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# taz.de -- Präsidentenwahl in Ägypten: Bis um die letzte Stimme
> Der Präsidentschaftskandidat Abdul Moneim Abul Futuh hat eine politisch
> bunte Anhängerschaft. Vor allem die Menschen auf dem Land haben hohe
> Erwartungen an ihn.
Bild: Wahlplakate mit den Kandidaten Hamdin Sabahi (oben) und Abdul Moneim Abul…
KAIRO taz | Der präsidiale Wahlkampf beginnt wie der Arbeitstag der meisten
Einwohner Kairos. Die zwei Fahrzeuge des Kandidaten Abdul Moneim Abul Futuh
stecken im Stau fest. Ein bescheidener Konvoi des Mannes, der nach dem
höchsten Amt im Land am Nil strebt: zwei Leibwächter, ein Fotograf, drei
Wahlkampfmanager, ein Journalist. Ziel ist das Nildelta im Norden.
Die Leibwächter versuchen verzweifelt zu verhindern, dass sich ein anderes
Fahrzeug zwischen sie und ihren Schutzbefohlenen drängt. Ein hoffnungsloses
Unterfangen.
Abul Futuh gilt als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das
ägyptische Präsidentenamt. Der Arzt hat eine ungewöhnliche politische
Karriere hinter sich.
Er ist ein Aussteiger aus der Muslimbrüderschaft, die ihn letztes Jahr
wegen seiner liberalen Ansichten und nach Ankündigung seiner Kandidatur aus
ihren Reihen ausgeschlossen hat.
Abul Futuh hat den Weg der politischen Öffnung beschritten. Seine
islamistische Herkunft ist dennoch bei aller Weltoffenheit nicht zu
übersehen. In den 70er Jahren erlangte er Berühmtheit, als er – als
Studentenführer der Islamischen Gruppen – dem damaligen Diktator Anwar
as-Sadat ins Gesicht sagte, dieser sei nur von Heuchlern umgeben. Sadat
brach das Treffen ab.
Die Islamischen Gruppen entwickelten sich später zu einer militanten
Bewegung. Abul Futuh schloss sich der gemäßigteren Muslimbruderschaft an,
stieg in der Organisationshierarchie hoch auf, bis ihm auch dort das
islamistische Korsett zu eng wurde. In den letzten Jahren war er zunehmend
isoliert – bis hin zu seinem Rausschmiss.
Anders als der Rest der Muslimbrüder hatte sich Abul Futuh schon lange dem
Widerstand gegen die Diktatur verschrieben. Gemeinsam mit Liberalen und
Linken war er Teil der „Kifaya“, der „Es reicht“-Bewegung gegen Präsid…
Mubarak, und damit von der ersten Stunde an bei den Protesten auf dem
Tahrirplatz dabei, die im Februar 2011 schließlich zum Sturz des Diktators
führten.
## In Ruhe beten
Erst als der Stadtrand Kairos erreicht ist, geht es mit dem
Kandidatenkonvoi zügiger voran. Eine halbe Autostunde später hält der Tross
bei einer kleinen Moschee am Rande der Landstraße. Abul Futuh reicht dem
Fahrer sein Jackett und zieht sich allein zum Mittagsgebet in die Moschee
zurück; seine Entourage bleibt bei den Fahrzeugen.
Ein paar Minuten, die dem Politiker vergönnt sind, ohne dass er die Handys
seiner Wahlkampfmanager im Auto ständig klingeln hört. Interviewanfragen,
Terminabsprachen, Auftritte. Welches Gebet er wohl gen Himmel schickt,
wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen am 23. Mai?
Die Fahrt geht weiter, fast wie durch Feindesland. Überall auf der
Landstraße verkündet ein lächelnder Amr Mussa auf Plakaten seinen Slogan
von einem geeinten Ägypten. Der ehemalige Chef der Arabischen Liga gilt
neben Abul Futuh als aussichtsreichster Kandidat im Rennen um das
Präsidentenamt.
Gelegentlich ist auch Ahmed Schafik, der letzte Premier Mubaraks und ein
weiterer Kandidat für das Präsidentenamt 2012, zu sehen. „Es ist schwer
vorstellbar, dass ein Mann des alten Regimes, jemand wie Mussa oder
Schafik, die Wahl gewinnen könnte. Der Sieger wird ein Repräsentant der
Revolution sein“, erklärt Abul Futuh. „Ich hoffe natürlich, dass ich das
bin.“
## Nationaler Konsens
Abul Futuhs Anhängerschaft ist bunt gemischt – ihn unterstützen sowohl
Salafisten als auch der aufsässige und meist jüngere Teil der Muslimbrüder
bis hin zu Liberalen und Linken. Wie er die alle unter einen Hut bringen
will? Eine Frage, über die er kurz nachdenkt.
„Dass mich Salafisten wie auch Liberale unterstützen, heißt nicht, dass ich
deren Ideologie übernehme. Sie sehen mich als den besten Kandidaten, um
einen nationalen Konsens herzustellen“, antwortet er diplomatisch.
Abul Futuh spricht davon, dass es für ihn Vorrang habe, den Polizeiapparat
zu reformieren und die staatlichen Institutionen von Repräsentanten des
alten Regimes zu säubern. Wie er dabei das Verhältnis des zukünftigen
Präsidenten zum Militär sieht, das im Moment alle wichtigen Entscheidungen
trifft?
„Das Militär darf keine politische Rolle übernehmen und ist in einem
demokratischen Staat der gewählten politischen Führung verpflichtet“, sagt
Abul Futuh. Das ist eindeutig.
## Ein Pferd als Symbol
In Mit Ghamr, einer Kleinstadt im Nildelta, wartet eine Fahrzeugkolonne
zumeist Jugendlicher auf den Kandidaten. Hupend, wie auf einer ägyptischen
Hochzeit geht es weiter. Die Rückfenster ihrer Autos sind meist mit großen
Postern dekoriert.
„Abul Futuh for President“, heiß es dort, daneben prangt ein Pferd, das
Symbol des Kandidaten auf dem Wahlzettel – für alle, die nicht schreiben
können. Analphabeten gibt es in dieser Gegend viele. Denn obwohl das
Nildelta so fruchtbar ist, herrscht hier teilweise bittere Armut. Der
Anteil derer, die nicht lesen und schreiben können, dürfte vor allem bei
den Frauen um einiges höher liegen als im Landesdurchschnitt, wo auf zehn
Ägypter vier Analphabenten kommen.
Man sieht die Frauen in den Dörfern, wo sie in der Mittagshitze im
Bewässerungskanal ihre farbenprächtige Wäsche waschen. Trotz
gesundheitlicher Gefahren baden dort auch die Kinder, mitten am Tage,
obwohl sie eigentlich in der Schule sein sollten.
## Die Straße ist blockiert
Die Kandidatenkarawane zieht weiter, in teils halsbrecherischem Tempo. Kurz
hinter der Stadt Mansura blockiert ein Sattelschlepper den Weg. Der Fahrer
hat angehalten, um etwas Rucolasalat zu kaufen. Es dauert, bis er sich mit
der Straßenhändlerin handelseinig ist. Geduldig und resigniert wartet die
kleine Verkehrsansammlung auf den Ausgang des Geschäfts – ein Stück
Ägypten.
Nicht mehr Wasserräder, sondern Dieselpumpen bestimmen das Bild an den
Bewässerungskanälen. Sie am Laufen zu halten stellt eine große
Herausforderung dar. Seit Monaten leidet das Land an einer Dieselkrise. Vor
den Tankstellen stehen die Menschen stundenlang an, um an den begehrten
Kraftstoff zu kommen.
Ein Problem, das der zukünftige Präsident zu lösen hat. Bananenstauden am
Rande des Kanals zeugen davon, dass es die Bauern auch in dieser
schwierigen Zeit irgendwie schaffen, ihr Land zu bestellen.
## „Alles so teuer“
In der Kleinstadt Bilqas haben sie an diesem Tag ein Zelt für Abul Futuh
aufgestellt. Erst vor wenigen Tagen war auch Rivale Amr Mussa hier. Für die
Bewohner des Deltas ist es eine völlig neue Erfahrung, dass gleich zwei
Präsidenten in spe binnen einer Woche vorbeikommen und um Stimmen kämpfen.
Ein deutliches Zeichen, dass die Zeiten Mubaraks vorbei sind, der auf
wundersame Weise bei jeder Abstimmung von 90 Prozent der Ägypter das Jawort
erhielt. Heute müssen die Präsidentschaftskandidaten auch auf dem Land um
jede einzelne Stimme kämpfen.
Vor allem die jüngeren Einwohner von Bilqas bereiten Abul Futuh einen
triumphalen Empfang. Der spricht im Wahlkampfzelt von der dringend nötigen
Verbesserung des Gesundheitswesens und vom Recht der Jugendlichen auf
Bildung. Die meisten in Bilqas wollen, dass der kommende Präsident für mehr
soziale Gerechtigkeit sorgt.
## Mehr Gerechtigkeit
„Die Einkommen müssen gerechter verteilt werden. Vieles können wir uns
einfach nicht mehr leisten, weil alles so teuer geworden ist“, meint
Masarawi al-Sayyed. Er wartet mit seinem Tuk-Tuk, wie die Motorrikschas,
die Taxis der Armen, genannt werden, auf Kundschaft. Der Bauer, der seinen
Eselskarren um die Ecke lenkt, treibt sein Tier an. Er möchte nichts dazu
sagen. In Bilqas ist man weder Präsidentschaftskandidaten noch Journalisten
gewohnt.
Dass genug Wasser in den Bewässerungskanälen fließt, ist für diese Menschen
das A und O ihres Lebens. Also bleiben sie auch bei der Wahl ihres
Präsidenten bei dem entsprechenden Bild.
„Ich möchte, dass jemand dem ständigen Diebstahl den Hahn abdreht. Ich habe
Jahrzehnte in der Verwaltung gearbeitet und weiß, wovon ich spreche. Die
Oberen haben immer in ihre Taschen gewirtschaftet. Vom nächsten Präsidenten
erwarte ich, dass er das ändert“, sagt der pensionierte Verwaltungsbeamte
Muhammad Said, der Abul Futuh seine Stimme geben wird.
## Die Wünsche der Wähler
Genauso wie Nermin Saleh, die gerade mit ihrem Übersetzerstudium fertig
ist. „Ich will einen volksnahen Präsidenten, der einen moderaten
islamischen Hintergrund vertritt und zeigt, dass der Islam nicht
extremistisch ist“, erläutert die modisch gekleidete junge Frau mit
Kopftuch und fügt hinzu: „Ich fordere auch, dass meine Rolle als Frau in
der Gesellschaft anerkannt wird.“
Yahia al-Gohary, der Frauenarzt, schwärmt vom heutigen Gast in Bilqas. „Wir
brauchen jemanden, der das Land nach der Diktatur heilt“, sagt er. Abul
Futuh vereine viele politische Strömungen. „Wer immer der nächste Präsident
wird, er ist zu Demokratie verpflichtet und weiß, dass er maximal fünf
Jahre hat, um die Dinge spürbar zu verändern.“
Der Krämerladenbesitzer Marai Abdallah steht etwas abseits. „Ich will weder
einen Muslimbruder noch einen Salafisten, die machen das Land nur kaputt“,
sagt er. Abul Futuh traue er nicht, der sei immer noch ein verkappter
Islamist. Er will seine Stimme Amr Mussa geben.
## Umworbene Bevölkerung
Wer wird der nächste Präsident des bevölkerungsreichsten arabischen Landes?
Abul Futuh, der ehemalige Muslimbruder mit liberalen Zügen, der von Anfang
an am Aufstand auf dem Tahrirplatz teilgenommen hat? Oder Amr Mussa, der
mit dem Manko antritt, ein Mann des alten Regimes zu sein, jedoch viel
politische Erfahrung mitbringt; der weniger Wandel, dafür aber die Rückkehr
zur Stabilität verspricht? Oder gar einer der elf anderen Kandidaten?
Egal wer gewinnt, für die Ägypter ist es eine völlig neue Erfahrung, zu
sehen, wie die Anwärter auf das höchste Amt im Staat unermüdlich um jede
einzelne Stimme kämpfen.
Er habe noch nie in seinem Leben so viel gearbeitet, sagt der Fahrer Abul
Futuhs, als er in Bilqas auf seinen Chef wartet. Immer wieder treibe ihn
der 62-Jährige an, noch schneller zu fahren, wenn er nicht gerade zwischen
zwei Auftritten für ein paar Minuten seine Augen schließe.
Es ist sechs Uhr abends, vier Veranstaltungen liegen noch vor Abul Futuh.
Der Chauffeur blickt besorgt auf die Uhr. „Ich muss jetzt richtig auf die
Tube drücken“, erklärt er und setzt grinsend hinzu: „Wer Ägyptens nächs…
Präsident werden will, der hat keine Zeit zu verlieren.“
22 May 2012
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
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