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# taz.de -- Das Schlagloch: Fahnensucht und Volks-TV
> Der neue deutsche Konsum- und Unterhaltungsnationalismus lehrt das
> Fürchten. Die Fahnen sind kein Spaß, sondern die Lizenz zur Regression
> als Lebenshaltung.
Bild: Der Partypatriotismus verursacht Arbeit und Kosten: Ein Konsumnationalist…
Es ist ja nicht so, dass man jemandem die mehr oder weniger kontrollierte
Form von nationaler Regression anlässlich großer Sportereignisse nicht
gönnen würde. Es gibt sonst so wenig, woran man sich halten kann.
Es gilt, die Krise zu vergessen, nicht wahr, und ein Fußballstadion von
national Berauschten führt doch nicht automatisch zum nächsten Einmarsch,
oder?
Doch der Konsum- und Unterhaltungsnationalismus ist auf Dauer gewiss nicht
so harmlos und menschenfreundlich, wie er karnevalisiert und freizeitlich
daherkommt. Würden wir noch wagen, unsere Gesellschaft genauer anzusehen,
so würden wir einen semantischen Befall des deutschen Mainstream erblicken,
vor dem einem nur grauen kann.
Seit geraumer Zeit können wir beobachten, dass sich hierzulande eine
Verbindung von Nationalismus und „Volkstümlichkeit“, kurz vor dem Umschlag
ins „Völkische“, mit der Pop- und Freizeitindustrie entwickelt, die es
anderswo nicht gibt. Das Nationale (gern mit Sport) und das Volkhafte (gern
mit Dumdideldei und Dschingdarassa) sind zur Massenzeichenware geworden,
die ihre Anlässe, Sportevent und Volksfest, weit überdauert. Man will sich
von den Fähnchen gar nicht mehr trennen, man hätte am liebsten jeden Tag
„Volksfest“. Wo kommt das her, und wo will das hin?
## Reaktion des Kleinbürgers
Eine Ursache dafür ist wohl die paradoxe Reaktion des deutschen
Kleinbürgertums auf die Krise. Es ist ja weder „der rechte Rand“, noch sind
es unbedingt besonders Fußball-affine Menschen, die sich dem neuen
deutschen Fahnenrausch hingeben, als vielmehr die Angehörigen jener in
Auflösung begriffenen Mitte, die ökonomisch und kulturell zersprengte
Mehrheit, die um ihren sozialen, politischen und kulturellen Status nicht
mehr weiß. Man versucht zugleich, möglichst viel Wirgefühl und kollektive
Wärme zu erzeugen und sich trotzdem persönlich hervorzutun, immer noch
größer, besser, mehr als die anderen zu sein.
Das nationale Zeichen verspricht, das Zerbrochene zusammenzuführen, das
Private und das Soziale; nur in diesem Zeichen ist es nicht konträr. Und
diese blitzrasche Heilung kann nur als Rausch empfunden werden, denn es
handelt sich ja um eine Illusion: Nach der EM ist man von Politik und
Gesellschaft genauso alleingelassen wie vorher, und man ist, umgekehrt,
genauso auf seine Fähigkeit zur sozialen Rücksichtslosigkeit angewiesen.
Eine solche widersprüchliche Haltung führt entweder in die Neurose oder
aber in die eine oder andere Lightversion von Faschismus.
## Erbärmliche Volkskonjunktur
Übrigens hat auch dieses „Volks“-Warenhafte erbärmliche Konjunktur, nach
der Volksmusik und dem Volkswagen werden Volkscomputer, Volksversicherungen
und nun endlich ein Volks-TV angeboten.
Diesen „Volksprodukten“ mit ihrem signifikanten Schwarz-Weiß-Rot ist
mittlerweile so schwer zu entgehen wie den Nationalfähnchen im
Straßenverkehr. Der von Prekarisierung bedrohte Mittelstand möchte sich
durch den Konsum nicht nur in die Deutschheit, sondern auch in die
Volkstümlichkeit einkaufen und absentiert in beidem alte bürgerliche Werte
wie, nur zum Beispiel, Zurückhaltung, Mäßigung, Vernunft, Geschmack und
Würde.
## Die Lizenz zur Regression
Das Nationale und das Volkstümliche, in das man sich einkauft, scheint die
Lizenz zur Regression als Lebenshaltung mit zu versprechen. Dabei kann die
hedonistisch-politische Masse sich jeweils perfekt herausreden: Das
Hedonistische darf sich im Nationalen verbergen und das Nationale im
Hedonistischen. Es ist eine „heilige Sache“, und es ist doch nur ein Spiel.
Jede Kritik ist daher Blasphemie oder Spaßverderberei.
Irgendwann kommt auch der schiere Opportunismus dazu. Die Nachbarn haben
eine so schöne Deutschlandfahne – und wir? Ein anderer Teil der deutschen
Fahnensucht, derzeit, ist wohl eine direkte Spiegelung der rücksichtslosen
ökonomischen Nationalisierung der Politik im Merkelismus: Die Zeichen der
Deutschheit nehmen die hegemonialen Tendenzen der offiziellen Politik
ebenso auf wie die reale oder imaginierte Kritik daran. Jetzt erst recht!
So werden Fahnensucht und Volksprodukt zu einer paradoxen Reaktion auf die
Austerität als politisches Dogma: zugleich ihr Ausdruck und eine Masche,
ihr zu entkommen.
Von den transnationalen Verbrüderungen (und Verschwesterungen), die man bei
anderen Sportveranstaltungen beobachten konnte, ist nur noch wenig zu
spüren. Stattdessen werden andere Fahnen mit Hohn oder Aggression bedacht.
Und wenn anderswo die Fahnen nach dem Event eingerollt werden, weigern sich
in Deutschland die Automobil- und Fensterbesitzer seit Langem beharrlich,
ihre Stoff gewordene „nationale Identität“ in den Schrank zu legen. Die
Fußballmatches vergehen, die Fahnen bleiben.
## Absturz nach jedem Rausch
Das ist keine Sache, die ein paar national berauschte Dumpfbacken oder
Natural Born Fähnchenhänger angeht; es ist eine innere Rekonstruktion
dessen, was in der nächsten Politikerrede „Leitkultur“ genannt wird. Ein
Phänomen der jeden von uns betreffenden öffentlichen Diskurskorrektur.
Nationalismus und Volkstümelei als Waren- und Eventsprache dienen
zweifellos der Hegemonialisierung und der „Einschüchterung“ und werden als
solche genossen. Mitmachen? Cool bleiben? Den ahnungsvollen Ärger
herunterschlucken? Sich keinesfalls als Spiel- und Spaßverderber outen?
Doch bitte nicht so empfindlich sein?
So leben wir von Event zu Event, von Konsumwelle zu Konsumwelle, von
Zeichensturm zu Zeichensturm. Und erleben nach jedem Rausch Absturz und
Ernüchterung. Denn am Ende ist noch stets diese Reintegration der Masse in
die Krisen- und Finanzwirtschaftsgesellschaft gescheitert.
Morgen also brauchen wir wieder etwas anderes, um Hedonismus und
„Identität“, Ich und Wir, neoliberale Wirklichkeit und nationale Träume
unter ein Tuch zu bekommen. Den nächsten Anlass zur Fahnensucht, das
nächste Produkt für unsere Volksempfänglichkeit. Man gewöhnt sich daran,
oder?
27 Jun 2012
## AUTOREN
Georg Seesslen
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