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# taz.de -- Holocaust-Überlebende macht HipHop: Unter Rappern
> Esther Bejarano, 87 Jahre alt, überlebte Auschwitz, weil sie Akkordeon im
> Mädchenorchester spielte. Heute singt sie in einer HipHop-Band.
Bild: Es ist noch lange nicht gut mit Auschwitz: Esther Bejarano auf der Bühne.
Kann es nicht langsam gut sein mit Auschwitz? Esther Bejarano tanzt. Sie
hebt vorsichtig den linken Fuß, wenige Zentimeter nur, dann den rechten,
immer im Wechsel, sie schaut zu Kutlu rüber, links auf der Bühne, sie
sammelt die Kraft, die ihr Körper aufbringen kann. Und lächelt. Die Menge
klatscht, Kutlu küsst sie auf den Kopf, er muss sich runterbeugen. In ihr
Mikro ruft er: „Isch liebe Esther!“
Es ist ein Freitagabend im April, ein kleines Kulturzentrum im Osten
Hamburgs, sie stehen zu dritt auf der Bühne: Esther Bejarano, 87, ihr Sohn
Joram, 60, und Kutlu Yurtseven, 39. Drei Generationen, sie nennen sich
Microphone Mafia und machen gemeinsam HipHop.
Ihr Beat ist einfach, man könnte ihn billig nennen, bam, ts, ts, bam, ts,
ts, bam, wummert es aus den Boxen. Kutlu rappt los.
Ich sehe junge Soldaten,
die können’s kaum erwarten.
Stehen in den Startlöchern,
um Unheil zu starten.
Doch ihre Augen verraten:
Wo werden wir begraben sein?
Joram Bejarano begleitet auf dem Bass, Esther klebt ihre Lippen ans Mikro.
Müde sieht sie aus, ein wenig schwach, sie hustet zur Seite und haucht
dann: „Shir la Shalom“, ein Friedenslied.
„Nein, es kann nicht langsam gut sein mit Auschwitz“, sagt sie drei Wochen
später. Sie sitzt in einem Ohrensessel in ihrem Wohnzimmer. Sie will heute
ihre Geschichte erzählen, die Geschichte vom Konzentrationslager, vom
Mädchenorchester und davon, wie sie zum HipHop kam – und sie will davon
erzählen, warum diese Geschichte erzählt werden muss. Immer wieder.
## Mit 16 im Arbeitslager
Sie beginnt in den dreißiger Jahren, der Vater ist Oberkantor der jüdischen
Gemeinde in Saarbrücken, später in Ulm, er arbeitet auch in der Oper, und
zu Hause gehen die Opernsängerinnen ein und aus. Den ersten
Klavierunterricht erhält „Krümel“ mit sechs, so nennen sie Esther, sie ist
die Jüngste.
Mit der Machtübernahme der Nazis wird es immer schwieriger für sie, Kind zu
bleiben. Bejarano kommt 1941 ins Arbeitslager, da ist sie sechzehn.
„Das war eigentlich noch ganz okay“, sagt sie. Sie arbeitet bei
Fürstenwalde in einem Blumengeschäft. Zwangsarbeit. Die Leute sind sehr
nett zu ihr, sie geben ihr auch mal zu essen. Zwei Jahre bleibt sie dort,
wo ihre Eltern sind in dieser Zeit, wo ihre Schwester ist, das weiß sie
nicht. Erst nach dem Krieg wird sie erfahren: Alle drei sind tot.
Erschossen von den Deutschen.
„Avanti popolo, perché il popolo trionferà!“ Vorwärts, Volk, denn das Vo…
wird triumphieren. Langsam bewegt sich Esther Bejarano etwas sicherer an
diesem Hamburger Abend, seit Wochen schleppt sie eine Bronchitis mit sich
herum, es wird nicht besser. Aber es muss gehen jetzt. Sie hat nie
aufgehört zu singen, aufgehört Musik zu machen. In Auschwitz nicht, auch
nicht später in Israel und heute nicht in Deutschland.
## Es darf nie wieder passieren
Ihre Botschaft ist eine, die nicht überrascht, eine, die nachfolgende
Generationen oft gehört haben, derer sie vielleicht ein wenig müde geworden
sind: Es darf nie wieder passieren. Dass die Nazis komplette
Bevölkerungsgruppen ausrotten, weil sie einer bestimmten Religion
angehören, das gleiche Geschlecht lieben oder behindert sind.
Deshalb ist sie Mitglied geworden bei der Microphone Mafia, sie wollte die
Jugend erreichen. Kölner Jungs aus dem italienischen und türkischen
Arbeitermilieu haben die Band gegründet, 1989, der Name war einfach ein
Witz, sagen sie. Mittlerweile sind die Jungs zu Männern geworden, zu
Lehrern und Köchen, die weiter über ihr Kölner Viertel rappen, die Probleme
auf der Straße und den Spagat zwischen Deutschland und ihren
Herkunftsländern – der anstrengend und schön zugleich sein kann.
Esther Bejarano holten sie vor vier Jahren dazu, um ein Zeichen zu setzen
gegen die Nazi-CDs, die damals an Schulen verteilt wurden. Sie nahmen eine
eigene Platte auf: „Per la vita“, ein Mix aus den musikalischen Einflüssen
verschiedener Länder, italienische Arbeiterlieder, jüdische Volkslieder,
griechische Widerstandslieder von Mikis Theodorakis oder türkische Gedichte
aus dem Exil: Sie legten einen Beat drunter, rappten dazu. Esther Bejarano
sang die Melodien oder las, wie jetzt, einen ihrer Texte:
Schaut in unsere Augen, und
seht die Entschlossenheit.
Hört unseren Protest, unsere
Gesänge.
Die Sehnsucht nach
Menschlichkeit,
das wichtigste Kapital der
Erde, der Menschheit.
Von Weitem, auf der Bühne, strahlt sie eine Würde aus, eine Grazie, die
bezaubert, in ihrem einfachen Schwarz, mit ihren roten Wangen, dem
silbernen Medaillon um den Hals, dem weißen Haar, das sie ganz kurz trägt.
Ihre Körperspannung ist die einer Musikerin, die genau weiß, was sie tut.
Von Nahem, in ihrem Ohrensessel, sieht man, wie sich feine Fältchen und
Altersflecken über ihr Gesicht ziehen, ihre Wangen leicht eingefallen sind.
Aber dann: diese Augen! Zweifarbig, an der Pupille braun, nach außen hin
grün. In den Stunden dieses Nachmittags, in denen Esther Bejarano sitzt und
erzählt, wechseln ihre Augen. Sie werden traurig und feucht. Sie blitzen
böse. Sie lachen. Alterslos.
## Mir geht's beschissen
Bejarano wohnt im Norden Hamburgs, in Groß Borstel, und wenn sie nicht
Konzerte gibt, Lesungen hält oder Preise überreicht bekommt – zuletzt das
Große Bundesverdienstkreuz –, arbeitet sie ein bisschen im Garten, der an
ihre Erdgeschosswohnung grenzt. Groß Borstel ist ein Viertel, in dem viele
Alte wohnen, und in dem die Handwerker freitags um 15 Uhr ihre Geschäfte
schließen. Sauber und ruhig ist es hier, eine Frau zupft Unkraut vom
Fahrradweg.
Esther Bejarano ist für klare Worte. Als sie die Tür öffnete, sagte sie:
„Guten Tag. Mir geht’s beschissen.“ Der Husten quält sie immer noch, ihre
Allergie gegen Birken und Haselnüsse sowieso. Aber erzählen will sie
trotzdem.
1943 wird sie in ein Sammellager in Berlin gebracht. Von dort geht es
weiter in Viehwaggons. Tausend Menschen sind es, manche sterben während der
Reise, die Tage dauert. Immer wieder müssen die Waggons halten, es ist
Krieg, viele Gleise sind blockiert. Es gibt keine Klos, nichts zu essen
oder zu trinken, und die 18-jährige Esther schämt sich, vor den anderen in
die Hocke zu gehen.
Dann die Ankunft: 20. April 1943, Hitlers Geburtstag. „Arbeit macht frei“,
der Schritt durch das Tor. Auschwitz. Zwei Männer in zivil teilen sie auf,
„Du kommst ins Arbeitslager“, sagen sie zu Esther. Gehbehinderte, Alte und
Schwangere sollen auf Lastautos und weiterfahren. Sie sieht sie nicht
wieder.
Es geht in die Sauna, wie KZ-Aufseher den riesigen Saal nennen, in dem sich
die Häftlinge nackt ausziehen müssen, ihnen werden die Haare geschoren, sie
bekommen eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert. Esther Bejarano,
die junge Frau mit der musikalischen Begabung, wird zur Nummer 41948.
Und Esther Bejarano arbeitet. Vier Wochen lang schleppt sie Steine, von der
einen Seite des Feldes auf die andere. Nach vier Wochen ist sie körperlich
am Ende, „das war die Devise der Nazis, Vernichtung durch Arbeit“, sagt
sie. Wie lang kann sie das durchhalten?
„Viva la libertà!“, mittlerweile steht das Publikum, klatscht mit, der Beat
ist härter, das Lied mit einem Walzer unterlegt.
Wahres Leben ist,
da wo Freiheit ist.
Ja, wir sagen klar:
Viva la libertà!
Kutlu umarmt Esther Bejarano von hinten, wie ein Riese die kleine Greisin,
liebevoll gehen die Bandmitglieder miteinander um, familiär, normalerweise
sind sie zu viert oder zu fünft. Esther Bejarano ist 1,50 Meter groß, „und
ich bin schon drei Zentimeter geschrumpft! Am Ende bleibt nichts mehr von
mir übrig.“
In Auschwitz schlafen sie in Kojen, zu siebt oder acht in einem Block, kein
Stroh, keine Matratze, kein Kissen, keine Decke. Ein fünf Zentimeter hoher
Brotlaib ist ihre Wochenration – und Tauschmittel. Gegen Zahnpasta, Seife.
Oder einen Wollpulli. „Für den musste ich einen kompletten Laib abgeben,
aber mir war so kalt.“ Die Wärme ist wichtig im KZ, deshalb isst sie auch
die Suppe aus Kartoffelschalen und Brennnesseln, die sie eigentlich ekelt.
Dann hört sie, was ihr später das Leben rettet: Ein Mädchenorchester soll
her, die Polin, die es leiten soll, sucht Musikerinnen. Instrumente gibt es
genug – Beute der Nazis. „Klar kann ich Akkordeon spielen“, sagt sie und
ist drin. „Die rechte Hand war kein Problem“, erklärt sie heute. Das ist
wie beim Klavier. Aber die linke, diese Knöpfe mit den Akkorden, wo ist
C-Dur? Wo G-Dur? Nach etwas Üben und Hören beherrscht sie das Instrument,
das sie nie zuvor gehalten hat.
## Heiter in die Gaskammer
„Du hast kein Glück bei den Frauen, Bel Ami“ – an diesen deutschen Schla…
erinnert sie sich noch. Und sonst? „Märsche.“ Heiteres, Rhythmisches sollen
sie spielen, den Insassen aufspielen, damit der Gang leichter fällt. Der
Gang in die Gaskammer.
„Das war eigentlich das Schlimmste, was mir widerfahren ist in Auschwitz.
Du konntest gar nichts machen. Du musstest spielen, und du wusstest genau,
dass diese Menschen in den Tod gehen. Nur sie wussten es nicht. Sie haben
dich angeschaut, angelächelt, und wahrscheinlich gedacht: Wo Musik ist, da
kann uns nichts Schlimmes widerfahren. Bis heute sehe ich diese Bilder der
Menschenkolonnen vor mir, die in den Tod gingen.“
Esther Bejarano überlebt. Kurz vor Kriegsende kommt sie ins KZ Ravensbrück,
bei einem Marsch 1945 gelingt es ihr, zu fliehen. Die Russen, auf die sie
und ein paar andere Frauen abends treffen, zünden ein Hitlerbild an, ein
Lagerfeuer. Hitler ist tot, sagen sie, Hitler ist tot, ruft Bejarano, „ich
war so glücklich“, sagt sie heute. Die Frauen tanzen mit den Soldaten ums
Feuer, um das brennende Hitler-Bild, Bejarano spielt, das Akkordeon hatte
sie mitgenommen. „Es war nicht nur meine Befreiung. Es war meine zweite
Geburt.“
Sie geht nach Tel Aviv, studiert dort klassischen Gesang, lernt ihren Mann
in einem Chor kennen, sie heiraten, bekommen zwei Kinder. Sie lässt sich
die Nummer 41948 entfernen. Heute ist nur noch ein kleiner weißer Streifen
auf ihrem linken Unterarm zu sehen.
Aber ihr Mann verträgt die Hitze nicht in Israel – vielleicht doch noch mal
Deutschland? 1960 ziehen sie nach Hamburg. Eine Stadt, in der sie noch nie
war. Eine fremde Stadt, ohne schlimme Erinnerungen.
## Noch lange nicht gut
Sie eröffnet eine Boutique, das wollte sie schon immer, Stoffe und Kleider
von allen Kontinenten. Eines Tages sieht sie einen Stand vor ihrem Laden,
auf dem Sonnenschirm drei schwarze Buchstaben: NPD. Wieder die Nazis.
Esther Bejarano beginnt, sich politisch zu engagieren. Sie geht an Schulen,
liest aus ihren aufgeschriebenen Erinnerungen – und trifft auf die
Microphone Mafia.
Sie ist heiser jetzt, sie kann nicht mehr, sie kommt trotzdem noch mal auf
die Bühne, ein letztes Lied geht noch, dann ist Schluss. „So, jetzt könnt
ihr unsere CDs vorne kaufen!“, ruft Kutlu. „Tja, so ist das eben, wir
Türken bleiben immer Verkäufer, ob Gemüse oder CDs, egal.“
Viele Musiker sagen irgendwann in ihrer Karriere diesen einen Satz: Die
Musik hat mir das Leben gerettet. Sie meinen damit, dass die Musik sie
befreit hat, ihnen aus einer Krise herausgeholfen hat, als sie nicht mehr
wussten, wie es weitergehen soll, weil eine Liebe zerbrach, was auch immer.
Esther Bejarano sagt diesen Satz auch.
Wird es ihr nicht langsam viel, immer wieder ihre Geschichte zu erzählen?
„Nein“, sagt sie. Es muss sein. Nazis gab es damals, Nazis gibt es heute,
die NPD hat sie vor ein paar Jahren mal „Auschwitz-Oma“ genannt.
„Wenn ich sterbe, wird es Menschen geben, die meine Geschichte
weitererzählen, eine neue Generation. Es ist eben nicht langsam gut mit
Auschwitz.“
Frau Bejarano, wollen Sie dieser neuen Generation etwas mitgeben? Sie
zögert. Sie überlegt. Sie sagt: „Bleibt immer bei eurer Überzeugung, wenn
sie euch wichtig ist. Steht zu euren Talenten, lasst euch nicht verrückt
machen. Scheut euch nicht davor, viel vor zu haben im Leben. Liebt und
haltet euch immer aufrecht.“
Dann beugt sich Esther Bejarano vor, über die Armlehne ihres Sessels. „Und
achtet die alten Menschen. Auf meinem linken Auge bin ich fast blind, das
rechte wurde bei einer Operation beschädigt. Und doch: Ich sehe alles.“
15 Jul 2012
## AUTOREN
Emilia Smechowski
Emilia Smechowski
## TAGS
Auschwitz
70 Jahre Befreiung
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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