# taz.de -- Milliardenhilfen für spanische Banken: Gegen die Welt | |
> Der grüne Haushaltsexperte Sven-Christian Kindler reist seit Wochen | |
> durchs Land, um die Eurokrise zu erklären. Doch so genau will es | |
> eigentlich keiner wissen. | |
Bild: „Vorsicht vor dieser Bank“, steht auf dem gelben Schild der Filiale i… | |
BERLIN/LEHRTE taz | Die Euro-Krise kann man sehen. In Deutschland zeigt sie | |
sich noch nicht offen, es gibt keine Massendemonstrationen und „verlorenen | |
Generationen“. Hierzulande versteckt sie sich noch in Details. Etwa in den | |
leichten grauen Schatten unter Sven-Christian Kindlers Augen. | |
Der 27-Jährige muss in einer Stunde schon wieder weiter, zum Berliner | |
Hauptbahnhof. Zwar hat der Haushaltsexperte offiziell gerade | |
Parlamentsferien, aber die Euro-Krise macht nun mal keinen Urlaub. Darum | |
reist der Grünen-Abgeordnete in diesen Wochen umher, um sie zu erklären. Er | |
pendelt zwischen der Hauptstadt und Orten namens Leer, Winsen oder Lehrte. | |
Vor allem aber pendelt Kindler zwischen zwei Welten, und sie werden | |
einander immer fremder. | |
Es ist Dienstag, der 10. Juli. Das funkelnde Wasser der Spree reflektiert | |
den Sonnenschein. Während Kindler in einem Café im Regierungsviertel einen | |
Schluck Kamillentee nimmt, tagen im fernen Karlsruhe die | |
Bundesverfassungsrichter. Dort wollen Antragsteller per Eilantrag | |
verhindern, dass Deutschland Ja sagt zum Fiskalpakt und zum permanenten | |
Rettungsschirm ESM. | |
ESM, Fiskalpakt, Bankenunion, Eurobonds, Transaktionssteuer – die Krise hat | |
viele neue Worte geprägt. Kindler versucht, sie Besuchergruppen und Grünen | |
zu erklären. „Da lohnt es sich“, sagt er, „finanzpolitische | |
Alphabetisierung zu betreiben.“ | |
## Was will der junge Typ? | |
In neun Tagen werden Kindler und die 619 weiteren Bundestagsabgeordneten zu | |
einer Sondersitzung zusammenkommen. Sie sollen den Milliardenhilfen für | |
spanische Banken aus dem bisherigen Rettungsschirm EFSF ihren Segen | |
erteilen. Alles soll schnell gehen. Wegen der nervösen Märkte. Aber was ist | |
das für eine Krise, die angeblich so gefährlich ist und die man trotzdem | |
hierzulande weder riecht noch schmeckt? | |
Wie erklärt ein Bundestagsabgeordneter potenziellen Wählern, dass es lohnt, | |
Ursachen und Lösungen der Krise genau zu betrachten? Kindler versucht sich | |
an einem Lächeln: „Manchen Besuchergruppen und Grünen sieht man schon an, | |
dass sie denken: ,Was will der junge Typ denn von mir?‘“ | |
Kindler muss immer wieder beweisen, dass er weiß, wovon er redet. Dabei hat | |
er Betriebswirtschaft studiert und als Controller bei Bosch gearbeitet. | |
Seit 2009 sitzt er für die Grünen im Bundestag, vertritt sie im | |
Haushaltsausschuss. Kindler ärgert sich, wie „unterkomplex“ hierzulande | |
über die Krise gesprochen wird. „Merkels Analyse lautet: Die Staaten in | |
Südeuropa haben über ihre Verhältnisse gelebt, jetzt müssen sie halt | |
sparen. Diese Analyse ist falsch.“ | |
In Wirklichkeit steckten wir seit 2007 in derselben Krise, sie habe nur ihr | |
Gesicht verändert. Es fing an mit der Immobilienkrise, daraus wurde die | |
Banken-, dann die Konjunktur- und nun die Staatskrise. Alles hängt | |
zusammen. | |
„Und es gibt die drei U’s“, sagt er. Kindler zählt sie an den Fingern ei… | |
Hand ab: „Ungleichheit von Vermögen und Einkommen. Unterregulierte Märkte, | |
vor allem Finanzmärkte. Ungleichgewichte in der Volkswirtschaft. Kann man | |
sich gut merken.“ Kindler lacht, das mit den drei U’s erzählt er oft in | |
jüngster Zeit. | |
## Logik der Volkswirtschaft verliert | |
Selbst innerhalb seiner Partei kämpft der Experte oft erfolglos für seine | |
Sicht. Auf dem Grünen-Länderrat, einer Art kleinem Parteitag, warb der | |
Parteilinke Ende Juni für ein Nein zum Fiskalpakt. Der zwinge Staaten dazu, | |
ihre Haushalte kaputt zu sparen. Die europäische Schuldenbremse werde nicht | |
funktionieren, die Staaten hätten reichlich Möglichkeiten, ihre | |
Neuverschuldung klein zu rechnen. | |
Außerdem fehle eine Bankenunion mit europäischer Aufsicht. Hingegen | |
forderten die Grünen-Parteichefs ein Ja zum Fiskalpakt. Sonst könne die SPD | |
ja behaupten, sie allein habe Merkel das Bekenntnis zur Einführung einer | |
Finanztransaktionssteuer abgetrotzt. Die Parteiführung gehorchte der Logik | |
der Politik, Kindler der Logik der Volkswirtschaft. Er und die Seinen | |
unterlagen mit 37 zu 40 Stimmen. | |
Es ist Dienstag, der 17. Juli. Finanzpolitische Alphabetisierung wird nicht | |
gerade einfacher, wenn zur selben Zeit im großen, vollen Saal nebenan die | |
138. Freisprechung der Fleischerinnung Burgdorf stattfindet. In zwei Tagen | |
wird Kindler in der Sondersitzung des Bundestages über Milliardenhilfen für | |
Spanien abstimmen. Wie, weiß er noch nicht. Seine Entscheidung will er von | |
Informationen abhängig machen, die er bei einer letzten Sitzung im | |
Haushaltsausschuss bekommt. Heute Abend erklärt er in einem Gasthaus in | |
Lehrte bei Hannover neun Grünen die Finanzkrise. | |
Hirschgeweihe an der Wand, im Schuber steht Freddy Quinns LP „Weihnachten | |
auf hoher See“. Kindler hält seinen Vortrag, so wie 50 Mal in den | |
vergangenen zwölf Monaten. Kindler hat in der nahen Landeshauptstadt seinen | |
Wahlkreis. In Lehrte sind die Grünen stark. Bei den Kommunalwahlen im | |
September 2011 bekamen sie mehr als 18 Prozent. | |
## Die grünen Zuhörer schweigen | |
Auf einer Leinwand erstrahlen die Seiten seiner Power-Point-Präsentation. | |
Das Licht scheint ihm aufs Gesicht, auf die grau schattierten Augen. „Und | |
dann gibt es die drei U’s. Ich finde, das kann man sich gut merken.“ | |
Kindlers Stimme hallt auf dem grauen Steinfußboden. Die Grünen – vier | |
Frauen und fünf Männer meist mittleren Alters – schweigen. | |
Kindler redet 45 Minuten lang. Über die „neoliberale Wirtschaftsideologie“. | |
Über Unterschiede bei den Lohnstückkosten. Er sagt: „Es geht um das | |
Leistungsbilanzsaldo Deutschlands. Hört sich kompliziert an, ist aber | |
eigentlich ganz einfach.“ Nebenan marschieren unter rhythmischem Klatschen | |
der Angehörigen die Fleischereifachverkäuferinnen und Fleischergesellen | |
ein, die das Ende ihrer Ausbildung feiern. „Große Show da drüben“, sagt | |
Kindler mit gequältem Lächeln. Er ist Vegetarier. | |
Nur einmal regen sich Kindlers Zuhörer. Einige lachen auf, als zwischen den | |
Folien mit den Grafiken und Leistungsbilanzsalden eine kommt, auf der | |
steht: „Was macht Merkel?“ Darunter zu sehen ist das grimmige Gesicht der | |
Kanzlerin. Kindler redet von den Lösungen für die Krise, von höheren | |
Steuern auf Erbschaften und Einkommen, von der Banklizenz für den ESM. | |
„Damit“, sagt er zum Schluss, „ist der Euro, glaube ich, auch noch zu | |
retten.“ Vor allem redet er von Mechanismen und Strukturen. Dann stellen | |
die Grünen Fragen. | |
## Die Suche nach Schuldigen | |
„Wer sind die Profiteure der Krise?“, fragt der Erste. „Und wer sind die | |
Gläubiger?“ Kindler kennt das schon – es ist die Suche nach den Schuldigen. | |
Er spricht nicht von „denen da oben“, er redet nicht von Josef Ackermann | |
oder „den Bankern“. Die Profiteure, antwortet er nüchtern, das seien halt | |
die Anteilseigner der Banken. | |
Ein Mann um die 50 will wissen: „Was schadet es denn, wenn Banken pleite | |
gehen? Es geht doch um die normalen Menschen, die täglich ihr Geld | |
verdienen müssen. Das scheint ja ein Tabu zu sein.“ Wenn Kindler von etwas | |
genervt ist, schaut er vor sich auf den Tisch. „Hab’ ich schon verstanden�… | |
sagt er schließlich. „Kann ich bloß nicht in zwei Sätzen beantworten.“ �… | |
„Welche Banken würden denn pleitegehen?“, will der Frager wissen. „Auch | |
Sparkassen?“ | |
„Einfach eine Bank pleitegehen zu lassen, kann eine Kettenreaktion | |
entstehen lassen. Dann kann der gesamte Bankensektor pleitegehen. Das | |
schadet der gesamten Wirtschaft.“ Kindler guckt immer noch vor sich auf den | |
Tisch. | |
Ein anderer will wissen: Landeten die Schulden bei einer Bankenpleite nicht | |
„nur bei Spekulanten“? Kindler wischt sich über den Mund und sagt: „Du | |
musst schon ökonomisch verstehen, was passieren könnte.“ Ein Zusammenbruch | |
des Euro führe zu 3 bis 4 Billionen Euro zusätzlichen Schulden. | |
## Alle wollen Schuldige | |
Kein Zuhörer an diesem Abend fragt nach den drei U’s, die man sich so gut | |
merken kann. Niemand fragt nach dem Nutzen einer Banklizenz für den ESM. | |
Kindler kennt das Phänomen. Auch viele Grüne wollen nichts wissen über | |
volkswirtschaftliche Ursachen und Folgen der Krise. Es geht ihnen nicht um | |
Mechanismen und Strukturen. Sondern um die Benennung von Schuldigen und den | |
Wunsch, sich selbst auf der moralisch richtigen Seite zu wähnen. | |
Dagegen kommt Kindler nicht an. Er will das kapitalistische | |
Wirtschaftssystem nicht einfach verdammen, auch wenn seine Zuhörer das gern | |
so hätten. Der Abgeordnete begreift sich selbst als Linker. Aber das heißt | |
für ihn, das System verstehen zu lernen, um es dann anderen erklären und | |
verändern zu können. | |
Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Kindler packt den Laptop ein, die | |
Grünen schenken „dem Christian“ zum Dank eine Flasche Club Mate und | |
Bio-Rotwein. Dann gehen sie nach Hause. Kindler wird am nächsten Morgen | |
wieder nach Berlin fahren. Im Saal nebenan geht die Freisprechung weiter. | |
19 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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