# taz.de -- Judenverfolgung in Vichys Frankreich: 100 Meter zur Familiengeschic… | |
> 1942 wurden die Großeltern von Agathe Berman deportiert. Heute lebt sie | |
> im selben Pariser Viertel. Ein Zufall, der sie mit ihrer Geschichte | |
> konfrontiert. | |
Bild: Paris, 1943: Die kleine Annette (vorne, dritte von links) im jüdischen K… | |
PARIS taz | Sie waren Franzosen, sie waren in Frankreich. Ihnen konnte also | |
nichts passieren. Ja, es gab da Gerüchte über bevorstehende | |
Massenfestnahmen, aber das war doch wohl Schwarzseherei. Vielleicht wäre es | |
gut, wenn der Vater eine Weile aus Paris fortgehen würde. Er könnte in | |
einem Dorf im Pariser Umland als Schneider arbeiten. Leute wie er waren | |
gefragt, die aus aufgetragenen Kleidungsstücken neue schneidern konnten. In | |
den Sommerferien würde die Mutter nachkommen, mit der vier Jahre alten | |
Annette und dem zehn Jahre alten Bernard. | |
So etwa müssen Fanny und Arthur das miteinander besprochen haben, Ende | |
1941. Im Jahr zuvor hatte das französische Vichy-Regime, das mit den | |
deutschen Besatzern kollaborierte, den Juden zahlreiche Berufe verboten. | |
Ausländische Juden konnten jederzeit interniert werden. Staatschef Philippe | |
Pétain hatte das Gesetz über den Status der Juden eigenhändig verschärft, | |
wie ein erst 2010 aufgetauchtes Dokument belegt. | |
Fanny und Arthur hießen ursprünglich Guitla und Anszel Tobjasz, ihre | |
Familien waren in den 20er Jahren aus Polen eingewandert. „Glücklich wie | |
ein Jude in Frankreich“ war damals eine Redewendung, die davon zeugte, dass | |
Juden im Land der Revolution und der Menschenrechte keine Diskriminierungen | |
zu fürchten hatten. | |
Die beiden heirateten in den 30er Jahren, wurden französische Staatsbürger | |
und passten ihre Namen der neuen Heimat an. Arthur richtete sich ein | |
Schneideratelier im 11. Pariser Arrondissement ein, Fanny und eine | |
Angestellte unterstützten ihn. 11 rue Alexandre Dumas, 3. Etage, so lautete | |
ihre Adresse. | |
Wenige hundert Meter entfernt lebt heute Agathe Berman, ihre Enkelin. Eine | |
Filmemacherin, ein Energiebündel. Die 44-Jährige hat hinter den Kulissen | |
der Pariser Oper gefilmt, mit Regisseur Cédric Klapisch zusammengearbeitet | |
und ist in eine Produktionsfirma eingestiegen. Ihre Wohnung gleicht einem | |
Trödelladen voller Schätze, im Bücherregal steht eine Sammlung in Glas | |
eingegossener Medusen. | |
„Ich bin nicht wegen meiner Großeltern in dieses Viertel gezogen. Aber es | |
ist schon merkwürdig, dass ich plötzlich ganz in der Nähe wohne“, erzählt | |
Agathe und lehnt sich in ihren weinroten Sessel zurück. „Ich kannte ihre | |
Adresse, aber habe lange gezögert, dort hinzugehen. Ich wollte keine | |
Mikrogeschichte betreiben und mich davon aufsaugen lassen. Ich hatte das | |
Gefühl, dass das eines Tages von allein auf mich zukommen wird.“ Und so | |
sollte es tatsächlich kommen. | |
## Er ging noch Brot kaufen | |
Am Französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1942, klopfte es um sechs | |
Uhr morgens bei Arthur und Fanny draußen in Villiers-sur-Loir. Französische | |
Gendarmen standen vor der Tür und wollten Arthur mitnehmen. Er bat um | |
Erlaubnis, vorher noch Brot für seine Familie zu kaufen und durfte gehen. | |
Das dauerte, wollte er fliehen? Ein Gendarm rief auf der Wache an. „Der | |
Mann ist entwischt, aber wir haben Frau und Kinder in der Hand.“ | |
Plötzlich taucht Arthur wieder auf. Unterdessen sind deutsche | |
Besatzungssoldaten von der Feldkommandatur eingetroffen. Fanny weint, ihr | |
Sohn auch. Die Tochter ist zu klein, um zu verstehen, warum alle im | |
Schlafanzug herumstehen und was die Fremden von ihren Eltern wollen. | |
Zwei Franzosen nehmen Arthur in die Mitte und führen ihn ab, Fanny muss ins | |
Auto der Feldkommandatur einsteigen. Dem deutschen Soldaten laufen Tränen | |
über das Gesicht. Wahrscheinlich hat er selber Familie. | |
„Das alles hat mir meine Mutter erst erzählt, als sie dem Tod nahe war“, | |
sagt Agathe und zündet sich eine Zigarette an. Sie zieht den Rauch ein und | |
hält inne. „Sie erinnerte sich selber nicht an Details der Festnahme, das | |
meiste hatte sie von ihrem älteren Bruder erfahren. Aber sie wusste noch, | |
dass ihre Mutter weinte und sie selber nicht. Dafür hat sie sich ihr Leben | |
lang geschämt.“ | |
## Lange ein Tabu in Frankreich | |
Die Geschwister haben nie wieder etwas von ihren Eltern gehört. Erst lange | |
nach dem Krieg erfuhren sie, dass sie mit dem Konvoi 6 nach Auschwitz | |
gebracht wurden. Unter den 928 Erwachsenen und Kindern in den übervollen | |
Waggons waren viele, die französische Polizisten bei der sogenannten Rafle | |
du Vel d’Hiv in Paris festgenommen hatten. | |
In Frankreich war die Mitverantwortung der französischen Behörden für den | |
Massenmord an den Juden lange tabu. Erst Präsident Jacques Chirac bekannte | |
sich 1995 öffentlich dazu. Über die Pariser Razzien kamen 2010 gleich zwei | |
Kinofilme heraus, „Die Kinder von Paris“ von Roselyne Bosch und „Sarahs | |
Schlüssel“ von Gilles Paquet-Brenner. | |
Für Agathes Mutter Annette begann 1942 eine zermürbende Odyssee. Erst | |
nahmen Nachbarn sie auf, die als Widerständler selber in Gefahr waren, dann | |
ein jüdischer Briefträger, der wegen des Berufsverbot keine Arbeit mehr | |
hatte. Im Oktober brachten Gendarmen sie in das Transitlager | |
Beaune-la-Rolande. Ihr Bruder erinnerte sich später, dass es eisig kalt war | |
und sie ständig Hunger hatten. Die dort internierten Frauen kümmerten sich | |
so gut es ging um die Vierjährige. | |
Niemand weiß, warum die Geschwister dann doch nicht deportiert wurden, | |
sondern plötzlich wieder nach Paris kamen. „Es gibt keine Logik. Warum | |
wurde Fanny festgenommen, obwohl es nur für Arthur einen Haftbefehl gab? | |
Warum kamen die Kinder aus dem Transitlager wieder frei? Warum, warum? | |
Alles ist so absurd“, resümiert Agathe. Einerseits die erschreckend | |
minutiöse Organisation der Judentransporte – andererseits diese Zufälle, | |
Launen der Bürokratie. | |
## Spätes Bekenntnis | |
Sie blieben eine Weile in einem jüdischen Kinderheim, dann kam eine | |
nichtjüdische Tante nach Paris und organisierte ihre Flucht – gerade noch | |
rechtzeitig, bevor es erneut eine Razzia gab. Die Geschwister wurden | |
getrennt, die Tante nahm Annette mit in die Auvergne. „Meine Mutter | |
erinnerte sich nur noch daran, dass es dort Kirschen gab“, erzählt Agathe. | |
Sie blättert nachdenklich in dem orangefarbenen Heft, in dem sie die | |
Erinnerungen ihrer Mutter notiert hat, als diese bereits im Sterben lag. | |
Die kleine Annette wurde schließlich bei Ordensschwestern untergebracht und | |
lernte dort „Maréchal, nous voilà“ zu singen, die inoffizielle Hymne des | |
Vichy-Regimes. Als sie gerade volljährig war, heiratete sie einen jungen | |
Mann, der ebenfalls in der Shoah Angehörige verloren hatte. Das geteilte | |
Schicksal schweißte sie zusammen. | |
Agathe erfuhr erst nach und nach, was ihre Mutter erlebt hatte. „Als ich | |
noch zur Schule ging, habe ich sie eines Tages gefragt, warum ich keine | |
Kette mit einem Kreuz habe“, erinnert sie sich. Daraufhin habe ihre Mutter | |
ihr erklärt, dass sie Jüdin sei und die Nazis ihre Großeltern getötet | |
hätten. „Meine Mutter sprach nie von „den Deutschen“, nur von „den Naz… | |
Sie hatte Hochachtung vor der deutschen Kultur. „Sie hat mich immerhin | |
Agathe genannt – nach der Schwester des ’Mannes ohne Eigenschaften‘ von | |
Robert Musil“, bemerkt die Filmemacherin. | |
Die Geschichte war in der Familie immer präsent gewesen, aber niemand wagte | |
es, konkrete Fragen zu stellen. 1998 stellten die Ärzte bei der Mutter | |
Lungenkrebs fest. Sie ahnte, dass sie nur noch wenige Monate zu leben | |
hatte. Eines Tages rief sie Agathe im Büro an und erzählte ihr zum ersten | |
Mal von der Festnahme, dem Moment, in dem ihr Vater und Mutter entrissen | |
wurden. „Ich habe nie so sehr geweint wie nach dem Gespräch“, sagt Agathe. | |
Ein ungehemmter Sturzbach an Tränen. Und anschließend ein Gefühl der | |
Erleichterung. | |
Die 44-Jährige hat keine Kinder und hatte auch nie den Wunsch verspürt, | |
welche zu haben. Heute denkt sie, dass es mit der Geschichte ihrer Familie | |
zu tun hat. „Man hat meiner Mutter die Eltern weggenommen, und sie hat sie | |
durch ihre Kinder ersetzt“, meint Agathe. Ihr Mutter sei zeitlebens ein | |
melancholischer, manchmal depressiver Mensch gewesen. „Vielleicht | |
appellierte sie unbewusst an uns, dass wir sie über den Verlust ihrer | |
Eltern und all der Toten hinwegtrösten sollten. Das hat meine Energie | |
aufgesogen.“ | |
## Gestorben in Auschwitz | |
Agathe hat später ihren Großeltern nachgeforscht. Sie ist nach Auschwitz | |
gefahren, hat die Tätowierungsnummern herausgefunden und Sterbeurkunden | |
angefordert. „An schlechter Behandlung gestorben, nicht vergast“, sagt sie. | |
Und die Wohnung der Großeltern? Vor einiger Zeit traf Agathe im Supermarkt | |
eine alte Bekannte wieder, die sie aus den Augen verloren hatte. Es stellt | |
sich heraus, dass Florence* nun in der rue Alexandre Dumas 11 wohnt, in dem | |
Haus, in dem Agathes Mutter ihre ersten Lebensjahre verbracht hatte. Agathe | |
kann es kaum fassen, die Geschichte ihre Großeltern sprudelt noch an der | |
Kasse des Supermarktes aus ihr heraus. Florence lädt sie zum Essen ein. | |
Es wird ein bewegender Abend. Und es ist nicht nur die Adresse, die beide | |
Frauen miteinander verbindet. Florence hat sich mit der Geschichte des | |
Dritten Reichs befasst, sie hat in Israel studiert und singt in einem | |
Jiddisch-Chor – ohne selber Jüdin zu sein. Agathe ist neugierig. Woher | |
rührt dieses Interesse? | |
Am Ende des Abends erzählt Florence ihr die Geschichte ihrer eigenen | |
Familie: von ihrem Großvater, der der Action Française angehörte, einer | |
rechtsextremen, antisemitischen Gruppe. Und von einem Freund der | |
Großeltern. Es fällt Florence nicht leicht, mit Agathe darüber zu sprechen: | |
Er war einer der verantwortlichen Organisatoren der Rafle du Vel d’Hiv. | |
„Ich hatte etwas geahnt. Es war, als ob sich ein Kreis schließe“, sagt | |
Agathe. „Vielleicht sollten wir jetzt beide gemeinsam ein Buch schreiben.“ | |
*Name geändert | |
13 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Koltermann | |
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