| # taz.de -- Journalisten in Ägypten: Nichts bleibt mehr verborgen | |
| > Freie Sicht, unsichere Situation: Journalisten in Ägypten stehen zwischen | |
| > Regimetreue und sozialen Medien – und versuchen die Informationslücke zu | |
| > schließen. | |
| Bild: Noch hat sich der Journalismus noch nicht von gelöst vom alten Regimeden… | |
| KAIRO taz | Die Sicht ist frei. Kein Hindernis versperrt den Blick aus den | |
| Redaktionsräumen auf den Nil und den gegenüberliegenden Sadattower. Hier, | |
| im neunten Stock eines langweiligen Bürohauses am Flussufer, zwischen | |
| apricotfarbener Tapete und weißen Bücherregalen, versuchen sich die | |
| Redakteure des halbstaatlichen 6th October Magazin seit einem Jahr neu zu | |
| erfinden, Woche für Woche. Mohsen Hassnein, nach eigenen Angaben einer der | |
| ersten frei gewählten Chefredakteure Ägyptens, empfängt eine Delegation | |
| deutscher Journalisten und lässt seine Kollegin Rawda Fuoad übersetzen. | |
| „Alles hat sich verändert seit der Revolution, wir sind frei, können | |
| schreiben, was wir wollen.“ Frauen, die etwa die Hälfte der Redaktion | |
| ausmachen, bekämen die Verantwortung für ganze Ressorts übertragen. Und | |
| Rawda Fuoad betreut zwei Seiten namens „Ohne Eingreifen des | |
| Chefredakteurs“. Hier dürfen junge Ägypter einmal die Woche ihre | |
| politischen Ansichten und Probleme mitteilen. Die staatlichen Medien | |
| probieren eine Menge, um die Jugend zu erreichen. Doch damit sind die | |
| ehemaligen Propagandaorgane reichlich spät dran. | |
| 200 junge Leute kommen laut Beshoy Fayez zu den wöchentlichen | |
| Twitter-Diskussionen, die er in der Tahrir Lounge unweit des gleichnamigen | |
| Platzes organisiert. Bei diesen „Tweet Nadwas“ diskutieren sie in dem | |
| unabhängigen Jugendzentrum über die Perspektiven Ägyptens und dokumentieren | |
| alles live bei Twitter. „Die Leute können sich so über Grenzen hinweg | |
| vernetzen und alles loswerden, was sie nach der Revolution so umtreibt“, | |
| sagt der 25-jährige Sozialarbeiter. | |
| Dabei sei Platz für Diskussionen über die Präsidentschaftskandidaten wie | |
| auch über die Hintergründe der gewaltsamen Ausschreitungen bei dem | |
| Fußballspiel in Port Said im Februar. Diese gesellschaftlichen Diskussionen | |
| seien nach 30 Jahren Schweigen überfällig, und das Social Web sei der | |
| geeignete Raum dafür. Staatliche Medien wie das 6th October Magazin spielen | |
| in Fayez’ Augen keine Rolle. „Sie transportieren noch immer gesteuerte | |
| Meinung statt unabhängiger Informationen.“ | |
| ## Beschränkte Kompetenzen | |
| Naila Hamdy, Journalistikprofessorin an der Amerikanischen Universität | |
| Kairo, sagt: „ Die Staatsmedien stehen nach wie vor extrem unter Druck.“ | |
| Der staatliche Rundfunk habe den zuständigen Militäradvisor direkt in | |
| seinem Gebäude sitzen, freier Journalismus sei so unmöglich. Das größte | |
| Problem seien aber nicht neue Regeln und Beschränkungen und auch nicht die | |
| viel beachteten Festnahmen von Bloggern und Journalisten durch den | |
| Militärrat. „Es sind auf lange Sicht die beschränkten Kompetenzen der | |
| Journalisten selbst, die sie am meisten behindern“, sagt Hamdy. | |
| Diese Erfahrung haben auch Beshoy Fayez und seine Kollegin Mona Shahien im | |
| vergangenen Jahr gemacht. In der Tahrir-Lounge möchte sie vor allem | |
| Medienkompetenz vermitteln. Zu den Journalistenworkshops im vergangenen | |
| Jahr luden Fayez und Shahien deswegen auch Redakteure der großen | |
| staatlichen Medien wie Ahram oder Akhbar El-Youm ein. Einige der | |
| Medienmacher hätten sich nach den Sessions bei ihnen gemeldet, sagt | |
| Shahien: „Sie sagten, sie hätten zum ersten Mal von dem Prinzip gehört, | |
| dass Meinung und Nachricht getrennt werden sollen, und baten um weitere | |
| Hilfestellungen.“ | |
| Rawda Fuoad vom 6th October Magazin beherrscht ihr Handwerk. Sie ist | |
| Absolventin des renommierten Studiengangs Massenkommunikation der | |
| Universität Kairo. Doch die meisten ihrer KollegInnen in der Redaktion | |
| haben keine professionelle Ausbildung. Fuoad findet, dass sie alle dennoch | |
| gute Arbeit leisten: „Seit es keine Tabus mehr gibt, praktizieren wir alle | |
| den Kernjob eines Journalisten und recherchieren getreu dem Motto: Nichts | |
| kann lange verborgen bleiben.“ Schließlich könne man nun sogar das Militär | |
| frei kritisieren. | |
| Und was ist zum Beispiel schlecht am Militär? Darauf wollen Fuoad und | |
| Chefredakteur Mohsen Hassnein erst mal nicht antworten. Fuoad schreibt | |
| später auf Anfrage: „Um es klar und deutlich zu sagen, wir als Magazin | |
| kritisieren das Militär nicht.“ Aber sie kritisiere auf ihrem privaten | |
| Facebook-Account und sei als Journalistin dennoch nicht bedrängt worden – | |
| das sei früher nicht möglich gewesen. Sie fügt noch an: „Ich habe wirklich | |
| keine Ahnung, was Sie damit meinen, ,schlecht am Militär‘?“ | |
| ## Generationen verbinden | |
| Andere Frage: Welchen Kandidaten bevorzugen die beiden bei der ersten | |
| Wahlrunde am 23. Mai? Fuoad blickt kurz irritiert. Die Frage übersetzt sie | |
| ihrem Chef nicht, stattdessen bleibt sie ohne Rücksicht auf ihn im | |
| Englischen und erwidert: „Was glauben denn Sie? Wie viel Macht braucht der | |
| Präsident, und was sollte die künftige Rolle des Militärs sein?“ Als von | |
| den deutschen Journalisten eine ausweichende Antwort kommt, sagt sie: | |
| „Sehen Sie, wir wissen es auch nicht, die politische Lage einzuordnen, ist | |
| momentan sehr schwierig.“ | |
| Journalistikprofessorin Naila Hamdy kennt die Verwirrung: „Erst schrieben | |
| die Staatlichen gegen die Revolution, als Stütze des Regimes. An einem | |
| Punkt kippten sie, schrieben pro Revolution, die nicht mehr aufzuhalten | |
| schien. Jetzt, da die Zustände chaotischer geworden sind, die | |
| Zivilgesellschaft nicht mehr geschlossen auftritt, hängen sie sich ans | |
| Militär.“ Die Redaktionen brauchten immer eine Institution oder Gruppe, | |
| nach der sie sich ausrichten. Eine selbst gewählte Linie gebe es nicht, so | |
| die Wissenschaftlerin. | |
| „Wenn man nur eine Zeitung liest, hat man keine Chance auf halbwegs | |
| sachliche Information“, sagt Beshoy Fayez von der Tahrir-Lounge. Er und | |
| seine Bekannten nutzen Facebook als eine Art Alert-Filter, beobachten die | |
| Postings dort und navigieren sich dann weiter. Er sei mit vielen Leuten | |
| befreundet, die sich in bestimmten Themenfeldern gut auskennen, sagt Fayez, | |
| der seit der Revolution selbst als Fotograf und Bürgerjournalist unterwegs | |
| ist. „Auf deren Hinweise vertraue ich und schaue mir die Quellen dann | |
| selbst an, um mir eine Meinung zu bilden.“ | |
| Ob er die Quellen immer verifizieren könne? Nein, aber das könne man ja | |
| auch im Fernsehen oder der Zeitung nicht. Laut Naila Hamdy von der | |
| Amerikanischen Universität ist diese Mediennutzung unter jungen Leuten weit | |
| verbreitet. Sie kann sie angesichts der mangelnden Professionalisierung der | |
| klassischen Medien nachvollziehen, hält sie langfristig aber für | |
| problematisch: „Weil die klassischen Medien sie enttäuschen, konsumiert | |
| diese Generation Blogs und Informationen in sozialen Netzwerken viel zu | |
| sorglos.“ Viele störe es gar nicht mehr, dass die meisten Blogger anonym | |
| blieben. Sie bezweifelt, dass die Mehrzahl der jungen Ägypter die Quellen | |
| einer Information kritisch hinterfragen. | |
| ## Die Lücke schließen | |
| Interessant seien seit Beginn der Revolution hingegen die Tendenzen einiger | |
| klassischen Medien, Themen aus den sozialen Medien zu spiegeln und | |
| aufzugreifen. Als der bekannte Blogger Sandmonkey nach dem Massaker an den | |
| Al-Ahly-Fans im Stadion von Port Said in einer Fernsehshow auftrat, sahen | |
| ihn auch die Eltern der im Internet aktiven Jugendlichen. Er, der von | |
| vielen jungen Ägyptern als sehr zuverlässige Informationsquelle im Netz | |
| geschätzt wird, bekam auch in der Offline-Welt ein Gesicht. „Plötzlich | |
| reden nicht mehr nur die jungen Leute über seine Berichte und Thesen, | |
| sondern alle Ägypter gemeinsam“, sagt Hamdy. | |
| Sie hält Initiativen wie die Rubrik „Ohne Eingreifen des Chefredakteurs“ | |
| bei 6th October Magazin für einen Schritt in die richtige Richtung. Nur so | |
| werde sich die Lücke zwischen den Internetaktivisten, ihrer | |
| Elterngeneration und den nationalen Medien langfristig schließen. Die | |
| sozialen Medien reichten langfristig nicht aus, um einen transparenten und | |
| sicheren Informationsfluss zu gewährleisten. | |
| Am frühen Abend bietet sich den Redakteuren um Mohsen Hassnein und Rawda | |
| Fuoad im neunten Stock ein fantastischer Ausblick. Der Himmel hinter dem | |
| Sadattower am Nilufer glüht, die Sicht ist weit. Fuoad sagt: „Ich hoffe, | |
| dass wir als Redaktion in Zukunft an vielen Fortbildungsprogrammen | |
| teilnehmen können, um unsere journalistischen Fähigkeiten auszubauen und | |
| den Bürgern noch bessere Informationen zu bieten.“ | |
| 24 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Karen Grass | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Islamistische Propaganda auf Twitter: Zwischen freier Rede und Extremismus | |
| Extremisten nutzen erfolgreich soziale Netzwerke? Die BBC bestätigt in | |
| einem Bericht über islamistische Aktivisten den Verdacht der britischen | |
| Regierung. | |
| Nach dem Urteilsspruch gegen Mubarak: Zurück zum Punkt null | |
| Die Menschen in Ägypten demonstrieren gegen das ihrer Meinung nach zu milde | |
| Urteil gegen Ex-Präsident Mubarak. Und gegen die Freisprüche der | |
| Sicherheitschefs. | |
| Proteste gegen Wahlergebnis in Ägypten: Wahlkampfbüro in Kairo angezündet | |
| Es hat angeblich massive Stimmkäufe bei der ägyptischen Präsidentenwahl | |
| gegeben. Kurz nach Bekanntgabe der Ergebnisse brachen in mehreren Städten | |
| Proteste los. | |
| Stichwahl in Ägypten: Wer ist das kleinere Übel? | |
| Das Rennen um die Präsidentschaft in Ägypten bleibt offen. Zur Wahl stehen | |
| jetzt der Islamist Mursi und Mubarak-Mann Schafik. Die Unterlegenen fechten | |
| die Wahl an – ohne Erfolg. | |
| Wahl in Ägypten: Muslimbrüder sehen sich in Stichwahl | |
| Nach dem Ende der Wahl in Ägypten hat das Auszählen der Stimmen begonnen. | |
| Die Muslimbrüder sehen ihren Kandidaten und Ex-Ministerpräsident Schafik | |
| bereits in der Stichwahl. | |
| Wahlkampf in Ägypten: Superlative zur Präsidentenwahl | |
| Es sei das erste Mal seit 7.000 Jahren, dass ÄgypterInnen den Präsidenten | |
| frei wählten, sagt ein Politologe. Den Menschen auf dem Lande sind profane | |
| Dinge viel näher. | |
| Präsidentenwahl in Ägypten: Bis um die letzte Stimme | |
| Der Präsidentschaftskandidat Abdul Moneim Abul Futuh hat eine politisch | |
| bunte Anhängerschaft. Vor allem die Menschen auf dem Land haben hohe | |
| Erwartungen an ihn. | |
| Konflikt im Jemen: Selbstmordanschlag auf Soldaten | |
| Dutzende Soldaten werden bei der Übung zu einer Parade in Jemen getötet, | |
| Hunderte verletzt. Der Krieg zwischen der Armee und al-Qaida wird immer | |
| blutiger. | |
| Fernsehduell vor der Wahl in Ägypten: Premiere zur Primetime | |
| Zum ersten Mal debattieren vor einer Präsidentschaftswahl in Ägypten zwei | |
| der aussichtsreichsten Kandidaten im Fernsehen. Im ersten Wahlgang wird | |
| wohl niemand gewinnen. | |
| Krawalle in Ägypten: Freiheit für die Frauen | |
| In Kairo sind bei Krawallen mindestens 300 Menschen festgenommen worden. | |
| Die 14 bis 17 Frauen unter ihnen sollen allerdings laut Staatsanwaltschaft | |
| freigelassen werden. | |
| Ägypten im Umbruch: 20 Tote bei Kundgebung in Kairo | |
| Eine bewaffnete Gruppe greift Demonstranten an. Die protestierten zusammen | |
| mit Anderen gegen den Ausschluss ihres Präsidentschaftskandidaten und den | |
| Militärrat. |