# taz.de -- Arabischer Intellektueller über Israel: „Wir gelten als Kreature… | |
> Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal über Israelkritik und die | |
> postkoloniale Mythenbildung arabischer Nationalisten und Islamisten. Er | |
> plädiert für eine Zweihäuser-Lösung. | |
Bild: Hausschlüssel tauchen bei palästinensischen Protesten als Symbol für V… | |
taz: Herr Sansal, dieses Mal sind Sie für viele einen Schritt zu weit | |
gegangen. Sie haben das größte Tabu gebrochen, das ein arabischer | |
Intellektueller brechen kann. Sie sind nach Israel gereist. Warum? | |
Boualem Sansal: Ganz einfach, weil ich eingeladen worden bin. Das war für | |
mich eine außerordentliche Gelegenheit. Ich finde es völlig normal, dass | |
sich arabische und israelische Schriftsteller treffen. Sie machen das | |
ständig, nicht in den arabischen Ländern und auch nicht in Israel, aber in | |
den USA, in Frankreich in Deutschland… Warum also nicht in Israel? Es muss | |
immer jemand den ersten Schritt tun. Ich hoffe, dass dies weitere Besuche | |
von Arabern in Israel und von Israelis in der arabischen Welt zur Folge | |
hat. Damit können wir vielleicht etwas zum Frieden zwischen Israelis und | |
Palästinensern beitragen. | |
Das sieht kaum jemand so. Die Reaktionen in der arabischen Welt fielen sehr | |
heftig aus. | |
Die Kritik kam vor allem von Seiten der Islamisten und von Intellektuellen, | |
die sich stark auf der Seite der Palästinenser engagieren. Für diese Leute | |
bin ich ein Verräter, ein Söldner, was weiß ich... Doch wer etwas zum | |
Frieden und zur Begegnung zwischen Völkern und Menschen beitragen will, | |
darf sich nicht mit kleinen eigenen Problemen der einen oder der anderen | |
Seite aufhalten. Wenn wir immer nur Angst haben und nichts tun, wird alles | |
bleiben wie es ist. | |
Begegnung, Frieden, das klingt gut. Warum haben Sie nicht auch die | |
Palästinensergebiete besucht? | |
Ich wurde nicht eingeladen. Ich kenne viele Palästinenser. Ich habe dort | |
Freunde bis hin zu Politikern, die unter Yassir Arafat Minister waren. | |
Sicher habe ich nichts dafür getan, damit ich eingeladen werde. Ich will | |
nicht um eine Einladung bitten. Aber sollte ich sie kommen, werde ich sie | |
selbstverständlich annehmen. | |
Haben Sie auch Zustimmung von Seiten arabischer Künstler und | |
Intellektueller erfahren? | |
Bis jetzt noch nicht. Es gibt Leute, die mich unter vier Augen oder am | |
Telefon unterstützt haben. Aber niemand hat dies öffentlich in einem | |
Artikel getan. Es wäre schön gewesen, und es wäre vor allem wichtig für die | |
Zukunft der Region, wenn immer mehr Menschen dieses Tabu brechen. Man kann | |
mit den Israelis arbeiten. Die Palästinenser machen das täglich. Die | |
Palästinensischen Vertreter treffen sich regelmäßig mit der israelischen | |
Regierung. Es gibt Politiker auf beiden Seiten, die sich immer wieder | |
überall auf der Welt treffen, Geschäftsleute, die zusammenarbeiten, | |
Künstler, Musiker, Anwälte, Ärzte… Warum sollen wir Intellektuellen und | |
Schriftsteller das nicht tun? Unser Wort hat Gewicht. Es ist notwendig | |
auszubrechen, um das Problem den Extremisten auf beiden Seiten zu | |
entreißen. Das Problem muss von vernünftigen Menschen angegangen werden. | |
Ich habe nach meiner Rückkehr aus Israel in der Onlinezeitung Huffington | |
Post einen Artikel veröffentlicht, in dem ich für die Idee eines großen, | |
weltweiten Treffens palästinensischer und israelischer Schriftsteller für | |
den Frieden in der Region werbe. | |
Erwartet man nicht von einem Schriftsteller, der aus einem Land kommt, das | |
vor 50 Jahren teuer für die Unabhängigkeit bezahlt hat, dass er sich ganz | |
besonders hinter die Palästinenser stellt? | |
Ich glaube kaum, dass dies eine Rolle spielt. Aber was schon stimmt, ist, | |
dass in Algerien der Nationalismus sehr stark ist. Algerien hat beim | |
Konflikt Israel - Palästina immer eine sehr harte Position eingenommen. | |
Algerien war immer gegen Verhandlungen und gehörte zu den fünf arabischen | |
Ländern der sogenannten Front der Standfesten, die sich gegen das Abkommen | |
zwischen Israel und Ägypten, Israel und Jordanien stellten. Algerien trat | |
nie für einen Frieden mit Israel ein, sondern will, dass Israel | |
verschwindet. Gaddafi in Libyen ist tot, Saddam Hussein im Irak auch, im | |
Jemen ist der Präsident weg, Syrien ist im Bürgerkrieg… nur Algerien ist | |
übrig, und verfolgt die 30 Jahre alte Linie. In Algerien sind wir | |
palästinensischer als die Palästinenser. Das ist doch nicht normal. | |
Viele Palästinenser vergleichen ihren Kampf mit dem der Algerier gegen | |
Frankreich. Fordern sie nicht gerade deshalb von Ihnen mehr Unterstützung | |
ein? | |
Es gibt da ähnliche Ideen. Im Krieg gegen Frankreich gab es Leute, die nur | |
eines wollten: Krieg bis zum Ende, keine Verhandlungen, keine Gespräche. | |
Aber es gab auch die anderen, die auf Verhandlungen setzten. Sie waren | |
sicher, die Unabhängigkeit erreichen zu können, ohne alles zu zerstören. | |
Doch alle, die so dachten, wurden von der Nationalen Befreiungsfront FLN | |
ermordet. Für die FLN waren es Verräter. In diesem Denkschema bin ich | |
natürlich auch ein Verräter. Weil ich sage, dass man miteinander sprechen | |
muss, um einen Weg zum Frieden zu finden. Nur auf Krieg zu setzen ist | |
ungerecht gegenüber den Palästinensern und den Israelis. Denn sie leiden | |
darunter. Sie leben dort. | |
Die Hardliner sehen im Kampf der Palästinenser einen antikolonialen | |
Befreiungskampf wie einst in Algerien. Ist es somit nicht logisch, dass die | |
Kolonialmacht abziehen, verschwinden muss? | |
Man kann zwei völlig unterschiedliche Dinge nicht einfach gleichsetzen. | |
Frankreich kam mit einer Armee und hat Algerien 130 Jahre lang besetzt. | |
Deshalb war der Algerienkrieg ein echter antikolonialer Befreiungskrieg. In | |
Palästina ist das ganz anders. Dort leben zwei Völker, die das gleiche Land | |
beanspruchen. Beide führen ihre Geschichte an, um zu belegen, dass sie die | |
alleinigen Eigentümer sind. Es ist als würden sich zwei Besitzer um das | |
gleiche Haus streiten. Beide legen ihre Papiere vor, der eine die Bibel, | |
der andere den Koran. Dabei wird vergessen, dass Israel per internationalem | |
Gesetz 1948 von der UNO gegründet wurde. Es ist kein Kolonialproblem | |
sondern ein Problem des Eigentums. Wem gehört das Haus? | |
Was ist die Lösung? Eine Wohngemeinschaft im gleichen Haus? Zwei Häuser? | |
Ich glaube die einzige Lösung sind zwei Häuser, in einem Haus zusammen zu | |
leben ist nicht mehr möglich. Die UNO wollte bereits 1948 zwei Häuser, | |
Palästina und Israel. Die Araber lehnten dies ab. Das war der Anfang der | |
heutigen Situation. Mit dem Abkommen von Oslo haben auch die Palästinenser | |
in die Lösung zweier Häuser eingewilligt. Die Diskussion geht eigentlich | |
nur noch um technische Fragen – wo verläuft die Grenze und was geschieht | |
mit den israelischen Siedlungen. Das zweite Problem ist, dass die | |
Islamisten von der Hamas Israel zerstören wollen. | |
In Israel gibt es auch Extremisten, die davon reden, dass Palästina | |
verschwinden muss. | |
Natürlich. Aber die israelischen Radikalen leben in einem demokratischen | |
Staat mit seinen Gesetzen. Sie demonstrieren, sie machen ihre Propaganda, | |
aber es ist eine kleine Minderheit in einem Rechtsstaat mit einem Parlament | |
und einer Regierung. Sie haben keine Chance, umzusetzen, was sie wollen. | |
Der arabische Frühling hat Regime zum Einsturz gebracht, doch die Haltung | |
gegenüber Israel scheint davon nicht betroffen zu sein. Wie erklären Sie | |
sich das? | |
Die arabischen Völker habe sehr, sehr lange auf die Demokratie warten | |
müssen. Seit der Unabhängigkeit lebten sie unter nationalistischen | |
Regierungen. Und die wenigen demokratischen Erfahrungen haben wie in | |
Algerien zum Bürgerkrieg geführt. Diese Völker wissen nicht mehr, woran sie | |
glauben sollen. Sie haben gesehen, wie der Westen, der die Demokratie | |
propagiert, die arabischen Diktaturen unterstützt. Wenn die Völker ihren | |
Glauben an die Demokratie verlieren, dann passiert das, was wir in den | |
1930er Jahren in Europa ganz konkret in Deutschland gesehen haben. Die | |
Extremisten, die Faschisten, haben es dann leicht. | |
Aber es gab doch eine Reihe von Revolutionen. Warum hat dies nicht zu einer | |
Diskussion, zu einer intellektuellen Öffnung geführt? Warum scheint es so, | |
als wäre es regelrecht verboten, frei zu denken? | |
Die Unabhängigkeit hat in den meisten arabischen Ländern nicht zu Freiheit | |
und zu einem besseren Leben geführt, wie es sich die Menschen erhofften. | |
Egal ob die Regierenden auf den Kapitalismus oder den Sozialismus setzten, | |
es scheiterte immer daran, dass es Diktaturen waren. Die Regime haben dabei | |
alle Ideologien manipuliert oder zerstört. Das ist wie eine Krankheit. | |
Deshalb glauben viele Menschen jetzt, dass der Islamismus die Lösung, ja | |
die einzige Lösung, ist. Das ist gefährlich. Denn hinter dem Islamismus | |
stehen eine starke Ideologie und starke Unterstützer. Lange hat man | |
gedacht, der Islamismus wäre eine unbedeutende Irrlehre, die vom Weg der | |
Religion abgekommen ist. Das ist nicht so. Es handelt sich um eine echte | |
faschistische Ideologie, mit einem politischen Projekt und einer Strategie, | |
um sich die Welt untertan zu machen. Erst waren die Islamisten Individuen, | |
dann haben sie Gemeinden und Regionen kontrolliert. Jetzt lenken sie ganze | |
Staaten mit ihrer Verwaltung und ihrer Armee… in Marokko, Ägypten, | |
Tunesien, auf gewisse Art auch in Algerien. | |
Wo bleibt da für Intellektuelle noch Platz? | |
In den arabischen Ländern hat der Intellektuelle keinen Platz. Es gibt nur | |
die Macht und das Volk. Der Intellektuelle und sein Einfluss ist ein | |
Produkt des Okzidents des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung. In unseren | |
Ländern sind wir nichts weiter als Verräter, Kreaturen des Westens. Unser | |
Jahrhundert der Aufklärung steht noch aus. Was mir Sorge bereitet: Die | |
Stimme der arabischen Intellektuellen ist nie zu hören. Egal bei welchem | |
Problem auf dieser Welt mischen sich die westlichen Intellektuellen ein, | |
halten Kongresse ab, schreiben Manifeste. Die arabischen Intellektuellen | |
schweigen. Wir müssen uns befreien, von der Macht, der Religion, von der | |
arabo-muslimischen Kultur, die einen Araber dazu zwingt, wie ein Araber zu | |
denken. | |
13 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
## TAGS | |
UN | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
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