft. | |
So, wie sie alles andere managt, managt sie auch eine nukleare Katastrophe. | |
Seit am 11. März 2011, nach Erdbeben und Tsunami, im japanischen AKW | |
Fukushima die Kernschmelze eintrat, Brände ausbrachen, Reaktoren | |
explodierten und der größte Super-GAU in der Menschheitsgeschichte seinen | |
Lauf nahm, werden die Bürger Japans und die Weltöffentlichkeit systematisch | |
im Unklaren gehalten. Umfang und Ausmaß der Katastrophe werden | |
bagatellisiert, die Bevölkerung wird ihr ungeschützt preisgegeben. Gäbe es | |
nicht mutige Experten, wir wüssten bis heute nicht, dass die Explosion des | |
Reaktors 3 (am 14. März ) mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Kernexplosion | |
war, mit Freisetzung auch von Plutonium. (Block 3 war mit den sogenannten | |
MOX-Brennelementen bestückt, die besonders gefährlich sind durch ihre | |
nanopartikelgroß zermahlene plutoniumhaltige Füllung.) Und wir wüssten auch | |
nicht, dass die eigentliche Katastrophe erst noch bevorsteht. Sie tritt | |
dann ein, wenn in der baufälligen Ruine von Reaktorblock 4 das offen | |
liegende Abklingbecken vom 5. Stockwerk hinab in die Tiefe stürzt. Es ist | |
nicht nur dicht gefüllt mit abgebrannten Kernbrennstäben, drinnen liegt | |
auch der für Wartungsarbeiten ausgelagerte Reaktorkern. | |
Die Lage ist außer Kontrolle, es herrscht längst Ausnahmezustand. Aber | |
nicht Militär und Polizei marschieren auf, um Panik und Gewaltausbrüche | |
einzudämmen, sondern eine medial inszenierte, narkotisierende Normalität. | |
Sie wurde über das ganze Land verhängt. Sie sorgt für Ruhe, öffentliche | |
Sicherheit und Ordnung. Die Börse meldet: „Tokio heiter“. | |
Wie sich das alles für eine ganz normale japanische Bürgerin anfühlt, | |
erzählt Frau Hashimoto. Ich lernte sie durch Vermittlung von Sebastian | |
Pflugbeil kennen und schlug ihr einen Mail-Briefwechsel vor, angesichts des | |
ersten Jahrestages. Hier Auszüge aus ihren Briefen. | |
Sonntag, 19. Februar 2012, | |
5.42 Uhr. Aus Japan | |
Liebe Frau Goettle, | |
vielen herzlichen Dank für Ihre Mail vom 17. Februar. Selbstverständlich | |
bin ich gerne bereit für Ihre Fragen und den Briefwechsel. Dann könnte ich | |
vielleicht anfangen in der Art eines Tagebuches? | |
Aufgewachsen bin ich in Tokio, dort habe ich nach der Schule Germanistik | |
studiert. Ich habe eine ältere Schwester, sie ist Klavierlehrerin. Heute, | |
2012, bin ich 54 Jahre alt. In den 80er Jahren habe ich für 2 Jahre in | |
Freiburg gelebt. Es war eine sehr schöne Zeit für mich. | |
15 Jahre wohnte ich mit meiner Familie – meinem Mann, er ist 55 Jahre, und | |
meiner inzwischen 14-jährigen Tochter – in der Präfektur Fukushima, in der | |
Kleinstadt Miharu, etwa 50 Kilometer entfernt vom AKW Fukushima Daiichi. | |
Die Präfektur Fukushima, mit etwa 2 Millionen Einwohnern, ist eine von 47 | |
Präfekturen und gehört zu Nordjapan. Es ist ein sehr schönes Land, eine der | |
fruchtbarsten Regionen Japans, reich an Natur, agrarisch geprägt. Auch wenn | |
man selbst kein Bauer ist, haben viele Leute kleine Gemüsegärten oder | |
Ackerfelder für den eigenen Verbrauch. Wir lieben solch eine Lebensart und | |
diesen Lebensrhythmus. Ich war vorher ganz selten im Supermarkt zum | |
Gemüsekaufen. Miharu hat, bzw. hatte, 20.000 Einwohner. Der Name bedeutet | |
„drei Frühlinge“, weil hier die Plaumen-, Pfirsich- und Kirschbäume | |
gleichzeitig blühen. Der kalte Winter ist lang, früher freute man sich auf | |
den dreifach schönen Frühling. Miharu ist in ganz Japan sehr bekannt durch | |
seinen berühmten, über 1.000 Jahre alten Kirschbaum. Er ist 12 Meter hoch, | |
seine Krone umfasst 20 Meter und sein Stamm ist 9 Meter dick. Jährlich | |
kamen mehr als 300.000 Besucher, um ihn blühen zu sehen. (Als er | |
heranwuchs, starb Roswitha von Gandersheim und in Japan wurde der | |
Zen-Buddhismus eingeführt. Anm. G. G.) | |
Mein Mann ist Heilpraktiker (Lizenz für Akupunktur). Er hat sich | |
spezialisiert auf ostasiatische Naturheilkunde und betreibt eine eigene | |
Praxis in unserem Haus. Vor vier Jahren haben wir uns dieses Haus neu | |
gebaut, ein Holzhaus. Zusammen mit einem erfahrenen Zimmermann haben wir es | |
intensiv geplant. Er hat es dann innerhalb von einem Jahr nach der | |
traditionellen japanischen Bauart errichtet und mit möglichst wenig Chemie | |
und Kunststoff. Bei einfachen Arbeiten konnten wir ab und zu mithelfen. | |
Nach dem Einzug haben wir uns dort sehr wohl gefühlt, obwohl wir noch 20 | |
Jahre lang Schulden abbezahlen müssen für das Haus. Aber wir konnten in | |
diesem schönen Haus kaum zwei Jahre miteinander leben. Fukushima war für | |
unsere Tochter nicht mehr sicher. Mein Mann ist dageblieben, er will seine | |
Patienten weiter betreuen. | |
Unser Zimmermann und auch die Handwerker wohnten in dieser Küstenregion, | |
die heute Sperrzone ist. Sie alle haben ihre Häuser verloren und leben | |
heute über verschiedene Orte verstreut. Überall ein trostloser | |
Ameisenumzug. Unser Alltag ist total verloren gegangen! | |
Weiteres möchte ich morgen schreiben … | |
## Im Moment des Erdbebens | |
So, ich bin wieder am Schreibtisch. | |
Im Moment des Erdbebens – die Erde hat auffällig lange gebebt – war ich | |
allein zu Hause. Es war kurz vor 3 Uhr. Meine Tochter war bei ihrer | |
Freundin, mein Mann war mit dem Auto unterwegs. Die Telefonverbindungen | |
funktionierten danach nicht mehr. Zum großen Glück haben wir uns innerhalb | |
der nächsten zwei Stunden zu Hause wieder getroffen. Erst abends konnten | |
wir im Fernsehen die Nachricht von dem Tsunami sehen. Wir waren sprachlos | |
vor Entsetzen. | |
Am nächsten Tag – es war Samstag – hat mein Mann einen Bekannten getroffen, | |
der schon lange in der Anti-AKW-Bewegung ist. Er erzählte, dass das AKW | |
Fukushima Daiichi katastrophal beschädigt worden sei. Die Regierung hatte | |
an diesem Morgen die Evakuierungszone von 3 auf 10 Kilometer erweitert. | |
„Nur zur Sicherheit“, wie man sagte. Nachmittags hat ein anderer Freund | |
darauf hingewiesen, dass wir, schon allein wegen unserer Tochter, besser | |
weit weg Zuflucht suchen sollten. | |
Die Entscheidung, sofort Miharu zu verlassen oder zu bleiben, war für uns | |
nicht leicht. Keiner wusste Genaueres, alles Undenkbare war möglich. Allein | |
ein Drehen der Windrichtung konnte darüber entscheiden, ob es richtig oder | |
falsch war, in eine bestimmte Richtung zu flüchten, da ungeheuerlich stark | |
verseuchte Wolken über die Region gezogen sind. Aber offiziell wurden wir | |
über die gefährliche Lage und ihre Bedeutung gar nicht informiert. | |
Viele Menschen haben sich sorglos in der Region bewegt und waren der | |
Strahlung schutzlos ausgeliefert. In einigen Städten gab es wegen des | |
Erdbebens kein Wasser, die Leute – auch viele Kinder – haben draußen | |
Schlange gestanden für Trinkwasser, weil jeder nur 4 Liter bekommen konnte. | |
Am Nachmittag des 12. März haben wir uns dann entschlossen, unseren Wohnort | |
zu verlassen und weit in den Südwesten zu fahren. Während wir in aller Eile | |
die nötigsten Sachen packten, hörte ich im Fernsehen die Nachricht von der | |
ersten Explosion im AKW. | |
Die Autobahnen waren gesperrt, auf den Landstraßen waren große Staus, es | |
hat lange gedauert, bis wir die Nachbarpräfektur erreicht hatten. Es war | |
wirklich sehr schwierig, zuverlässige Infos zu bekommen, und unterwegs, in | |
jedem fremden Ort, einen Internetzugang zu finden, war ein Problem. Mit | |
einigen Zwischenstationen sind wir nach 4 Tagen in Osaka angekommen, es | |
liegt ca. 700 Kilometer von den Reaktoren entfernt. Als ich endlich einen | |
Anschluss für meinen PC hatte, war meine Mailbox voll. Ich bin unseren | |
Freunden sehr dankbar, die uns rechtzeitig Hinweise gegeben haben. | |
Besonders die Informationen aus Deutschland haben uns schockiert, ich | |
konnte anfangs diese Nachrichten nicht glauben. Die offiziellen japanischen | |
Verlautbarungen waren andere. Später habe ich gehört, dass bei uns ein | |
freier Journalist, der am 12. März die Kernschmelze erwähnt hat, damals der | |
Mittelpunkt des Tadels geworden ist und fast „verfolgt“ wurde. | |
Ich habe dann einige andere Mütter angerufen und gemahnt, dass die Lage | |
schlimmer sein könnte, als offiziell bekannt gegeben wird; dass es besser | |
wäre, mit den Kindern weit weg Zuflucht zu suchen. Ich konnte aber keine | |
einzige Mutter überzeugen und es verstörte mich sehr, dass sie nur auf die | |
offiziellen japanischen Nachrichten hören. Außer in einigen kleinen | |
Kommunen sind nirgendwo Jodtabletten an die Kinder verteilt worden. Später | |
erfuhren wir, dass das gesamte Krisenmanagement des Staates und der | |
Präfektur nicht funktionierte. Es gab ein einziges Chaos. Aber die | |
Bürokratie funktionierte! | |
Es ist schon spät. Morgen schreibe ich weiter … | |
## Schulbeginn in Fukushima | |
In Japan beginnt das Jahr im Frühling. Das neue Schuljahr beginnt im April, | |
das heißt, die Schüler werden im April in die nächste Schulklasse versetzt. | |
Das neue Geschäftsjahr fängt auch im April an. Seit dem Erdbeben hatte es | |
keinen Schulunterricht mehr in Fukushima gegeben. Ende März habe ich eine | |
Mitteilung von der Schule erhalten, die besagte, dass alle öffentlichen | |
Schulen in Fukushima außerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone ganz normal am 6. | |
April wieder beginnen. Obwohl die Reaktoren zu diesem Zeitpunkt weiterhin | |
in unvorhersehbaren Zuständen havarierten. | |
Ende März hat eine Elterngruppe in Fukushima, der Hauptstadt der Präfektur, | |
die Strahlendosis auf den Schulhöfen gemessen. Dabei wurden erschreckende | |
Ergebnisse gefunden. Obwohl die Eltern verlangten, dass auf allen | |
Schulhöfen die tatsächliche Kontamination erfasst wird, hat der | |
Schulunterricht dann doch pünktlich am 6. April begonnen. Dann erst, | |
parallel zum Schulbetrieb, hat die Präfekturverwaltung angefangen zu | |
messen. | |
Bei 75 Prozent aller öffentlichen Schulen und Kindergärten in der Präfektur | |
(außerhalb der Sperrzone) war die Kontamination so stark, dass sich nach | |
japanischem Gesetz dort eigentlich ohne Sondergenehmigung niemand aufhalten | |
dürfte. | |
Wir waren in Osaka. Es war für mich schwer zu akzeptieren, nur wegen des | |
Schulbeginns wieder nach Fukushima zurückzufahren. Aber unsere Tochter | |
wollte unbedingt ihre Freunde wiedersehen. So sind wir zurück nach | |
Fukushima gefahren. | |
Zwei Wochen nach Schulbeginn hat das Erziehungsministerium den Grenzwert | |
für Kinder einfach auf 20 Millisievert pro Jahr erhöht, 20-mal höher als | |
der ursprüngliche gesetzliche Wert. Dieser Wert entspricht in Deutschland | |
der Höchstbelastung für Arbeiter in Kernkraftwerken. Wenn aber die | |
Grenzwerte herabgesetzt würden, dann müssten noch mindestens zwei größere | |
Städte evakuiert werden. Das wollte die Administration aus finanziellen und | |
bürokratischen Gründen auf keinen Fall. Das Wichtigste für die Behörden | |
war, den Alltag in Fukushima möglichst schnell wieder normal erscheinen zu | |
lassen. Wem das nicht gefällt, der soll bitte auf eigene Faust wegziehen, | |
aber er wird dann auch keine Entschädigung bekommen. Ab Mitte April ist in | |
Fukushima eine große Protestbewegung entstanden, ebenso wie in ganz Japan, | |
die Mütter haben sich zusammengeschlossen. Gemeinsam mit verschiedenen | |
Experten wurde Widerspruch erhoben gegen den neuen Grenzwert, Eltern haben | |
das „Fukushima-Netzwerk zum Schutz von Kindern“ gegründet, um sich | |
auszutauschen und mit den Behörden zu verhandeln. | |
Während dieser Zeit haben wir in großer Aufregung und Erschütterung ratlos | |
dagestanden. Und wir haben uns gefragt, wie groß ist der Einfluss von Tepco | |
auf die Politiker? Dass unsere Regierung uns nicht die Wahrheit gesagt hat, | |
dass die tatsächliche Gefahr verschwiegen wurde, das hat vieles in | |
tragischer Weise noch verschlimmert. Denn es hat nicht nur unsere | |
Gesundheit in Gefahr gebracht, es hat uns Menschen auch getrennt und unsere | |
Beziehungen zerstört. Innerhalb der Nachbarschaft, in den Gemeinden, auf | |
dem Arbeitsplatz und in den Familien gab und gibt es große | |
Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Auffassungen über die | |
Gefährlichkeit der Situation. | |
## Frischer Rettich aus der Präfektur Fukushima | |
Dazu beigetragen haben auch drei meiner Ansicht nach gekaufte Experten, die | |
als medizinische Berater in der Präfektur Fukushima eingesetzt wurden nach | |
dem Unglück und die seitdem dort die Regeln bestimmen. Darunter ein | |
bekannter Arzt, Prof. Sunichi Yamashita. Er behauptet, dass eine Dosis von | |
100 Mikrosievert pro Jahr unbedenklich ist, dass man lokale Lebensmittel | |
essen kann, dass die Kinder ruhig im Freien spielen könnten und dass | |
Menschen, die lächeln und glücklich sind, keine Strahlenschäden bekommen. | |
Wir wissen heute genau, dass auch die japanischen Medien unter großem | |
Einfluss von Tepco und anderen Stromversorgern stehen, allein schon wegen | |
der riesigen Werbeeinnahmen. Wir sind quasi auch von unseren eigenen Medien | |
verraten worden! | |
Ende Mai – wir waren noch in Fukushima – habe ich mitten im Supermarkt | |
ratlos dagestanden. Milch, Eier, Gemüse, Fleisch, waren lediglich | |
gekennzeichnet als „Inlandprodukte“. Nur bei den frischen Rettichen stand | |
„aus der Präfektur Fukushima oder Chiba“. Aber auch Chiba war nicht mehr | |
schadensfrei. Egal, welchen Rettich ich genommen hätte, ich hatte | |
eigentlich keine Wahl mehr. Ein großer Schrecken hat mich plötzlich | |
ergriffen und ich habe beschlossen, ich will keinen einzigen Tag mehr an | |
diesem Ort bleiben. Ich bin schnell vom Einkaufen nach Hause gegangen, habe | |
ganz ernsthaft mit meiner Tochter gesprochen und bald sind wir zu meinen | |
Eltern gezogen. Die beiden sind schon über 80 und wohnen etwas außerhalb | |
von Tokio. Mein Vater war Elektroingenieur bei der Bahngesellschaft, die | |
damals noch staatlich war, meine Mutter war Hausfrau. | |
Der Abschied von ihren lieben Freunden und von der vertrauten Welt zu Hause | |
hat meine Tochter sehr traurig gemacht. Sie kann nicht verstehen, dass sie | |
zu ihrem Schutz weg musste, während ihre Freunde fast alle blieben, und sie | |
nicht weiß, was mit ihnen dort passiert. Viele der weggezogenen Kinder | |
leiden unter einem schlechten Gewissen und sind nicht glücklich. Aber wie | |
sollen sich die empfindlichen Kinder denn fühlen, wenn sie so hilflos und | |
verlassen sind? Ich dachte, wir müssen noch mal ernsthaft die | |
Kinderaussiedlung vorschlagen! | |
Letzten Juni wurde die Stadt Koriyama durch eine Elterngruppe von 14 | |
Kindern verklagt (eine provisorische Maßregel). Der Grund ist, dass die | |
Stadt die Schüler illegalerweise dazu gezwungen hatte, trotz der hohen | |
Strahlenbelastung die Schule zu besuchen. Koriyama hat 340.000 Einwohner | |
und ist die größte Wirtschaftsstadt Fukushimas. Obwohl sie mehr als 60 | |
Kilometer von den Reaktoren entfernt liegt, ist sie auch sehr stark | |
kontaminiert. Nach den Erfahrungen von Tschernobyl ist das besonders auch | |
für die Kinder gesundheitsschädlich. Wenn die Richter unabhängig von der | |
politischen Einflussnahme hätten urteilen können, dann hätte die | |
Elterngruppe den Prozess gewinnen müssen. Die Klage wurde abgelehnt, mit | |
total vernunftwidrigen Begründungen. Der Rechtsanwalt der Elterngruppe will | |
versuchen, diesen Prozess nach der internationalen Zivilentscheidung | |
beurteilen zu lassen. Wir brauchen Hilfe und Unterstützung von der ganzen | |
Welt! | |
Im August 2011 haben sich Kinder aus Fukushima in Tokio direkt bei der | |
Regierung beschwert. Vier Kinder haben ihre Beschwerde vorgelesen. Meine | |
damals 13-jährige Tochter war eines dieser Kinder, sie hat unter anderem | |
gesagt: „Sie haben die Grenzwerte um das 20-fache angehoben und sagen uns, | |
es bestünde keine Gefahr. Das glaube ich nicht! Diese Art der Problemlösung | |
kann von uns Mittelschülern und Schülerinnen nicht akzeptiert werden. | |
Werden die Leben der Menschen aus Fukushima geringer geschätzt als das | |
Geld?!“ | |
Wir verlangen jetzt zwei dringende Schutzmaßnahmen für unsere Kinder: eine | |
ist die Evakuierung der Kinder an sichere Orte. Auch Tokio ist nicht | |
schadensfrei und sicher. Dass die großen Firmen und Banken nach Osaka | |
umziehen, ist ein deutliches Signal. Die zweite Forderung lautet: | |
systematische Kontrolle über die Verstrahlung der Nahrungsmittel. Und | |
gleichzeitig wollen wir eine endgültige Entscheidung zum Atomausstieg! | |
… Es ist 11 Uhr nachts. Bei Ihnen 7 Uhr morgens? Ohayou. | |
## 2-mal im Monat Besuch | |
Wir sind im Dezember 2011 in die Stadt Matsumoto (etwas westlich von Tokio, | |
240.000 Einwohner) in der Präfektur Nagano umgezogen. Hier wohnen wir zur | |
Miete in einem Haus mit Garten. Meine Tochter hat sich in der Schule in | |
Tokio nicht wohlgefühlt. Es scheint, dass sie hier gleich gute Freunde | |
finden konnte, und sie geht wieder fröhlich zur Schule. Das macht uns sehr | |
glücklich. Ich habe hier noch keine Bekannten. Ich bin seit 5 Jahren | |
Reiseleiterin für deutschsprachige Japanbesucher. Man braucht eine | |
staatliche Lizenz dafür. Im letzten April hatte ich eine 3-wöchige Reise | |
mit 25 Gästen durch Japan vor mir, sie wurde aber storniert wegen des | |
Unglücks. Danach gab es fast keine Arbeit mehr für uns. Letzten Herbst | |
hatte ich ein Ehepaar aus der Schweiz. Sie waren nett, aber die Arbeit hat | |
mir keine Freude mehr gemacht. Ich bin nicht in der Lage, über irgendwelche | |
Schönheiten eines alten Tempels zu erzählen, während die Kinder in | |
Fukushima tatsächlich verstrahlt werden. Und auch dem Paar konnte ich kein | |
Restaurant sorglos empfehlen. Ich hätte viel lieber über unsere wahren | |
Gegebenheiten erzählt. Ja, vielleicht ist das mein Problem, dass ich | |
momentan kein anderes Thema akzeptieren kann. Meine Tochter wird oft wütend | |
darüber. | |
Nach diesen 12 Monaten sind wir alle arg müde. Mein Mann sieht heute viel | |
älter aus als vorher – nach so großen Umständen, so vielen Fahrten, und so | |
vielen Kämpfen. Er findet mich auch scheußlich strapaziert und gealtert. | |
Wir haben aber einige kleine Erleichterungen. | |
Wir haben ein kleines gebrauchtes Auto gekauft für den Transport. In | |
japanischen Kleinstädten ist das öffentliche Verkehrssystem nicht optimal. | |
Was mir aber am meisten fehlt, ist mein ganzer normaler Alltag. Mit meiner | |
Familie frühstücken, einfach plaudern oder etwas planen oder etwas kochen | |
und liebe Freunde einladen. Ich dürste danach! | |
Ein verdoppelter Haushalt ist viel Aufwand. Mein Mann versucht 2-mal im | |
Monat uns zu besuchen. Wenn er mit dem Auto fährt, sind das 400 Kilometer | |
durch die Berge, mit kleinen Pausen, ca. 6 Stunden. Mit dem Zug muss man | |
über Tokio fahren, da dauert es von Tür zu Tür 7 Stunden und es ist teurer. | |
Er hat eine Patientengruppe in Yokohama, die er auch schon vorher | |
regelmäßig besucht hat. Er arbeitet viel. Mein Mann hat mir gesagt, dass er | |
schon mit mehr als 1.300 Betroffenen gesprochen hat bei seinen | |
Self-Care-Seminaren, die er in Fukushima mit Unterstützung einer NGO macht | |
seit dem Unglück. Teilnahmegebühr ist meistens gering oder frei. Die | |
Einwohner sind bereits gesundheitlich beschädigt. Kinder haben Durchfall, | |
Nasenbluten, Husten, Halsschmerzen andauernd. Älteren Leuten sind meistens | |
ihre Füße geschwollen, man zögert, ohne Bedürfnisse spazieren zu gehen. | |
Hauptthema ist zum Beispiel: Stärkung des Immunsystems. Aber er befürchtet, | |
dass die bedenklichen Folgen tatsächlich erst noch zum Vorschein kommen | |
werden. | |
… Ich unterbreche jetzt. | |
## Es ist sehr trostlos | |
Ja. Es ist sehr trostlos. Meine Eltern sind Buddhisten, mein Mann stammt | |
aus einem shintoistischen Haus. Religion spielt aber heute für manche Leute | |
keine große Rolle mehr. Trotzdem merkt man doch ab und zu, dass man sich | |
nach der buddhistischen Lehre benimmt, man sein „Dogma“ unterbewusst tief | |
im Blut hat. Vor einer unüberwindlichen Naturkatastrophe wie Erdbeben und | |
Tsunami fühlt man sich, als ob menschliche Arbeit nur Schein wäre. Man | |
wünscht sich eine wesentliche ursprüngliche Ebene zurück, um sich zu | |
trösten. Aber die Atomkatastrophe ist keine Naturkatastrophe, sie ist eine | |
aus der hochmütigen Leichtfertigkeit der Menschen entstandene, unnatürliche | |
und technische Katastrophe. Der Shintoismus basiert auf einer animistischen | |
Grundidee, nach der die Kraft der Natur als heilig und ehrwürdig angesehen | |
wird. Bei der Atomkatastrophe haben wir ein ganz anderes Gefühl, es gibt | |
keinen Trost, da kann kein Glaube den Menschen helfen, da besteht keine | |
Ehrfrucht. | |
Ich habe vor Kurzem bei einer Veranstaltung in Osaka Dr. Hida gesehen. | |
Haben Sie von ihm gehört? Er ist ein Internist von 94 Jahren, | |
Hibakusha-Arzt und Organisator. Er hat mit 24 in Hiroshima die Atombombe | |
erlebt. Jetzt kümmert er sich um die Fukushima-Kinder. In der Schule haben | |
wir sehr wenig gelernt über Hiroshima und Nagasaki. Gleich nach dem | |
Kriegsende haben die USA versucht, alle Informationen über die Opfer unter | |
Kontrolle zu halten und keine Einzelheiten nach außen dringen zu lassen. | |
Sie haben den Ärzten verboten, dass sie über die Zustände und Symptome | |
sprechen. Es gab Druck und Bedrohung dazu. Wir merken jetzt, dass wir heute | |
ebenso wenig erfahren haben nach der Reaktorkatastrophe über die | |
radioaktiven Belastungen und die dadurch verursachten Erkrankungen. Diese | |
werden in gleicher Weise von unserer eigenen Regierung und den Behörden | |
vertuscht. Wir wissen immer noch nicht, welche Kernelemente ausgeströmt | |
sind und wie viel davon. Wir haben große Sorge, was mit den havarierten | |
Reaktoren weiter passieren wird. Wir werden immer nur beruhigt. Am | |
vergangenen Sonntag hat der traditionelle Tokioer Marathonlauf | |
stattgefunden. 36.000 Läufer. | |
Aber Tokio ist nicht schadensfrei! Es ist nicht zu verstehen. Auch letztes | |
Jahr wurden erstaunlicherweise bei vielen Schulen in Fukushima die | |
Sportfeste draußen veranstaltet, wie immer. Solche hoffnungslos unflexiblen | |
Denkweisen sind fast kriminell!! Die Politiker behaupten auch, dass die | |
Verbrennungen von radioaktivem Müll keine großen Probleme verursachen | |
würden. Sie sagen, das sei für die Orte im Norden hilfreich, bitten die | |
Gemeinden um Verständnis und darum, den Schmerz zu teilen. Und der Müll | |
wird verbrannt, auch in weit entfernten, schönen Gebieten, wo noch keine | |
Strahlenbelastung angekommen ist; auch weil das Geld wichtiger ist als das | |
Leben, wie meine Tochter gesagt hat. Mein Mann erzählte, dass ein riesiges | |
Budget nach Fukushima fließt, man sagt, es wird alles dafür getan, dass die | |
Evakuierten wieder zurückkehren können. Die Dekontaminierungsarbeiten und | |
der Rückbau sind Big Business für die nächsten Jahrzehnte. Besonders ärgern | |
uns Gerüchte, dass Tepco-Tochtergesellschaften sich einen großen Anteil am | |
Gewinn sichern. Das alles wird uns auch noch gute Steuern kosten. Es | |
schneit gerade wieder, aber frühlingshaft, unsere kälteste Zeit ist vorbei. | |
Die Zedern-Pollen sind schon überall in der Luft. Es gibt große Mahnungen – | |
nicht nur für Allergiker –, dass die Pollen in diesem Jahr sehr gefährlich | |
sein können, durch Radioaktivität, die sie transportieren! | |
… So, langsam gehe ich ins Bett. Oyasuminasai (gute Nacht ) | |
## Verseuchte Waren auf den Markt | |
Von den Lebensmitteln will ich noch schreiben. Tokio ist vor allem bei | |
seinen Lebensmitteln sehr abhängig von den umliegenden Präfekturen, bisher | |
auch von Fukushima und Nordjapan. In der Zwischenzeit wurden viele | |
Messstationen eingerichtet, auch in Tokio und in Matsumoto, wo ich im | |
Supermarkt einkaufe, und bei den Verkaufsstellen der Bauern. Die | |
offiziellen provisorischen Grenzwerte für Lebensmittel sind viel zu hoch | |
angesetzt, so dass alles „unbedenklich“ ist und die verseuchten Waren auf | |
den Markt gebracht werden können. Die Herkunft wird hier angegeben und man | |
vermeidet automatisch, Produkte aus Fukushima zu kaufen. Aber es gibt eine | |
Kampagne, auch im Fernsehen, Produkte aus Fukushima zu essen, den Schmerz | |
zu teilen. In manchen Supermärkten ist oft eine große Fahne aufgehängt, | |
darauf steht „Never give up, Fukushima!!“ Unerträglich. | |
Ich höre auch oft Gerüchte, dass große Mengen an Produkten aus Fukushima im | |
Lager übrig geblieben sind, wegen der Messungen beiseite geschoben wurden, | |
oder von dem Markt zurück geschickt. Sie würden heimlich auf den Märkten | |
verkauft und in den Restaurants angeboten. Man kann das nur schwer | |
kontrollieren. Wir essen heute sehr selten Fisch. Ja, wir müssen bei allem | |
skeptisch sein. Wir wissen nicht, ob das Wasser in Matsumoto gründlich | |
untersucht worden ist oder nicht. Ich kaufe Wasser in Flaschen, Wasser aus | |
unseren Alpengebieten oder Volvic aus Frankreich. Es gibt wirklich keine | |
Ruhe mehr seit einem Jahr. Am Sonntag ist Jahrestag! | |
… Ich werde später weiterschreiben. Bis nachher. | |
## Einmal heulend lachen | |
Verzeih, es hat etwas länger gedauert. Gestern zum Jahrestag, war ich hier | |
bei der Demonstration. Freunde waren da. Auf dem Podium wurden die Reden | |
gehalten und genau um 14.46 Uhr war ein stilles Gedenken an die Opfer und | |
das Ereignis damals. Danach gab es mit vielen Menschen und vielen | |
Transparenten eine Demonstration durch die Stadt. Ich fühlte das gemeinsame | |
Mitgefühl bei allen. | |
Wir sind ziemlich verzweifelt – da ist nicht nur die Katastrophe des AKWs, | |
sondern auch die unmenschliche, kalte und trostlose Haltung der Behörden | |
uns gegenüber, die alles noch viel schlimmer macht. Ich empfinde eine große | |
Enttäuschung gegenüber unserer bisherigen Gesellschaft, über die absolute | |
Bürokratie der Behörden, über den offensichtlichen Betrug von Tepco, über | |
das gesamte hierarchische Entscheidungssystem und über den gründlichen | |
Gehorsam, die das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen vernebeln können. | |
Und auch über die Medien, die dabei helfen, indem sie falsche Behauptungen | |
und optimistische Vorstellungen verbreiten, mitten in der Katastrophe. | |
Sie können unseren Protest aber nicht verhindern! Wir stehen hier in Japan | |
jetzt an einem Wendepunkt, viele Fachleute und Mitbürger denken nun anders, | |
äußern öffentlich ihre Meinung, wollen einen endgültigen Atomausstieg. | |
Viele Mütter sind sehr aktiv. Wir müssen unsere Kinder und nächste | |
zukünftige Generationen schützen, das ist unser gemeinsames Ziel, zu | |
allererst!! Leider, optimistisch kann ich nie sein, aber wenn wir jetzt | |
hier in Matsumoto wenigstens eine Aufenthaltsmöglichkeit für | |
Fukushima-Kinder aufbauen können und dadurch die Kinderaussiedlung | |
gefördert wird, würde ich einmal heulend lachen! | |
Ich verabschiede mich nun und wünsche Ihnen einen schönen Frühlingstag. | |
Arigatou (danke schön) für Ihr großes Interesse an Fukushima, auch an alle, | |
die dies lesen. Viele liebe Grüße, Masako Hashimoto | |
26 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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