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# taz.de -- Debatte Kulturjournalismus: Schafft das Feuilleton ab!
> Die Kulturseiten einer Zeitung waren für die bürgerlichen Gesellschaften
> dazu da, Geschmack herzustellen. Heute sind sie ein bornierter
> Ramschladen. Wie ist das passiert?
Bild: Schön an Zeitungen ist ja, dass man mit ihnen so viel machen kann, ohne …
Das Feuilleton ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts eines der fünf Ressorts
einer Zeitung, die dem Bürger entspricht: Politik, Wirtschaft, Kultur,
Lokales und Sport. Diese Ressorts entsprachen ziemlich genau dem Aufbau
einer bürgerlichen Persönlichkeit, und zwar sowohl durch das Vorhandensein
der einzelnen Elemente als auch durch ihre Trennung.
Subressorts rundeten seitdem das Bild ab und integrierten den Anhang des
Bürgers, nämlich seine Frau und seine Kinder: Reise, Motor & Technik,
Comic-Section, Modebeilage, Kirche, Küche und Hund.
Es ging um folgende Fragen: Wer ist Freund und wer ist Feind? („Politik“).
Wo liegt mein wirtschaftlicher Vorteil? („Wirtschaft“). Wozu ist meine
Bildung gut? Welchen Geschmack soll ich zeigen? („Feuilleton“). Wo sind
meine Wurzeln und wo mein direktes Feld von Eingriff und Ergriffenwerden?
(„Lokales“). Was zum Teufel soll ich mit meinem Körper anfangen? Was ist
Leistung, was Held, was gezügelte Leidenschaft? Wie verstecke ich mein
Begehren in der Leistung? („Sport“).
## Die bürgerliche Zeitung ist tot
Die bürgerliche Zeitung und die bürgerliche Persönlichkeit entsprachen
einander so perfekt, dass eines ohne das andere nicht mehr zu denken
gewesen ist.
Nun ist die bürgerliche Zeitung seit geraumer Zeit in der Krise. (Ja,
Krisen haben wir in der Tat reichlich.) Als Gründe dafür werden weitgehend
äußere Faktoren ausgemacht: Alles wird teurer. Die Leute haben keine Zeit
mehr, und Lesen strengt sie zu sehr an. Die Konkurrenzmedien sind
schneller, billiger und bunter. Der Nachwuchs fehlt, Zeitunglesen ist eine
aussterbende Kulturtechnik, Zeitungschreiben noch viel mehr, den wachsenden
„Kinderseiten“ zum Trotz. Die Medienkonzerne haben den Markt der
periodischen Publikationen nach Kräften ruiniert. Die verschwimmenden
Grenzen zwischen Kultur und Unterhaltung machen die Geschmacksdiskurse
weitgehend obsolet; warum dann nicht gleich fernsehen.
Mag alles sein und noch viel mehr. Aber vielleicht gibt es einen noch
triftigeren Grund für das Verschwinden der bürgerlichen Zeitung: Die
bürgerliche Persönlichkeit, die einer Zeitung zur Ordnung der Welt bedarf
und die sie herstellte, die gibt es (bald) nicht mehr. Die Erosion des
Feuilletons ist also ein Symptom einer allgemeinen Zeitungskrise, welche
ihrerseits ein Symptom des Zerfalls der bürgerliche Persönlichkeit sein
mag, die wiederum ein Symptom … Na ja, Sie wissen schon Bescheid.
Der gute Geschmack war einst für die innere Verfassung einer bürgerlichen
Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Einerseits war es eine mächtige
Ordnungskraft, und schon deswegen war es mindestens genauso wichtig, immer
wieder gegen ihn zu verstoßen. Daraus entstand für den kulturellen Diskurs
eine heikle Dialektik. Den Geschmack des Publikums zugleich zu erfühlen und
zu bedienen, zu führen und „pädagogisch“ zu beeinflussen und immer wieder
auch dramatisch zu attackieren. Zugleich der Diktatur des guten Geschmacks
zu entgehen und ihn als Orientierungsgröße zu erhalten.
Kunst und Kultur jedenfalls waren für die bürgerlichen Gesellschaften
perfekte Maschinen zur Herstellung des Geschmacks, so wie der Geschmack
gleichsam die Innenausstattung einer Klassenkultur war, die nachträglich
legitimierte und erlöste, was in den Ressorts zuvor, der Politik und der
Ökonomie, verbrochen wurde.
## Organisierte Schizophrenie
Die Ressorts der bürgerlichen Zeitung also sprachen nicht allein von der
inneren Ordnung der bürgerlichen Person, sondern auch von ihrer
organisierten Schizophrenie. Im Kulturteil würde man sich dafür schämen,
wozu man sich im Wirtschaftsteil anstandslos bekennt. Das Feuilleton indes
hat nun längst eine andere Funktion übernommen.
Es ist auf der einen Seite eine Art Garbage Collection; hier bringt man
unter, was in den anderen Ordnungen nicht funktioniert. Es ist der
Ramschladen des bürgerlichen Selbstverständnisses geworden. Zum Beispiel
politische Kommentare, die die Grenzen zum Essay überschreiten, oder die
Generallinie des Blatts, mal nach links, zunehmend nach rechts.
Um gesellschaftlich zu wirken in einer bürgerlichen Gesellschaft müssen
nämlich Kunst, Wissenschaft und Kritik in der einen oder anderen Weise
„feuilletonisiert“ werden, und es war zweifellos das Feuilleton, das den
progressistischen Flügel des Bürgertums zu einem Selbstbewusstsein verhalf.
Der Rückweg des deutschen Bürgertums aus dem Faschismus in die
demokratische Zivilgesellschaft wäre ohne das Feuilleton wohl nicht so ohne
Weiteres vonstattengegangen.
## Daumen rauf, Daumen runter
In Westdeutschland aber wurde das Feuilleton zum ausführenden Organ eines
Oberlehrer- und Kulturbeamtenjargons. Es wurde zur Fortsetzung des
Gymnasialunterrichts mit anderen Mitteln, und die Kritik arbeitete und
arbeitet am liebsten mit den Mitteln von Korrektur und Zensurenverteilen.
Aus einem Projekt zur Öffnung und Erweiterung der Diskurse wurde das
Instrument zum Inkludieren und Exkludieren.
Denn „feuilletonistisch“ ist ja stets ein Offen- und Unernstlassen, ein
Spielerisches und Vages, ein Experimentelles, Vorläufiges und Gewagtes. Man
könnte behaupten: Ein deutsches Feuilleton sei ein Widerspruch in sich.
Oder anders: Die Nachkriegsgeschichte des deutschen Feuilletons ist die
Geschichte seiner Selbstaufhebung. Und man kann zweifellos behaupten, dass
das Feuilleton nicht zuletzt eine softe Form der Zensur ist. Wenn auch
weniger über das Verbotene verhandelt wird als über das Geschmacklose oder
das „Unbedeutende“.
Das Problem mit dem schrumpfenden Feuilletonismus liegt nun darin, dass es
immer weniger Menschen sind, die gegenüber einer immer größeren
ästhetischen und diskursiven Produktion entscheiden, was verhandelbar ist
und was nicht. Und diese wenigen Menschen achten viel weniger darauf, was
in der Welt los ist, als darauf, was die Konkurrenz macht. Aus einem
ursprünglich zur Öffnung der Diskurse gedachten, lockeren und
experimentellen Submedium ist ein geschlossenes selbstreferentielles und
dogmatisches Instrument zum kulturpolitischen Mainstreaming geworden. Was
im deutschen Feuilleton gelandet ist, ist so gut wie tot.
Der Feuilletonismus ist aus dem Feuilleton ausgewandert in den neuen
Kolumnismus. Die Kolumnen nehmen bei ihrer Migration die Leichtigkeit, aber
auch, gelegentlich, den Geistreichtum, manchmal sogar ein klein wenig
intellektuellen Wagemut und Widerspruchsgeist mit, meistens aber bloß die
schamlose Ichsagerei. Feuilletonistische Kolumnen finden sich längst
beinahe überall, nur nicht mehr im Feuilleton. Dort machen sich stattdessen
Gastbeiträge der Prominenten breit, von denen man sich das eine oder andere
Skandälchen verspricht, oder aber einfach, äh, die Connection.
8 Aug 2012
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Kultur im Internet
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
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