Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 10 Jahre Arbeitsmarktreform: Das Jobcenter als zweites Zuhause
> Sechs Jahre ist Marion R. – gut ausgebildet und alleinerziehend –
> arbeitslos. Von der Arbeitsagentur verwaltet, aber nicht vermittelt.
> Einen Job findet sie schließlich selbst.
Bild: Nicht vermittelbar: Alleinerziehende landen schnell in der Hartz-IV-Falle.
BERLIN taz | Jeden Morgen um sechs fährt Marion R. von Berlin, wo sie
wohnt, ins nächste Bundesland, in eine Kleinstadt in Brandenburg. Dort
unterrichtet sie an einer Schule Französisch. Drei Stunden sitzt sie jeden
Tag in Zügen und S-Bahnen. Abends, wenn sie nach Hause kommt, warten der
Haushalt und die Stundenvorbereitungen für den nächsten Tag. „Aber ich
beklage mich nicht“, sagt sie: „Ich bin froh, dass ich diesen Job habe.“
Denn das Leben von Marion R. sah schon mal anders aus.
Sie ist 46 Jahre alt und alleinerziehend, ihre Tochter ist 13. Als Lehrerin
für Deutsch und Französisch ist Marion R. gut ausgebildet. Trotzdem hat sie
sechs Jahre lang, von 2004 bis 2010, vergeblich nach einer Stelle in Berlin
gesucht. In dieser Zeit bezog sie Hartz IV, das Jobcenter war fast ihr
zweites Zuhause.
„Ich hatte geglaubt, da wird mir geholfen“, sagt sie: „Irgendwann fühlte
ich mich nur noch gedemütigt und verschaukelt.“ Marion R. ist nicht der
richtige Name der Französin, sie will nicht, dass man in ihrer Schule von
ihrem früheren Leben weiß.
## „Suchen Sie weiter“
Marion R. wurde regelmäßig aufs Arbeitsamt bestellt, die Treffen liefen
ähnlich ab. „Hat sich an Ihrer Situation etwas geändert“, wurde sie
gefragt. „Nein“, antwortete sie. „Dann suchen Sie weiter.“ Sie schrieb
Bewerbungen, telefonierte, ging putzen, gab in einer Volkshochschule
Französisch-Kurse. Das Jobcenter wollte Listen sehen, auf denen stand, wo
sie sich überall vorgestellt hatte. „Die wurden nicht kontrolliert, ich
hätte sie fälschen können“, sagt Marion R. Sie ist eine stilvolle,
sprachlich gewandte Frau. Und sie hatte das Gefühl, dass niemand auf dem
Amt so recht wusste, wohin man sie vermitteln könnte.
Von den zahlreichen Arbeitsmarktprogrammen in Berlin, die Alleinerziehenden
zu einem Job verhelfen sollen und die Namen tragen wie „Mütter an den
Start“ und „Junge Mütter auf dem Weg“, hat sie nie etwas gehört. Die
MitarbeiterInnen im Jobcenter haben ihr nichts davon erzählt, nirgendwo hat
sie davon gelesen.
Zweimal wurde ihr eine Umschulung angeboten – zur Friseurin und zur
Fremdsprachensekretärin, in jener Schule, in der sie selbst Sprachkurse
gab. Sie lehnte beide Angebote ab. Und machte selbst ein
Fortbildungsangebot: Logopädin. „Viele französische Kinder brauchen
Sprechunterricht“, sagt sie.
## Keine Finanzierung
Auch das Jobcenter befand: Das könnte klappen, sie solle eine Marktanalyse
machen. Marion R. recherchierte, schrieb einen Businessplan, legte
Stellenanzeigen bei. Und dann das: Die Ausbildung werde nicht finanziert,
so das Amt, weil diese drei Jahre dauert.
Marion R. rutschte in eine Depression und machte eine Therapie. „Nie hätte
ich gedacht, dass ich mal so weit unten lande“, sagt sie. Sie wollte zurück
nach Frankreich. Aber das geht nicht, sie teilt sich mit dem Vater ihres
Kindes, einem Deutschen, das Sorgerecht. Ein Umzug könnte als
Kindesentführung gelten.
Also bewarb sich Marion R weiter, außerhalb Berlins. Dort braucht man sie,
dort hat sie seit einem Jahr eine feste Stelle. „Ich bin wieder glücklich“,
sagt sie: „Aber das habe ich von ganz allein geschafft.“
16 Aug 2012
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Arbeitsamt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Begleitservice für Arbeitslose: Ohne Angst aufs Arbeitsamt
Die meisten Deutschen gehen allein ins Jobcenter. Warum eigentlich, fragt
sich eine Initiative – und vermittelt ehrenamtliche BegleiterInnen.
Arbeiten im Jobcenter: Der Tacker als Wurfgeschoss
Eine Frau im Jobcenter Neuss wird erstochen, das Motiv ist noch unklar.
Beschimpfungen und Gewalt sind in Jobcentern aber Tagesgeschäft für die
Mitarbeiter.
Schulabgänger ohne Lehrstelle: Lernen in der Parallelwelt
Die Arbeitsagenturen stecken Schulabgänger ohne Stelle gern in
Übergangsmaßnahmen. Die Kurse kosten Milliarden, einen Abschluss gibt es
oft nicht.
Kabinett beschließt Hartz-IV-Sätze: Acht Euro abgenickt
Die Bundesregierung hat die Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger
beschlossen. Ab Anfang 2013 gibt es im Monat acht Euro mehr.
Kommentar Arbeitslose Alleinerziehende: Wer will schon Singlemütter?
Ursula von der Leyen hatte eine Zuschussrente versprochen, und mehr
Jobchancen für Alleinerziehende. Doch daraus ist leider ziemlich wenig
geworden.
Armutsrisiko Kinder: Weiblich, alleinerziehend, arm
Mit speziellen Programmen soll Alleinerziehenden geholfen werden, einen Job
zu finden. Das funktioniert aber nur schleppend. Das Armutsrisiko ist sogar
angestiegen.
„Zuschussrente“ für GeringverdienerInnen: Alleinstehende Mütter sollen pr…
Ursula von der Leyen legt einen Gesetzentwurf zur „Zuschussrente“ vor und
erntet Widerstand. In seltener Eintracht protestieren FDP, Grüne,
Arbeitgeber und Gewerkschaften.
Kinderarmut in Deutschland: Was fehlt tatsächlich?
Auch in den reichsten Ländern ist die Situation vieler Kinder prekär.
Unicef stützt seine neue Untersuchung auf 14 Indikatoren. Deutschland liegt
lediglich im Mittelfeld.
Betreuungsgeld und Hartz lV: Sozialleistungen sind voll abzugsfähig
Herdprämie, Kindergeld, Unterhalt und Elterngeld werden bei den ärmsten
Eltern in der Regel vom Staat kassiert
Streit um Mindestlöhne: Arm trotz Arbeit
Viele haben eine Arbeit und sind dennoch so arm, dass sie Sozialleistungen
bekommen. Das ändert sich erst bei einem Mindestlohn von 10 Euro, sagt die
Linke.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.