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# taz.de -- Kostenlose Ressource Ehrenamt: Arbeit für 0,00 Euro
> Die Trennung zwischen männlichen „Ehrenamts-Beamten“ und weiblicher
> Wohlfahrtspflege zieht sich durch die Geschichte - bis heute. Ein Besuch
> bei der Historikerin Gisela Notz.
Bild: Es sind nicht nur die Bereiche Altenheim und Kindererziehung, in denen Eh…
„Vor einigen Jahren wurde berechnet, dass die Ehrenamtlichen in Deutschland
weit über viereinhalb Milliarden Stunden pro Jahr an Arbeit investieren.
Wenn man dabei nur einen durchschnittlichen Stundenlohn von 7,50 Euro
zugrunde legt […], dann kommt man auf eine Summe von 35 Milliarden Euro.
Was für eine Zahl! Beeindruckend! Aber was sie tagtäglich an unzähligen
Orten unserer Gesellschaft leisten, ist nicht in Euro und Cent zu beziffern
[…], ihr Einsatz ist unbezahlbar.“
Frank-Walter Steinmeier zum „Tag des Ehrenamtes“ 2011
Dr. phil. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin u. Historikerin. 1942 in
Schweinfurt/Main geboren, die Eltern waren Arbeiter. 1958 Ausbildung und
Arbeit als Stenotypistin, dann zweiter Bildungsweg und Studium der
Industriesoziologie, Arbeitspsychologie und Erwachsenenbildung, TU Berlin.
1966 Geburt der Tochter. 1970–1977 WG-Bewohnerin in Berlin. Seit 1978
Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten: Schwerpunkte u. a. bezahlte
und unbezahlte Frauenarbeit; Alternative Ökonomie; Historische
Frauenforschung. 1979-2007 Arbeit am Friedrich-Ebert-Institut,
Forschungsabteilung für Sozial- und Zeitgeschichte. 1985–87 nebenbei und
unbezahlt Redakteurin der Zeitschrift „Beiträge zur feministischen Theorie
und Praxis“. Promotion 1986,TU Berlin. Von 2004–2010 Bundesvorsitzende von
Pro Familia. Sie ist im Stiftungsrat der Bewegungsstiftung. Sie ist Autorin
zahlreicher Texte und Bücher, u. a. von: „Warum flog die Tomate?“ (2006);
„Feminismus“ (2011); „Theorien alternativen Wirtschaftens“ (2011).
Gisela Notz lebt im berühmten Frauenwohnprojekt Beginenhof in Berlin
Kreuzberg. Schon von Weitem schimmert die lang gestreckte Wohnanlage mit
ihren großen Balkonen und Fenstern durch die Bäume der Parkanlage hindurch.
Die großzügig geschwungene und farbenfrohe Fassade steht beim Nähertreten
in seltsamem Kontrast zu einem abweisenden, streng vergitterten
Eingangsbereich, zur Fischaugenkamera am Klingelbrett. Hinter der
schubweise sich öffnenden Automatiktür liegen ein blühender Garten, der
Aufzug und die persönlich gestalteten Laubengänge zu den Wohnungen.
Frau Notz empfängt uns an ihrer Wohnungstür und sagt auf unsere Frage zur
Verbarrikadierung lächelnd: „Ja, neulich hatte ich mal Handwerker
reingelassen, die bei mir klingelten, und da habe ich über die
Gegensprechanlage gehört, wie einer sagte: ’Das ist ja ein
Hochsicherheitstrakt hier!’ Ganz so ist es natürlich nicht, aber wir sind
schon ein wenig abgeschottet.“ Frau Notz bewohnt eine Maisonettewohnung im
5. Stock mit Blick über die Dächer. Sie erzählt: „Das Konzept war ’Eigen…
in Frauenhand‘, das ist jetzt nicht mein Konzept, es war schon fertig, als
ich kam. Es gefällt mir sehr gut hier, aber mir wäre es lieber, wenn
Eigentum vergemeinschaftet, eine Genossenschaft gegründet würde.
Dann wäre die Sozialstruktur auch ein bisschen gemischter bei uns. Ich
treffe oft Frauen, die hätten auch gerne hier gewohnt, hatten aber das Geld
nicht. Also das muss man sich schon leisten können. Ich hätte mir die
Wohnung mit 40 Jahren auch nicht kaufen können, weil ich das Geld gar nicht
hatte und weil ich auch nix geerbt habe. Aber ich habe in den letzten
Jahren relativ gut verdient. Damals gab es auch noch einige Arbeitsstellen
für Akademikerinnen“, fügt sie sarkastisch hinzu.
„Es gibt übrigens drei Männer im Haus, einer davon ist 102. Da gibt es
keine Exklusion. Gekauft haben aber nur Frauen. 53 Frauen haben die
Wohnungen erworben. Es gibt vier große Wohnungen mit 104 qm – so wie diese
hier – und die anderen sind zwischen 56 qm und 76 qm groß. Einige der
Käuferinnen haben vermietet, das bringt auch eine Mieterinnenstruktur rein,
das ist schön. Aber andererseits wird dabei Geld gemacht, mit dem ’Besitz
in Frauenhand‘. Also wenn man eine Wohnung kauft, für sich selber, das ist
okay, aber … na ja, das kann jede selbst bestimmen. Hier in Kreuzberg ist
das schon sehr privilegiert, so zu wohnen.“
Sie schenkt uns Tee ein und sagt: „ Aber wir wollten ja über das Ehrenamt
reden. Ich dachte, ich gehe auch ein bisschen auf die Geschichte des
Ehrenamtes ein, dann wird es anschaulicher. Die Ehrenämter des Mittelalters
in Gilden und Bruderschaften, waren lange Zeit ein Privileg von Fürsten und
Adelsherren. Später durfte dann auch die wohlhabende Bürgerschaft
Ehrenämter bekleiden. Frauen waren von den bürgerlichen Ehrenämtern (z. B.
Schöffen, Laienrichter, Kirchenvorsteher, Armenpfleger) ausgeschlossen. Sie
wurden erst so ab 1896 sehr zögernd zugelassen, und auch nur zu bestimmten
Ämtern. Solche sozialen Arbeiten allerdings wie die Pflege und Versorgung
der verwundeten Krieger wurden auch schon lange vorher von Frauen
übernommen.
Auch das Kochen und Verteilen der Armensuppe übernahmen wohlhabende Frauen,
ebenso die unmittelbare barmherzige Arbeit in den Hospizen der Klöster und
Gemeinden, in denen Kranke, Sterbende, Alte, Obdachlose und Behinderte
aufgenommen und versorgt wurden. Ihre Tätigkeit wurde erst später als
ehrenamtlich’ bezeichnet. Die Trennung zwischen männlichen
’Ehrenamts-Beamten“’ und ’freiwilliger‘, unmittelbarer sozialer
Wohlfahrtspflege, die hauptsächlich durch Frauen geleistet wurde, zieht
sich durch die ganze Geschichte hindurch, und sie gilt im Grunde bis heute.
## Bismarcks Gesetze
Die Zeit zwischen den Befreiungskriegen 1813 und dem Beginn des Ersten
Weltkriegs 1914 ist gekennzeichnet durch eine massive industrielle
Entwicklung und einen enormen Anstieg der materiellen, physischen und
psychischen Not der großstädtischen Arbeiterbevölkerung. Die Bismarck’sche
Sozialgesetzgebung reagierte darauf, aus Angst vor Aufständen. Sie brachte
1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung, 1891 die
Rentenversicherung, mit Rentenanspruch ab dem 71. Lebensjahr. Und erst 1927
wurde die Arbeitslosenversicherung eingerichtet.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr wohltätige bürgerliche
Frauen in die freiwillige, unbezahlte soziale Arbeit zur Versorgung
Hilfsbedürftiger eingebunden. Ein wichtiges Motiv zur Aufnahme unbezahlter
sozialer Arbeit war damals der Ausschluss bürgerlicher Frauen von der
Erwerbsarbeit, während für viele proletarische Frauen die Teilnahme an der
Erwerbsarbeit, und zwar in einem zwölfstündigen Arbeitstag, gang und gäbe
war.
Durch ihre ’freiwillige‘ Hilfe sollten die bürgerlichen Frauen aber nicht
nur das aus den Klassengegensätzen entstandene Elend lindern, sie sollten
auch dazu beigetragen, die drohende soziale Revolution der verarmten und
ausgebeuteten Arbeiterschaft abzuwenden. Es ist natürlich immer auch ein
Stück Kontrolle und Erziehung in dieser Arbeit. Sozialarbeit richtet ja
immer auch die Betroffenen dafür her, für dieses System zu funktionieren.
Erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der
Sozialarbeit eine Bewegung, die gesagt hat: Wir wollen die Betroffenen
stark machen im Kampf gegen dieses System! Jedenfalls die sozialistischen
Frauen und Arbeiter konnten die bürgerliche Fürsorge nicht leiden, sie
bauten ihre eigenen Arbeiter-Selbsthilfe-Organisationen auf – von Arbeitern
für Arbeiter – wie 1888 den Arbeiter-Samariter-Bund.
Wichtig ist noch, dass sich während des Ersten Weltkrieges die bürgerlichen
Frauenvereine zusammengetan haben, um die Vaterländischen Hilfsdienste zu
gründen; dabei haben auch Sozialistinnen mitgewirkt. Da waren natürlich
Clara Zetkin und Rosa Luxemburg schwer dagegen! Durch die Vaterländischen
Hilfsdienste sind damals viele Frauen reingekommen in die ehrenamtliche
Arbeit.
Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden dann
die religiös und weltanschaulich gebundenen Wohlfahrtsverbände. Die
unmittelbare soziale Arbeit wurde in allen Verbänden weiterhin ehrenamtlich
und vor allem von Frauen geleistet. Auch bei der Arbeiterwohlfahrt, die
1919 von Maria Juchacz gegründet wurde. Sie war übrigens die einzige Frau
im MSPD-Vorstand und hat 1919, als erste Frau in Deutschland, eine Rede im
Parlament gehalten bzw. halten ’dürfen‘. Da war das Frauenwahlrecht grade
mal etwa ein Jahr alt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dann bald klar, dass
das Ehrenamt nicht mehr reicht.
Ausbildungsstätten ’für soziale Wohlfahrt‘ entstanden, Sozialreformerinnen
gründeten ’Soziale Frauenschulen‘, zugleich auch um den Frauen den Weg in
die Erwerbsarbeit und zu den Universitäten zu ebnen, zunächst mal, um die
Hilfe zu professionalisieren. Sie wurden zu einer Art ’Fürsorgerin‘ bzw.
’Wohlfahrtspflegerin‘ ausgebildet, und von den bürgerlichen Frauenvereinen
wurde nun ganz offen die Umwandlung von ehrenamtlicher Sozialarbeit in
Erwerbsarbeit gefordert.
## Kaum Widerstand
Während der Weimarer Republik setzte sich die Überzeugung durch, dass
soziale Arbeit ohne Berufskräfte nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Eine
daraus folgende Hierarchisierung und Entsolidarisierung zwischen bezahlten
und unbezahlten Sozialarbeiterinnen hat sich jedoch als problematisch
erwiesen, denn sie erlaubte einen Zugriff auf die jeweilige Gruppe, je nach
Bedarf und Wirtschaftslage. Das zeigte sich dann erstmals in der
Weltwirtschaftskrise. Staat und Wohlfahrtsverbände griffen zu Sparmaßnahmen
und riefen zu umfangreicher ehrenamtlicher Hilfsbereitschaft auf. 1931
wurde im Rahmen der Notverordnungen der ’Freiwillige Arbeitsdienst‘
eingeführt.
Vom Faschismus wurde natürlich der staatliche Zugriff auf die unbezahlte
soziale Arbeit übernommen und perfektioniert. Mit einer Massenaktivierung
wurden Mitglieder für die einzelnen Organisationen rekrutiert, für HJ, BDM,
NS-Frauenschaft bis hin zum Reichsarbeitsdienst. Die sozialistischen
Frauenverbände wurden verboten, die bürgerlichen gleichgeschaltet, oder sie
haben sich aufgelöst. Da war kaum Widerstand.
Gleichzeitig wurde mit gesetzlichen Regelungen gegen berufstätige Frauen
als ’Doppelverdienerinnen‘ vorgegangen. Das hatte zur Folge, dass man
vorher entlohnte soziale Arbeit nun wieder von ’freiwilligen‘, unbezahlten,
ehrenamtlichen Kräften verrichten lassen konnte. Man muss leider sagen,
dass neben bezahlten Kräften auch viele dieser ehrenamtlichen
Sozialarbeiterinnen bei der ’Auslese‘ und ’Ausmerze‘ mitgeholfen haben.…
ist viel zu wenig bekannt.
Arbeiter-Samariter-Bund und Arbeiterwohlfahrt wurden 1933 verboten, und die
übrigen Wohlfahrtsverbände hat man stark zurückgedrängt zugunsten der
NS-Volkswohlfahrt. Sie übernahm nach und nach die Kontrolle über die
gesamte freie Wohlfahrtspflege. 1938 hatte sie eine Million ehrenamtliche
Mitarbeiter, zu Kriegsbeginn waren es elf Millionen. Die
Arbeitslosenversicherung wurde 1939 übrigens abgeschafft. Die Unterstützung
hing nun vom Nachweis der Bedürftigkeit der Erwerbsarbeitslosen ab.
Sie wurden der Kontrolle durch die Fürsorgeinstanzen unterstellt und zu
Pflicht- und Notstandsarbeiten gezwungen oder zum Reichsarbeitsdienst. Der
ganze Reichsarbeitsdienst war ja Zwangsarbeit. Und die Frauen haben dann
während des Zweiten Weltkrieges wiederum die übliche Unterstützungsarbeit
geleistet.“ (Darüber hinaus gab es u. a. 500.000 Wehrmachtshelferinnen, die
Hälfte davon meldete sich freiwillig, und es gab die SS-Helferinnen, die u.
a. auch in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ihren Dienst
verrichteten. Anm. G.G.)
„Und nach dem Krieg haben die Frauen ja alles wiederaufgebaut, die Häuser,
die Parteien, die Verbände, haben die Witwen und Waisen versorgt, die
Flüchtlinge untergebracht. Sie sind aber zurückgepfiffen worden, als die
Männer dann mit ihren Verwundungen und verletzten Seelen wieder nach Hause
gekommen sind und die Macht wieder übernommen haben. Und dann hat sich die
Wirtschaft durch das ’Wirtschaftswunder‘ vorübergehend zum Wohlstand
entfaltet. In den 50er Jahren ging das Engagement für ehrenamtliche soziale
Arbeit zurück.
Viele Arbeiten sind damals noch bezahlt worden. Und die große
Familienideologie wurde propagiert, mit der Hausfrau und Mutter als
Leitbild. Es gab ja sieben Millionen mehr Frauen als Männer! Für
Unverheiratete war bezahlte Arbeit überall verfügbar. Es gab natürlich
weiterhin ehrenamtlich Arbeitende, bei den Wohlfahrtsverbänden war viel zu
tun. Aber in den 60ern standen sie dann den politisierten, professionellen
Sozialarbeitern im Wege. Professionalisierte Sozialarbeit wurde im Zuge des
Ausbaus des sozialen Rechtsstaats und der damit verbundenen Durchsetzung
von Rechtsansprüchen, etwa durch das Bundessozialhilfegesetz 1961 und den
Ausbau der Sozial- und Jugendhilfe, sowie durch die Reform der
Sozialarbeiterausbildung immer weiter vorangebracht. Bis zur nächsten
Krise.
Etwas möchte ich hier nicht unerwähnt lassen: Es gab auch großartige
Bestrebungen außerhalb der Verbände und staatlichen Institutionen, die
etwas wirklich anderes wollten. Beispielsweise die Selbsthilfebewegung der
70er Jahre. Und auch was die Frauenbewegung dann unter Selbsthilfe
verstanden hat, war etwas ganz anderes, ebenso bei den Bürgerinitiativen.
Das war wirklich freiwillige, unbezahlte Arbeit, politische Arbeit. Aber
das ist ein anderes Thema.
Zurück zur wirtschaftlichen Krise der 80er Jahre. Ihr folgten Kürzungen im
Sozialbereich, und es begann die großflächige Reprivatisierung der sozialen
Versorgung. Und natürlich gab es eine Renaissance der ehrenamtlichen
sozialen Arbeit.
Und noch etwas anderes muss ich an dieser Stelle unbedingt klarstellen,
nämlich zum Verständnis des Ehrenamtes: 80 Prozent der Ehrenamtlichen sind
Frauen, auch wenn Studien – auch meine eigenen – belegen, dass mehr Männer
als Frauen ehrenamtlich tätig sind. Es muss hier differenziert werden
zwischen den jeweiligen Tätigkeiten. Ein großer Teil der Männer engagiert
sich nebenberuflich in Vereinen – 47 Prozent ihres ehrenamtlichen
Engagements findet in Sport- und anderen Vereinen statt. Dazu kommen die
’politischen Ehrenämter‘, im Vorstand der Wohlfahrtsverbände, als
Aufsichtsräte, als Rundfunk- und Fernsehräte, in wissenschaftlichen und
kirchlichen Gremien oder in Gewerkschaften. Viele der Männer sind
freigestellt bei fortlaufenden Bezügen und erhalten oft auch noch eine
ansehnliche Aufwandsentschädigung. Während Frauen eher unsichtbar und
unbezahlt auf den unattraktiven Feldern, im sozialen Bereich arbeiten. Und
das auch noch in vollkommen ungeschützten Verhältnissen, teilweise neben
ihrem Beruf, neben der Hausarbeit, abhängig vom Verdienst des Ehemannes
oder von Transferleistungen. Ohne ihre Arbeit aber würde das System der
sozialen Dienste zusammenbrechen!
## Abgewickelte Betriebe
Nach dem Zusammenbruch der DDR beschleunigte sich die Entwicklung durch die
Arbeitslosigkeit nach der Abwicklung der Betriebe, besonders auch durch die
hohe Frauenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Mit der Einführung
der ABM-Maßnahmen – und durch die freiwillige Fortführung der Arbeiten nach
Ablauf der Maßnahmen – kamen plötzlich Erwerbslose in Felder, in denen
bisher nur Ehrenamtliche gearbeitet haben. Bis zu den 90er Jahren war das
Ehrenamt ein Phänomen der Mittelschicht. Dass Erwerbslose ein Ehrenamt
machen, das ist erst seit der Wende so.
Und das hat sich dann noch mehr ausdifferenziert im Laufe der Zeit – in den
alten und in den neuen Bundesländern –, insbesondere durch die
systematische Aushöhlung der geschützten Arbeitsverhältnisse und des
Arbeitslosenversicherungssystems. Durch die Einführung von Hartz IV im Jahr
2005, die ein rigoroseres Arbeitsmarktregime mit sich brachte. In vielen
Bereichen der sozialen Arbeit gibt es zum einen die Arbeitsplätze der
bezahlten Kräfte, die Halbtagskräfte, die Midi-Jobber. Dazwischen sind die
unbezahlten Ehrenamtlichen. Und zum anderen kommen noch die Leute hinzu –
die ja eigentlich keine Arbeitskraft ersetzen dürfen – in 1-Euro-Jobs und
Minijobs, in Bürgerarbeit und seit vorigem Jahr im
Bundesfreiwilligendienst.
Es gibt inzwischen vielfältige Arbeitsbedingungen und zahlreiche Namen für
die ’bürgerschaftliche‘, die ’freiwillige‘ soziale Arbeit. Sie alle di…
aber nur dem einen Ziel: die soziale Versorgung – trotz massiver Kürzungen
– sicherzustellen und besonders die Lücken im Bereich der Altenhilfe zu
kitten. Eigentlich muss die Arbeit im Altenbereich regulär bezahlt werden.
Mit Tarifvertrag und Mindestlohn. Aber das wollen weder der Staat noch die
Unternehmen leisten. Ohne jede Not. Es ist ja nicht so, dass es nicht da
ist, das Geld!“ Gisela Notz schenkt Tee nach und holt eine Broschüre, die
sie uns mitgeben will.
(Zur besseren Übersicht fasse ich kurz zusammen: MINIJOB, für
Hartz-IV-Empfänger, 400 Euro monatl., keine Sozialversicherung. 1-EURO-JOB,
für Hartz IV- Empfänger, 30 Wochenstunden gemeinnützige Arbeit, für 1,50
Euro Std., zusätzlich zum Regelsatz. Bestandteil des Hartz-IV-Konzeptes,
„Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Bei Ablehnung
Sanktionen. BÜRGERARBEIT, von Frau von der Leyen 2010 eingeführt, wird als
ideales Gegenmittel zum Schrumpfen der Erwerbsarbeit ausgegeben, besonders
geeignet für Hartz-IV-Empfänger, arbeitslose Jugendliche, Frauen, Rentner.
900 Euro brutto, 30 Wochenstunden, für drei Jahre. Bei Ablehnung
Sanktionen, BUNDESFREIWILLIGENDIENST, seit 1. Juli 2011 als Nachfolge des
Zivildienstes, in sozialen und kulturellen Bereichen, für alle offen, auch
für Hartz-IV-Empfänger. Mindestzeit sechs Monate, es gibt ein Taschengeld.
Anm. G.G.)
## Falsche Freiwilligkeit
„Es war auch die Rede davon“, sagt Frau Notz, „ob man ein ’Pflichtjahr�…
einführt. Aber das Grundgesetz steht dem entgegen, und wir müssen wirklich
alles tun, dass es nicht geändert wird! Die Bürgerarbeit ist schon schlimm
genug. Sie wurde verkauft als ’sinnstiftende‘ Tätigkeit. Arbeitslose
Frauen, hieß es, ’müssen nicht mehr zurück an den Herd‘, sondern ’Vorw…
in die Bürgerarbeit!‘. So der Soziologe Ulrich Beck, Erfinder der
Bürgerarbeit. ’Noch gebraucht zu werden‘ baue die ’erwerbslose Beiköchin
der Dresdner Tafel‘ auf. Anfangs war noch die Rede von ’freiwilliger
Arbeit‘. Aber Freiwilligkeit, die gibt es im Sozialgesetzbuch II gar nicht!
Inzwischen ist die Aufnahme von Bürgerarbeit für Hartz-IV-Empfänger
Pflicht.
Das Ziel ist: Vier von fünf Erwerbslosen sollen mindestens in Bürgerarbeit
gebracht werden. ’Keine Sozialleistung ohne Arbeitsleistung‘ ist das Motto.
Es geht um die flächendeckende Einführung einer 30-Stunden-Woche zum
Sozialhilfesatz. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Es gibt einen
Bruttolohn von 900 Euro für 30 Wochenstunden, was deutlich unter dem
Mindest- bzw. Tariflohn liegt. 500 Euro kommen aus dem Etat der
Bundesagentur. 400 Euro aus dem Europäischen Sozialfonds. Und fertig ist
der Niedrigstlohn mit 720 Euro, rechnet man die selbst zu zahlende
Sozialversicherung ab. Eine Arbeitslosenversicherung ist natürlich nicht
vorgesehen.
Die Bürgerarbeiter werden aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen – die
Statistik ist ja das A und O. Die sind weg! Der Bürgerarbeiter zählt nicht
mehr als Erwerbsloser, er ist Arbeitnehmer per definitionem, steht aber
weiterhin unter strenger Kuratel des Jobcenters, dem er regelmäßig
nachweisen muss, dass er sich um Arbeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt bemüht;
andernfalls sind Sanktionen vorgesehen.
Das wird von sehr vielen Betroffenen als demütigende Zwangsarbeit
empfunden. In unserem Grundgesetz steht, zur Arbeit gezwungen darf nur
werden, wer eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. Die Bürgerarbeit aber
wird erzwungen. Wer sie verweigert, verliert seinen Anspruch auf
Grundsicherung und alle staatlichen Leistungen. Das bedeutet eine Abkehr
vom Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes! Der sozialstaatliche Auftrag
ist in Art. 20 und 28 des Grundgesetzes festgeschrieben.
Mithin sind auch die Bürgerarbeit und die Sanktionen gegen
Hartz-IV-Empfänger verfassungswidrig. Wir – also ein Bündnis verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen – haben 2009, noch vor der Einführung der
Bürgerarbeit, einen Bündnisaufruf für ein Sanktionsmoratorium gemacht. Es
gab eine große Beteiligung, aber das hat leider nicht viel gebracht. Meine
Meinung ist: Sämtliche Sanktionen gegen Erwerbslose gehören abgeschafft!
Am liebsten würde man die Gratisarbeit von möglichst vielen Ehrenamtlichen
abschöpfen. Aber nicht nur die der Schulabgänger, Arbeitslosen und
Hausfrauen. Man hofft auch auf die fitten Alten, die Lese-Omas usw. Da habe
ich mich gestern mit frauenbewegten Frauen fast ’geprügelt‘. Ungefähr die
Hälfte der Frauen hier im Beginenhof war mal Lehrerin, und ungefähr die
Hälfte dieser Lehrerinnen liest in der Schule vor. Sehr nett. Ist doch
toll, dass sie das machen! Wenn sie es nicht machen würden, würde es
niemand machen. Damit wäre auch keinem geholfen. Nur: Es wird nicht darüber
nachgedacht, dass man damit jemandem im Prinzip die Arbeit wegnimmt. Früher
war diese Arbeit nämlich bezahlt, es gab auch bezahlte Nachhilfen usw. Und
offenbar fragen sie auch viel zu wenig, wie das zustande kommt, dass so
viele Kinder derartig viele Defizite haben. Das machen sie offenbar alles
nicht.
## Arme bleiben arm
Auch in Bezug auf die Suppenküchen und Berliner Tafeln habe ich das gesagt.
Die Ehrenamtlichen sind nicht gewillt, sich darüber Gedanken zu machen, wie
das alles wohl kommt. Die Antwort gibt’s bei Brecht: ’Und der Arme sagte
bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Sie brauchen die Armen,
damit sie sich toll fühlen, noch was Nützliches tun können in ihrem Leben.
Sie reichen den Armen die Armensuppe, die Spenden von abgelaufenen
Lebensmitteln und fühlen sich gut. Es ist wie zu Beginn der
Industrialisierung. Das Schlimme daran ist: Die Armen bleiben arm, und das
Prinzip der Wohlhabenden wird gefördert. Die Armen bleiben die Bittsteller.
Man kann ihnen sogar den Suppenhahn zudrehen.
Ich habe nichts gegen das Ehrenamt, habe selber jahrelang nebenberuflich
ehrenamtlich gearbeitet. Gesellschaftlich nützliche, politische Arbeit zu
machen, die Spaß macht, das ist erstrebenswert. Aber so ist es ja nicht.
Und diese Rede: Ehrenamtliche brauchen kein Geld, das ist Quatsch! Sie
brauchen zuerst mal eine eigenständige Existenzsicherung. Erst wenn die
eigene Existenz gesichert ist und auch die Betreuten gut grundversorgt sind
– und zwar durch professionelle Kräfte –, erst dann kann Ehrenamt
funktionieren.
Stattdessen sieht es so aus, als würden immer mehr ’Ehrenämter‘ geschaffe…
Als wäre ein Ende des Sozialabbaus und der Reprivatisierung der
wirtschaftlichen Folgen all der Krisen noch lange nicht in Sicht. Das ist
sicher noch nicht ausgereizt. Man kann unmöglich voraussagen, was noch
alles kommt, was denen noch alles einfällt. Und es sind ja nicht nur das
Altenheim und der Bereich Kindererziehung, in denen Ehrenamtliche
unverzichtbar sind, es kommen immer neue Einsatzbereiche dazu. Ich hätte
nicht gedacht, dass das mal so ausgeweitet wird. Im Kulturbereich geht es
ja auch schon fast so zu wie im Sozialbereich. Die Museen, Theater, Opern,
Büchereien könnten zumachen, wenn die Ehrenamtlichen sich da nicht
engagieren würden.“
4 Jun 2012
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
Freiwilligendienst
Ein-Euro-Jobber
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