# taz.de -- Hunger in Deutschland: 14 Stunden gegen Kinderarmut | |
> Der Kalker Mittagstisch gibt Hunderten Kindern zu essen. Ungleichheit ist | |
> in Köln keine Ausnahme – wie eine Studie des Urbanistik-Instituts belegt. | |
Bild: Mittagstafel in einer deutschen Großstadt: für viele Kinder die erste … | |
KÖLN taz | Schmucklos aufgebaute Nachkriegsbauten säumen die | |
Buchforststraße im Kölner Bezirk Kalk. Vor dem Haus Nummer 113 herrscht | |
Hochbetrieb. Ständig betreten oder verlassen Kinder das bescheidene | |
Ladenlokal. In einem Korb vor der Tür liegen Brotlaibe zum Mitnehmen, im | |
Schaufenster gespendete Spielsachen, Schuhe und Kleidung. Direkt dahinter | |
stehen große Holztische, die mit Gläsern, Tellern, Besteck, Brötchen und | |
Obstschalen eingedeckt sind. | |
„Heute gibt es Kartoffelsalat mit Würstchen“, sagt Elisabeth Lorscheid. Die | |
Leiterin des Kalker Kindermittagstischs erhielt am frühen Morgen den Anruf | |
eines Kölner Großveranstalters. „Wir haben frische Ware übrig, die müssen | |
Sie aber bis neun Uhr abholen.“ | |
Rund 150 Kinder essen von Montag bis Freitag beim Kalker Mittagstisch – | |
auch in den Ferien. Für die warme Mahlzeit kommen sie zum Teil extra aus | |
Schulen benachbarter Stadtteile wie Vingst, Höhenberg oder Buchheim | |
hierher. | |
Die meisten sind in Köln geboren, ihre Eltern aber stammen aus dem Irak, | |
der Türkei, aus Marokko, Brasilien, Togo oder Bosnien. Armut betrifft in | |
den (west-)deutschen Großstädten vor allem Menschen mit | |
Migrationshintergrund; sie bilden inzwischen die Mehrheit der Unterschicht. | |
## „Fast jedes fünfte Kind verlässt ohne Frühstück die elterliche Wohnung… | |
„Die ersten Kinder erscheinen schon am späten Vormittag, wenn die | |
Grundschule früh zu Ende ist“, erzählt Elisabeth Lorscheid, die hier alle | |
Alice nennen. Viele der Besucher haben großen Hunger. Fast jedes fünfte | |
Kind verlässt morgens ohne Frühstück die elterliche Wohnung, hat der | |
Deutsche Kinderschutzbund in einer bundesweiten Befragung unter Sieben- bis | |
Neunjährigen ermittelt. Zwar registrieren die Statistiker derzeit eine | |
leicht rückläufige Kinderarmut, doch in Kalk-Nord geht dieser Trend vorbei. | |
32.000 Jungen und Mädchen, das ist fast ein Viertel der Kölner Kinder unter | |
15 Jahren, gelten als arm. | |
Die Not ist regional sehr unterschiedlich verteilt. In manchen bürgerlich | |
geprägten Vierteln auf der linken Rheinseite, wo sich auch das Zentrum | |
befindet, gibt es kaum Bedarf an einem kostenlosen Mittagessen. In | |
Trabantenvierteln wie Porz-Finkenberg oder im deindustrialisierten Kalk ist | |
das ganz anders. | |
Wie Berlin, Bremen, Dortmund, Hamburg und Leipzig gehört Köln zu den | |
Großstädten mit ausgeprägter sozialräumlicher Spaltung, ergab eine | |
Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik. Weniger Ungleichheit | |
fanden die Stadtforscher in Frankfurt, München und Stuttgart. Aber in | |
Kommunen wie Oberhausen gibt es kaum Gegensätze – weil dort schlicht zu | |
wenig reiche Bewohner leben. | |
Elisabeth Lorscheid startete den Kalker Kindermittagstisch 2009. Angeregt | |
wurde sie durch einen Freund ihrer beiden Kinder, den diese öfter zum Essen | |
nach Hause mitbrachten. Durch ihn bekam sie mit, was es bedeutet, von den | |
Eltern nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden. Eine | |
städtische Wohnungsbaugesellschaft stellte ihr die Räume zur Verfügung, | |
über den Spendenaufruf einer Tageszeitung konnte sie eine Küche anschaffen. | |
Für den gemeinnützigen Verein arbeitet die frühere Bürokauffrau als | |
Geringverdienerin auf 400-Euro-Basis, ihr Honorar hat ein privater Sponsor | |
übernommen. Die Entlohnung ist symbolisch– denn Elisabeth Lorscheid | |
investiert täglich bis zu 14 Stunden in das Projekt Mittagstisch. | |
„Ich stehe gegen vier auf, kümmere mich erst mal um mich selbst und meine | |
Familie; danach checke ich die Mails, was neu an Lebensmitteln angeboten | |
wird.“ Ab dem frühen Morgen geht sie zusammen mit ehrenamtlichen | |
Unterstützern auf Betteltour. Cornelia Schönberg zum Beispiel, Verkäuferin | |
auf dem Kalker Wochenmarkt, spendet regelmäßig 60 Eier. Eine Bäckerei im | |
Stadtteil liefert Brötchen, nicht etwa die vom Vortag. | |
„Wir verwenden ausschließlich frische Lebensmittel“, betont Lorscheid. Von | |
einem Großhändler erhält sie hochwertiges Obst und Gemüse; aus einem | |
Krankenhaus holt ein Helfer jeden Montag Joghurts und fertig gekochte | |
Suppe. Wasser und Saft stellt ein Getränkemarkt kostenlos zur Verfügung, | |
das Fleisch wird überwiegend mit Fördergeldern zugekauft. | |
## „Gerade mal zehn Eltern den Mittagstisch persönlich angeschaut“ | |
Spätestens ab zwölf Uhr ist Lorscheid wieder vor Ort beim Mittagstisch. Von | |
den ankommenden Kindern wird sie euphorisch begrüßt, für viele ist sie zur | |
Ersatzmutter geworden. Alice wird umlagert, mit Fragen bestürmt: „Kannst du | |
mir bei den Hausaufgaben helfen? Kannst du mir was vorlesen?“, rufen die | |
kleinen Gäste durcheinander. „Armut bedeutet nicht nur Mangel an Geld, | |
sondern oft auch Mangel an Gefühlen“, weiß Lorscheid. | |
Sie beobachtet eine Verwahrlosung im emotionalen Bereich: „Von den weit | |
über hundert Kindern, die hier teilweise seit Jahren täglich umsonst essen, | |
haben sich höchstens zehn Eltern unseren Mittagstisch mal persönlich | |
angeschaut.“ Sie kennt, berichtet Lorscheid, „Familien, wo die Mutter den | |
ganzen Tag in Netzwerken chattet und der Vater ständig vor dem Fernseher | |
sitzt“. | |
Lorscheid erzählt von einem Mädchen, bei dem ihr auffiel, dass sie nach dem | |
Schlittschuhlaufen den Socken voll Blut hatte. Bei genauerer Betrachtung | |
stellte sich heraus, dass der Zehennagel in das Fleisch eingewachsen war. | |
Nicht die Eltern, sondern die Leiterin des Mittagstischs suchte mit dem | |
Kind sofort einen Arzt auf. Für solches Desinteresse am eigenen Nachwuchs | |
hat sie überhaupt kein Verständnis: „Gefühle kosten kein Geld.“ | |
Der Kindermittagstisch versteht sich als Angebot für Kinder. Erwachsene | |
sind aber durchaus willkommen. Eine regelmäßige Besucherin ist Stefanie | |
Zabut, alleinerziehende Mutter der elfjährigen Sevdat und der zweijährigen | |
Dilara. Unterhalt erhält die ehemalige Serviererin von ihren beiden | |
Kindesvätern nicht, seit Jahren lebt sie mit ihren Töchtern von Hartz IV. | |
Da muss jeder Cent umgedreht werden: „Schwimmen gehen, Eis essen oder | |
Kinobesuche sind einfach nicht drin.“ | |
Zwar gibt es im Nahverkehr und bei einigen Freizeitangeboten Ermäßigungen | |
durch den Köln-Pass für Bedürftige. Doch selbst die kleine Dilara muss in | |
den städtischen Bädern 1 Euro Eintritt zahlen, empört sich ihre Mutter. Die | |
ältere Schwester Sevdat könnte auch in der Übermittagbetreuung der Schule | |
essen. Dort aber kosten die Mahlzeiten 16 Euro pro Monat, zusätzlich werden | |
6 Euro Toilettengeld eingesammelt. | |
## Verschiedene Milieus, getrennte Welten | |
Die Kosten summieren sich für Stefanie Zabut: „Hier beim Mittagstisch ist | |
eben alles umsonst, und ich komme auch zum Reden her.“ Sie sucht den | |
Kontakt zu Alice und den anderen Helferinnen, schaut regelmäßig im „Fenster | |
der Möglichkeiten“ im Schaufenster nach, ob neue Spielsachen oder | |
Kleiderspenden eingetroffen sind. | |
Kinder aus Stadtteilen mit vielen einkommensschwachen Haushalten gehen | |
seltener zu Vorsorgeuntersuchungen, sie sind häufiger krank, sie haben | |
öfter Übergewicht und leiden stärker unter Sprachstörungen, | |
psychosomatischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten. | |
Das alles bestätigt der Gesundheitsbericht der Stadt Köln, doch die | |
konkrete Unterstützung der Verwaltung für engagierte Projekte wie den | |
Mittagstisch bleibt gering. „Eigentlich müsste sich doch die Stadt um diese | |
Kinder kümmern“, ärgert sich Elisabeth Lorscheid. Sie bekommt keine | |
öffentliche Förderung: „Unsere Sozialdezerntin hat noch keinen Fuß vor | |
diese Tür gesetzt.“ | |
In heterogen strukturierten Städten wie etwa Köln, Hamburg oder Berlin | |
leben verschiedene Milieus nebeneinander her. Sie halten sich in getrennten | |
Realitäten auf und nehmen sich gegenseitig kaum wahr. Die Erwachsenen | |
bewegen sich meist unter ihresgleichen, der Nachwuchs geht nicht auf | |
dieselben Schulen. In Köln-Kalk zum Beispiel besucht nur jedes vierte Kind | |
ein Gymnasium, im wohlhabenden Stadtteil Lindenthal in der Nähe der | |
Universität sind es dagegen 89 Prozent. | |
Eine Brücke über den Rhein schlagen will die | |
Maria-Sibylla-Merian-Grundschule in Köln-Bayenthal. Schon seit mehr als | |
einem Jahrzehnt sammeln die Schüler für eine engagierte katholische | |
Gemeinde im sozial benachteiligten Höhenberg-Vingst. Im Untergeschoss der | |
Kirche St. Theodor organisiert Pfarrer Franz Meurer im wörtlichen Sinn die | |
Basis christlicher Hilfe: Täglich verteilen Unterstützer Lebensmittel, | |
geben Kleidung, Spielzeug oder Fahrräder an Bedürftige ab. | |
„Für uns war ein wichtiger Aspekt, dass Kinder für Kinder spenden“, sagt | |
Antonie Bugnard, Leiterin der Grundschule in Bayenthal: „Unsere relativ | |
privilegierten Schüler können das besser nachvollziehen als Projekte in | |
Afrika oder Indien: Nur ein paar Kilometer von ihnen entfernt leben Kinder | |
in äußerst bescheidenen Verhältnissen.“ | |
Im Viertel ist die Aktion mittlerweile so bekannt, dass auch Bewohner, die | |
keine Kinder an der Schule haben, Kleidung oder andere Spenden abgeben. Die | |
Elternpflegschaft hilft den Kindern beim Sortieren und beim Stapeln der | |
Kartons. Später können sich die Schüler ein Video ansehen, das zeigt, wie | |
das Gesammelte in der Vingster Gemeinde ankommt. | |
Manchmal fahren Eltern mit ihren Kindern auch persönlich auf die andere | |
Rheinseite, um größere Sachspenden wie ein Bettgestell vorbeizubringen. | |
„Viele werden schon von zu Hause aus dazu angehalten, an andere zu denken | |
und sich zu engagieren“, lobt Schulleiterin Bugnard. Dem Motto gemäß werden | |
so tatsächlich Brücken zwischen verschiedenen sozialen Gruppen geschlagen – | |
und der Spaltung der Stadt etwas entgegengesetzt. | |
31 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gesterkamp | |
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