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# taz.de -- Kinderarmut in Deutschland: Was fehlt tatsächlich?
> Auch in den reichsten Ländern ist die Situation vieler Kinder prekär.
> Unicef stützt seine neue Untersuchung auf 14 Indikatoren. Deutschland
> liegt lediglich im Mittelfeld.
Bild: Ein Schulmädchen im Kinder- und Jugend-Projekt „Die Arche“ in Berlin…
BRÜSSEL taz | Die deutsche Regierung geht zu wenig gegen Kinderarmut vor.
Das ist das Ergebnis einer internationalen Studie, die das Kinderhilfswerk
Unicef am Dienstag in Brüssel vorgestellt hat. Demnach leben in Deutschland
rund 2,5 Millionen Kinder in Armut oder müssen auf grundlegende Güter wie
regelmäßige Mahlzeiten oder Freizeitaktivitäten verzichten. Damit liegt
Deutschland nur im Mittelfeld von insgesamt 29 europäischen Ländern und
schneidet deutlich schlechter ab als zum Beispiel Dänemark oder Schweden,
obwohl diese Länder auf ähnlichem wirtschaftlichem Niveau liegen.
„Es ist enttäuschend, dass Deutschland es nicht schafft, die materiellen
Lebensbedingungen für Kinder entscheidend zu verbessern“, sagte Christian
Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland. Auch einer der Verfasser
der Studie, Gordon Alexander vom Unicef-Forschungszentrum in Florenz,
kritisierte die Bundesregierung: „Kinderarmut gehört nicht zu den
Prioritäten in Berlin. Sie wird so nebenbei mitbedacht. Aber es kann sich
nur etwas ändern, wenn sie in den Fokus der Politiker rückt. Daran fehlt es
in Deutschland“, sagte er in Brüssel. Als ein konkretes Beispiel nannte er
die nach wie vor „unzureichende“ Kinderbetreuung. Vor allem Kinder
alleinerziehender und arbeitsloser Eltern sind in Deutschland daher von
Armut betroffen.
Das Kinderhilfswerk hat in seinem Bericht zwei verschiedene Messverfahren
für Kinderarmut angewendet. Zum einen schauten sich die Wissenschaftler die
Einkommensarmut an: Als arm gelten Kinder aus Haushalten, die weniger als
50 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. In
Deutschland sind das rund 1,2 Millionen. Besonders schlecht schneiden
Rumänien und die Vereinigten Staaten von Amerika ab. Dort liegt die
relative Kinderarmut bei mehr als 20 Prozent.
## 14 Indikatoren
Erstmals stützt Unicef seine Untersuchung aber nicht nur auf diese
klassische Definition von Armut. Das Kinderhilfswerk hat darüber hinaus 14
Indikatoren von Dingen entwickelt, die Kinder zum Leben brauchen. Dazu
gehören regelmäßige Mahlzeiten, Zeit und Raum für Hausaufgaben, ein
Internetanschluss, altersgerechte Bücher und Spielsachen, Geld für
Schulausflüge, mehr als zwei Paar Schuhe oder die Versorgung mit Obst und
Gemüse. Wer auf mehr als zwei dieser Kriterien verzichten muss, gilt als
arm. Daran errechnet sich, was Unicef den „Deprivationsindex“ nennt (siehe
[1][Grafik]).
„Wir wollten wissen, wie die Kinder konkret leben und was ihnen tatsächlich
fehlt. Auch in armen Haushalten können Kinder ausreichend versorgt werden“,
sagte Gordon Alexander. Rumänien, Bulgarien und Ungarn schneiden dabei
besonders schlecht ab. In Deutschland muss immerhin jedes elfte Kind auf
mehr als zwei Dinge aus der Unicef-Liste verzichten. Am häufigsten fehlen
Kindern in Deutschland regelmäßige Freizeitaktivitäten (6,7 Prozent). Knapp
5 Prozent müssen auf eine warme Mahlzeit am Tag verzichten und 4,4 Prozent
der befragten Kinder haben keinen Platz, um ihre Hausaufgaben in Ruhe zu
erledigen.
## „Keine Entschuldigung“
Ein Grund für das relativ schlechte Abschneiden der Bundesrepublik sehen
die Verfasser der Studie in der Struktur der Gesellschaft. In Deutschland
leben zum Beispiel relativ mehr Migrantenkinder als etwa in den
Niederlanden. „Trotzdem kann das keine Entschuldigung sein. In unseren
reichen Ländern sollte kein Kind auf die Befriedigung seiner
Grundbedürfnisse verzichten müssen“, sagte Gordon Alexander. Immerhin
schaffe es Deutschland, die Kinderarmut mit Sozialleistungen und
Steuererleichterungen für Familien von eigentlich 17 auf 8,5 Prozent zu
senken.
Damit ist die BRD eines von nur zehn Ländern, in denen Kinderarmut
niedriger ist als die Armut von Erwachsenen. Außerdem sei sie im Vergleich
zu 2005 von 10,2 auf 8,5 Prozent gesunken, während sie in vielen anderen
Ländern im gleichen Zeitraum leicht gestiegen ist. Allerdings könnte
Deutschland auch in diesem Punkt noch mehr tun: Irland, Ungarn und
Großbritannien schaffen mit staatlichen Hilfeleistungen viel mehr.
Die Verfasser der Studie befürchten, dass die Kinderarmut durch die harten
Sparprogramme in vielen EU-Ländern nun noch verstärkt wird. „Gerade in
Irland und Großbritannien, die bisher zu den besten Ländern gehörten,
sparen die Regierungen nun an den falschen Stellen. Wir gehen davon aus,
dass die Kinderarmut dort wieder zunehmen wird“, sagte Alexander.
Insgesamt sei es schwierig, Kinderarmut verlässlich zu messen. Viele Länder
würden keine ausreichenden Daten zur Verfügung stellen. Die Studie stützt
sich unter anderem auf eine Befragung der EU von 2009, in der 125.000
Haushalte untersucht worden sind, sowie auf Zahlen der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
30 May 2012
## LINKS
[1] /fileadmin/static/pdf/2012-05-29_grafik_armut.pdf
## AUTOREN
Ruth Reichstein
## TAGS
Kinderarmut
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