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# taz.de -- Das Schlagloch: Kruzifix nochmal!
> Religionskonflikte sind immer auch Indizien für kulturellen Zerfall. Der
> wird sich ohne bindenden Vertrag zwischen Religionen und Gesellschaft
> fortsetzen.
Bild: Die Zugspitze: Mit Postkartenschnee und einem religiösen Symbol.
Überall, wo Gesellschaften ökonomisch und kulturell zerfallen, entwickeln
sich Spannungen und Konflikte zwischen den Religionsgruppen. Hinterher mag
man sich fragen: Erzeugt die Hinwendung zu religiösem Fundamentalismus, als
letzter und radikalster Form von Identitätspolitik, die Gewalt, oder
erzeugt die soziale Gewalt, die große Teile der Bevölkerung erleben, eine
Flucht in die Religion?
Klar ist nur: Wer Religion als Rekonstruktionsmittel einer angeknacksten
Persönlichkeit und eines zerfasernden Kollektivs braucht, benötigt auch
einen Gegner. Ist also möglicherweise jede Form von religiöser Verdichtung
und Veräußerlichung ein Vorzeichen von Gewalt? Kann zu viel Religion den
Rechtsstaat gefährden?
Die Sache beginnt mit kleinen, grotesken Episoden: So zeigt ein
Werbeprospekt für arabische Touristen in diesem Jahr die Zugspitze ohne
Gipfelkreuz, woraufhin ein Weihbischof namens Wolfgang Bischof öffentlich
den Eindruck rügte, „man wolle die religiösen Wurzeln Bayerns verleugnen“.
Nett war die entschuldigende Begründung der Tourismusfachleute, die in
aller Unschuld verkündeten, für Besucher aus den arabischen Ländern stehe
nun mal eben der Schnee auf der Zugspitze im Vordergrund.
## Niederträchtige Anwürfe
Die meisten Symptome der neuen religiösen Blasen, die unsere Gesellschaft
schlägt, sind nicht so lustig. Vor Jahr und Tag gab es eine
Auseinandersetzung um Kruzifixe im Schulzimmer, dann kamen Thilo Sarrazins
niederträchtige Bemerkungen über die Herstellung von „Kopftuchmädchen“;
dann sorgte ein inkontinenter Papst für Aufregung. Andernorts konnten
Karikaturen des Propheten zum Lebensrisiko werden. Was erkennbar wird, ist
der Wille zu kränken, und der Wille, gekränkt zu sein.
Das Bild eines Papstes mit Pinkelfleck, über das sich die einen aufregen,
zu dem die Gutdemokraten sich aber nur zu sagen beeilen, es sei
geschmacklos, aber doch durch die kulturelle Freiheit gedeckt, ist einer
der Versuche, die Belastbarkeit des Paktes zwischen Kirche und Demokratie
auf die Probe zu stellen.
Während die Mehrheit in Deutschland zu gegenseitiger Mäßigkeit mahnt, ist
sie zugleich mehrheitlich bereit, die Mitglieder des Kunstprojekts Pussy
Riot in Moskau als Märtyrer der Freiheit zu akzeptieren; nur eine
Minderheit stellt sich vor, was geschehen wäre, wenn die Performance im
Kölner Dom stattgefunden hätte. Auch Blasphemie ist offensichtlich eine
Frage des Zusammenhangs.
Aber es geht weiter. Auf der einen Seite steht ein sonderbares Urteil des
Landgerichts Köln, das befand, die Beschneidung von Jungen aus religiösen
Gründen sei eine „strafbare Körperverletzung“, auch mit der Zustimmung der
Eltern, da diese „nicht dem Wohl des Kindes entspreche“.
## Kleiner Schnitt am Schniepel
Auf der anderen Seite sind die Ärzte bei einer Frau, Mitglied der Zeugen
Jehovas, die unter ihren Händen verblutet, machtlos, da sie aus religiösen
Gründen eine Bluttransfusion ablehnt. Das Wohl des Kindes einer Mutter, die
vor seinen Augen stirbt, weil ihre verbohrte Religion eine einfache
lebenserhaltende Maßnahme verbietet, wiegt also weniger als der kleine
Schnitt am Schniepel?
Aber mit den hilflosen Versuchen einer Justiz, darauf zu reagieren, dass
Religion fast immer ein Eingriff auch ins Körperliche ist, ein Symbol- und
Ritenkrieg, der immer wieder mit den Grundlagen einer aufgeklärten
Zivilgesellschaft in Konflikt geraten muss, ist es nicht genug.
Denn als die Bundesrepublik Deutschland noch ein vorwiegend von Christen
bewohntes Land war, mit tolerierten, aber niemals als gleichwertig
betrachteten Nischen für „Andersgläubige“ (so hieß das noch vor gar nicht
allzu langer Zeit auf offiziellen Fragebögen), hielt man sich keineswegs an
eine strikte Trennung von Staat und Kirche.
Im Gegenteil, eine sehr staatstragende Partei nannte und nennt sich
christlich, die Kirchen waren in den unterschiedlichsten Gremien vertreten
und sind es noch, und eine staatlich erhobene Kirchensteuer (etwas ziemlich
Spezielles in unserem Land) alimentierte die beiden christlichen Kirchen
für manches Gutes und für etliches weniger Gute.
## Verzicht auf Missionierung
Mit anderen Worten: Die „Andersgläubigen“ kommen zwar in einen
demokratisch-toleranten Staat, nicht aber in einen säkularen. Die Forderung
nach ihrem freiwilligen Verzicht auf Präsenz im öffentlichen Raum muss
daher als Demütigung empfunden werden. Innere „Religionskriege“ sind
vorprogrammiert in einer Gesellschaft, die ihr Verhältnis zur Religion so
lange Zeit in einem so wohlwollend diffusen Licht gehalten hat. Wer in
einer demokratischen Zivilgesellschaft leben will, muss Religion daher
demokratisieren und zivilisieren.
Die Voraussetzungen dafür liegen auf der Hand: Eine Verrechtlichung der
Beziehung mit genauen Beschreibungen von Rechten und Pflichten. Eine
„weiche“ Grenze der Belastung durch „Blasphemie“, insbesondere dort, wo…
nicht um böse Absicht geht. Der Verzicht auf Missionierung. Das Verbot
religiöser „Geheimgesellschaften“. Eine eindeutig mandatierte Institution
als Ansprechpartner. Man kann die Liste verlängern; nichts davon ist zu
viel verlangt.
Aber das Problem liegt tiefer. Die vielen Blasen, die auf der Oberfläche
der Gesellschaft aufsteigen und von kommenden religiösen Konflikten künden,
entstehen nicht zuletzt, weil die Zivilgesellschaft für ihre Mitglieder
Sinn nicht mehr produzieren kann und will. So konkurrieren die Religionen
nicht nur untereinander, sondern auch mit einer unter Ökonomisierung und
Privatisierung zerfallenden Zivilgesellschaft.
So erschreckend die Einzelfälle sind: Sie besagen, dass es in dieser
Gesellschaft kein Konzept dafür gibt, mit religiöser Vielfalt umzugehen. Es
fehlt an einem demokratischen Grundvertrag zwischen den Religionen und der
Gesellschaft, zwischen Kirchen und Staat. Und solange es den nicht gibt,
wird es Kämpfe um Hegemonien und religiöse Hate Crimes geben. Und ein paar
sehr alte/ganz junge Deutsche werden ihre schwarzbraune Suppe auf diesem
Feuer kochen.
5 Sep 2012
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Kopftuch
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