| # taz.de -- Arbeiten im Jobcenter: Der Tacker als Wurfgeschoss | |
| > Eine Frau im Jobcenter Neuss wird erstochen, das Motiv ist noch unklar. | |
| > Beschimpfungen und Gewalt sind in Jobcentern aber Tagesgeschäft für die | |
| > Mitarbeiter. | |
| Bild: Wer zum Jobcenter muss, hat häufig Wut dabei. | |
| BERLIN taz | Eines hat sich Jobcentermitarbeiter Junjie Xu längst | |
| angewöhnt: Kleine Büroutensilien wie Locher oder Tacker deponiert er so, | |
| dass seine KundInnen sie nicht erreichen können. „Das sind potenzielle | |
| Wurfgeschosse“, sagt der 30-Jährige, der im Jobcenter Berlin-Mitte in der | |
| Leistungsabteilung arbeitet. „Davor hat uns der Chef bereits gewarnt.“ | |
| Aus gutem Grund: Erst im Frühjahr hatte ein Kunde mit einem Locher auf eine | |
| Kollegin gefeuert – und sie glücklicherweise verfehlt. Die Mitarbeiterin | |
| kam mit dem Schrecken davon. Andere Vorfälle in Deutschland gingen nicht so | |
| gut aus. Immer wieder gehen frustrierte Hartz-IV-Empfänger auf | |
| Jobcentermitarbeiter los. | |
| Im August 2011 stürmte ein 41-jähriger Arbeitsloser in das Jobcenter | |
| Berlin-Marzahn und versuchte im Büro seines Sachbearbeiters mithilfe einer | |
| brennbaren Flüssigkeit den Teppich in Brand zu stecken. Gerade noch | |
| rechtzeitig griffen die Mitarbeiter zum Feuerlöscher und erstickten die | |
| Flammen. | |
| Im Mai 2011 wurde die 39-jährige Christy S. in einem Mainzer Jobcenter von | |
| einer Polizistin angeschossen und starb wenig später im Krankenhaus. Der | |
| Sicherheitsdienst hatte die Polizei gerufen, weil die Frau angeblich | |
| randalierte. Es ging um 10 Euro, wie es hieß. | |
| Im Mai 2010 griff ein 24-jähriger Hartz-IV-Empfänger im saarländischen | |
| Dillingen seinen Sachbearbeiter mit einem Beil an. Angeblich hatte er sich | |
| geärgert, weil seine Mietkosten nicht vollständig übernommen worden waren. | |
| ## Messerstecherei, Geiselnahme, Holzprügel | |
| Im Dezember 2007 stach in Kaiserslautern ein Mann auf eine schwangere | |
| Sachbearbeiterin ein. Angeblich hatte sie ihm keinen Vorschuss gewährt. In | |
| Aachen nahm eine Frau im selben Jahr zwei Mitarbeiter als Geiseln, und in | |
| Heppenheim wurde eine Fallmanagerin von einem 45-jährigen Klienten mit | |
| einem Holzknüppel geschlagen. | |
| Wie viele gewaltsame Übergriffe es auf Jobcentermitarbeiter jährlich gibt, | |
| ist nicht bekannt. „Wir erfassen so was nicht statistisch“, sagt Ilona | |
| Mirtschin, Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Auch die | |
| Unfallkassen des Bundes und der Länder, bei der die ArbeitnehmerInnen der | |
| Jobcenter in der Regel versichert sind, können kein gesichertes | |
| Zahlenmaterial vorweisen. | |
| Carsten Kostersky, stellvertretender Geschäftsführer im Jobcenter | |
| Berlin-Mitte, ist viel daran gelegen, die Bedrohungssituation in den | |
| Behörden nicht zu dramatisieren. „Gewaltsame Übergriffe sind nicht an der | |
| Tagesordnung“, sagt er. Es handle sich um bedauerliche Einzelfälle „im | |
| Promillebereich“. Mit mehr als 84.000 Kunden und täglich bis zu 3.000 | |
| Klienten im Haus sei sein Jobcenter eines der größten bundesweit. „Dafür | |
| passiert wirklich sehr wenig.“ Ein Fall, bei dem eine MitarbeiterIn oder | |
| eine KundIn in seinem Haus ernsthaft zu Schaden gekommen ist, sei ihm nicht | |
| bekannt. | |
| Sicherheitsvorkehrungen gibt es im Jobcenter Berlin-Mitte trotzdem. Zu | |
| Recht, wie eine Studie des Spitzenverbands ded Deutschen Gesetzlichen | |
| Unfallversicherungen (DGUV) aus dem Jahr 2011 belegt. Zwischen Januar 2008 | |
| und Januar 2009 wurden insgesamt 2.194 Beschäftigte aus bundesweit zwölf | |
| Arbeitsgemeinschaften (Arge) befragt. Knapp 70 Prozent davon gaben an, sich | |
| am Arbeitsplatz gelegentlich oder oft bedroht oder unsicher zu fühlen. | |
| Körperliche Angriffe blieben zwar die Ausnahme. | |
| ## Alarmknopf am Schreibtisch | |
| Der Studie zufolge erlebten die Beschäftigten solche Fälle im Schnitt | |
| zweimal im Jahr. Mehrmals wöchentlich aber wurden die MitarbeiterInnen | |
| Opfer von Beschimpfungen und Beleidigungen. | |
| Kosterski hat Verständnis für die Frustration. „Für unsere Kunden geht es | |
| um die Existenz“, sagt er. „Wenn sich die Zahlung verspätet, ist das für | |
| viele eine Katastrophe.“ Dennoch sorgt er für die Sicherheit seiner | |
| MitarbeiterInnen. „Wir beschäftigen einen privaten Wachdienst, der am | |
| Eingang kontrolliert“, erklärt Kosterski. Außerdem gebe es Verbindungstüren | |
| zwischen den Büros, durch die die Mitarbeiter flüchten können. | |
| „Wenn sich ein Kollege bedroht fühlt, kann er an seinem Tisch einen Alarm | |
| auslösen, der alle Mitarbeiter auf der Etage informiert und die Securities | |
| zur Hilfe holt.“ Auch Deeskalationsschulungen und Selbstverteidiungskurse | |
| werden regelmäßig angeboten. Trotzdem ist er sich bewusst: „Einen | |
| hundertprozentigen Schutz können wir nicht garantieren.“ | |
| Beleidigungen hören auch Junjie Xu und seine Kollegen regelmäßig. „Neulich | |
| wurde eine Kollegin von einer Kundin als Drecksfotze beschimpft“, erzählt | |
| er. „Auf so was reagiert man am besten gar nicht.“ Angst habe er in den | |
| zehn Jahren, die er für die Arbeitsagentur tätig ist, aber nur einmal | |
| gehabt. „Ein Kunde, dem ich keinen Vorschuss bewilligen wollte, fing an, | |
| rumzubrüllen und Sachen umzuwerfen“, berichtet er. „Als er dann aus dem | |
| Zimmer ging, rief er mir zu: ’Ich warte draußen auf dich!‘ Da hatte ich | |
| Herzrasen.“ | |
| 26 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Marlene Halser | |
| ## TAGS | |
| Urteil | |
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