# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Schafft das Feuilleton nicht ab! | |
> Schon lange galt es als überholt, doch immer wieder hat sich das | |
> Feuilleton neu erfunden. In ihm werden nicht mehr Zensuren vergeben, | |
> sondern das Leben hinterfragt. | |
Bild: Das Feuilleton gibt keine Noten, wird aber oft benotet. | |
Der ideale Fall für eine sogenannte Debatte ist ein äußerst kluger | |
Ausgangstext – dem man trotzdem widersprechen muss. Ein solcher Fall ist | |
der viel beachtete [1][taz-Text von Georg Seeßlen] mit dem programmatischen | |
Titel: „Schafft das Feuilleton ab!“ | |
Die bürgerliche Zeitung und die bürgerliche Persönlichkeit, schreibt | |
Seeßlen, entsprachen einander perfekt – entsprachen, denn die bürgerliche | |
Persönlichkeit, „die gibt es (bald) nicht mehr“. Das ist eindeutig. Aber | |
was tritt an ihre Stelle? Oder vielmehr: Was trat an ihre Stelle, was | |
folgte dem bürgerlichen Subjekt – denn das ist ja keine zukünftige, sondern | |
eine längst vollzogene Veränderung. | |
Dieses bürgerliche Individuum war in seinem Selbstverständnis autonom und | |
rational, jenseits davon aber war es gespalten. Es teilte sich in die | |
Krämerseele des Händlers und in die schöne Seele, die wechselseitig ihre | |
Defizite ausgeglichen haben. | |
Diese Zweiteilung ist aber längst eingezogen, die schöne Seele mit all | |
ihren Attributen von Kreativität bis Eigensinn ist Teil des neuen Homo | |
oeconomicus – und nicht mehr dessen Anderes. Damit ist das utopische und | |
selbst das emanzipatorische Potenzial dieses Subjekts zu einer Ressource | |
geworden, die in eine eindimensional faktische, in eine rein ökonomische | |
Realität investiert wird. | |
## Neue Funktion des Feuilletons | |
In dieser Situation hat das Feuilleton natürlich auch eine neue Funktion: | |
Seine Aufgabe ist es nicht mehr, die schöne Seele anzurufen und zu | |
bestätigen. In den Subjektivitätslabors von Kunst und Kultur, zu denen auch | |
das Feuilleton gehört, geht es nicht mehr darum, das Ich einer | |
unterworfenen Subjektivität zu stärken. Denn Ich-Stärkung gibt es mehr als | |
genug. Heute, angesichts der Vorherrschaft des so überaus | |
funktionstüchtigen Homo oeconomicus, geht es vielmehr um eine | |
Ich-Reduktion. | |
Erhellend ist in dem Zusammenhang der Blick in ein feuilletonistisches | |
Entwicklungsland. Etwa Österreich. Hier gibt es zwei oder drei namhafte | |
Zeitungen, aber kein Feuilleton. Gar keines. Stattdessen gibt es eine | |
Kommentarseite, auf der das Zeitgeschehen aus der Sicht der jeweiligen | |
Fachleute kommentiert wird. Was für ein Missverständnis! Die Sachkunde, die | |
Objektivität, die das gewährleisten soll, leistet im Endeffekt nichts | |
anderes als die eindimensionale Welt des Faktenwissens, die Welt der | |
Ich-Stärke zu bestätigen. Genau das also, was das Feuilleton heutzutage | |
eben nicht leisten soll. | |
Dieses soll vielmehr – und das leistet, bei aller berechtigten Kritik, das | |
deutsche Feuilleton immer wieder – ein Scharnier zu anderen Wissensformen, | |
ein Transmissionsriemen sein. Es soll eine andere Beleuchtung auf das | |
Zeitgeschehen werfen, eine andere Perspektive eröffnen. | |
## Die Dimension des Symbolischen | |
Die Welt der grenzenlosen Ökonomisierung ist paradoxerweise eine | |
geschlossene Welt. Deshalb kann diese andere Perspektive keine Utopie, aber | |
auch keine Vorstellung vom Guten oder Schönen sein. Es ist vielmehr die | |
Dimension des Symbolischen. | |
Jenseits des Boulevards (und ich verkneife mir jetzt den Witz mit knapp | |
drüber) gibt es nicht nur seriöse Information und harte Fakten, sondern | |
eben im Feuilleton auch den Zugang zu einer Ebene der Bedeutung, der | |
Aufladung von Begriffen, von Ereignissen, von Sitten – eine Aufladung, die | |
diese erst gesellschaftlich relevant, die diese zu symbolischen Orten des | |
Gesellschaftlichen machen. | |
Insofern wird im Feuilleton auch nicht mehr der gute Geschmack, der Kompass | |
des Bildungsbürgers, verhandelt. Die von Seeßlen kritisierte Figur des | |
Zensuren verteilenden Kritikers hat ausgedient. Der Herr über das | |
Geschmacksurteil ist das Relikt einer intakten Hochkultur. In Zeiten von | |
YouTube und Facebook entscheidet jeder selbst über Daumen rauf, Daumen | |
runter. | |
Das Feuilleton hat heute weder das Pouvoir noch die Aufgabe, solch eine | |
Zeichenhierarchie zu erstellen. Es kann vielmehr bestenfalls Zeichen und | |
deren Ordnungen infrage stellen, also fixe Zuordnungen und ein rein | |
empirisches Weltverständnis stören. In diesem Sinne wirkt das Feuilleton | |
heute nicht mehr Ich-stärkend, sondern – im besten Fall – Ich-reduzierend. | |
20 Aug 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-Kulturjournalismus/!99145/ | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## TAGS | |
NGO | |
Sido | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Noch schneller soll es sein | |
Nichtregierungsorganisationen waren einmal Avantgarde. Sie versprachen | |
effizientes, sinnvolles Tun und „gute“ Politik. Das ist längst vorbei. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Authentischer Fausthieb | |
Street Credibility hat bei Rapper Sido immer noch höchste Priorität. Das | |
bekam nun auch ein Society-Reporter des österreichischen Fernsehns zu | |
spüren. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Weniger Ich | |
Die Frage an die Schule muss lauten: Welche Art von Subjekten soll sie am | |
Ende ihrer Tätigkeit der Gesellschaft, dem Leben, übergeben. | |
Debatte Kulturjournalismus: Schafft das Feuilleton ab! | |
Die Kulturseiten einer Zeitung waren für die bürgerlichen Gesellschaften | |
dazu da, Geschmack herzustellen. Heute sind sie ein bornierter Ramschladen. | |
Wie ist das passiert? | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Foucault und die „unsichtbare Hand“ | |
Vor über 30 Jahren hat Michel Foucault das Dilemma der politisch | |
undurchdringlichen Ökonomie beschrieben. Seine Analyse ist gerade in der | |
Krise hochaktuell. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Das griechische Paradoxon | |
Kann wirklich nur die „Nea Dimokratia“ Griechenland retten? Die Griechen | |
können nur an den Euro glauben, weil sie die linke Syriza gewählt haben. |