| # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Authentischer Fausthieb | |
| > Street Credibility hat bei Rapper Sido immer noch höchste Priorität. Das | |
| > bekam nun auch ein Society-Reporter des österreichischen Fernsehns zu | |
| > spüren. | |
| Der Rapper Sido hat es als Juror einer Castingshow in Österreich zu einer | |
| beachtlichen Popularität gebracht. Damit ist es nun vorbei. Also zumindest | |
| mit der Castingshow. Das mit der Popularität – das ist noch offen. | |
| Denn nach der Livesendung am letzten Freitag hat Sido in einer | |
| Auseinandersetzung mit einem Society-Reporter des österreichischen | |
| Fernsehens diesen mit einem Faustschlag niedergestreckt. Den Job ist er nun | |
| los. Die Geschichte ist aber in mehrfacher Hinsicht paradox. | |
| Zum einen hat das österreichische TV, das ihn nun gefeuert hat, Sido ja | |
| nicht zufällig engagiert. Vielmehr hat der ORF sehenden Auges einen | |
| bekannten Rapper mit allen Rapperattributen geholt, weil dieser ihnen ein | |
| Versprechen zu sein schien. | |
| Das Versprechen, jene Authentizität zu verkörpern, die junge Leute aus | |
| gänzlich anderen Milieus anzieht. Denn diese jungen Leute, die der ORF als | |
| Zielgruppe gewinnen wollte, verlangen nach Bildern und Erzählungen von | |
| intensiveren Lebensformen. | |
| ## Rückgrat der Sendung | |
| Und genau das konnte Sido bieten. Wenn Verlierertum gewendet wird, dann | |
| kommt es – auch mit Machogeste – als Kraft an, als Heroismus in | |
| postheroischen Zeiten. Sidos Engagement war also ein strategischer | |
| Schachzug, um junges Publikum anzulocken. Zugleich war die Liebe vom ORF zu | |
| Sido wie jene von Schwulen zu älteren Frauen: eine Zuneigung zu | |
| entschärften Minen. | |
| Diese sind keine Bedrohung mehr, winken aber noch mit ihrem alten | |
| Potenzial. So hat auch der Rapper eine bürgerliche Läuterung durchgemacht: | |
| weit genug, um im Mainstream zu reüssieren, aber nicht zu weit. Seine | |
| Rapperidentität sollte er nicht vergessen. | |
| Um ihn wegen seiner Street Credibility zu engagieren, musste diese also | |
| gezähmt sein, aber noch winken. Und wenn er nun das tat, was zu seiner | |
| Street Credibility dazugehört, dann braucht man sich nicht zu wundern. Er | |
| hat sich als der Rüpel-Rapper verhalten, als den man ihn engagiert hat. Das | |
| war – trotz aller Zähmung – erwartbar. | |
| Nicht erwartbar hingegen war etwas ganz anderes. In der Sendung gab es vier | |
| Juroren. Sido jedoch war derjenige, der – und das war das wirklich | |
| Erstaunliche – er war derjenige, der in mehrfacher Hinsicht das Rückgrat | |
| der Sendung war: ästhetisch, pädagogisch und – ja echt – auch moralisch. | |
| Das Ästhetische ist noch am leichtesten zu verstehen: Er hatte einfach ein | |
| sehr sicheres Geschmacksurteil und Qualitätsbewusstsein. Aber Sido war auch | |
| in pädagogischer Hinsicht unerwartet. Etwa im offenen Umgang mit | |
| Benachteiligten und Behinderten aller Art. | |
| Oder mit jenen zwei Jungs, elf- oder zwölfjährig, die aus einer | |
| verschlafenen Kleinstadt kamen und ausgerechnet mit einem Sido-Song | |
| antraten. Und als er dann zum Schluss mit ihnen gemeinsam sang, wurde er | |
| zum Gegenteil des Songtitels: „Ich bin ein schlechtes Vorbild.“ | |
| Das Erstaunlichste aber war, dass es ausgerechnet Sido war, der das | |
| moralische Banner hochhielt. Er war derjenigen, der einem „wichtigen“, | |
| jedenfalls omnipräsenten Klatschreporter die Stirn bot – allerdings nur bis | |
| er die Faust dazugesellte. Er war es auch, der sich in der ersten Staffel | |
| mit einem mächtigen Journalisten der allmächtigen Kronenzeitung anlegte. | |
| Ausgerechnet der Rüppelrapper hat eine aufrechte Haltung ins | |
| öffentlich-rechtliche Fernsehen gebracht, die den vorherrschenden Diskurs | |
| unterbrach. | |
| Nun aber hat er sich selbst ausgeboxt. Ist seine Popularität damit auch | |
| verschwunden? Eine weitere Paradoxie der Geschichte liegt darin, dass es | |
| niemanden in diesem Land zu geben scheint, der Mitleid mit dem Opfer hat. | |
| Der Faustschlag hat offenbar eine verbreitete Sehnsucht in Bezug auf diesen | |
| Herren verwirklicht. | |
| Das wackelige Video erhellt den Ablauf der Szene nicht ganz. Sidos Stimme | |
| aber ist deutlich zu hören, wie er seinen Kontrahenten beschimpft: | |
| „Hurensohn! Ich fick deine Mutter“ – ganz nach dem Vorbild von Zehnjähri… | |
| im Park. Das steht auch einem Rapper nicht. Das hatte was von | |
| heruntergelassenen Hosen. Die Sendung aber kann man vergessen. Die schaut | |
| jetzt keiner mehr. Übrig bleiben die Kandidaten – für die interessiert sich | |
| auch niemand mehr. | |
| 22 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
| ## TAGS | |
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