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# taz.de -- Blasphemiestreit in der Türkei: „Ist denn das Paradies eine Knei…
> Die Verbreitung eines mittelalterlichen Verses verletze die religiösen
> Gefühle der heutigen Öffentlichkeit. Der türkische Starpianist Fazil Say
> steht vor Gericht.
Bild: Weltbekannter Pianist: Fazil Say kritisiert die Politik der regierenden i…
ISTANBUL taz | „Dieser Prozess“, schimpfte der Bildhauer Mehmet Aksöy am
Donnerstag, „wirft uns 900 Jahre zurück.“ Der Grund seiner Empörung: An
diesem Vormittag stand der 42-jährige Starpianist Fazil Say vor Gericht,
weil er „religiöse Werte“ herabgewürdigt haben soll.
Die Anklage wirft ihm unter anderem vor, dass er einen Vers des
mittelalterlichen Dichters Omar Khayyam retweetet hat. Darin heißt es: „Du
sagst, in den Flüssen (im Paradies) wird Wein fließen – ist denn das
Paradies eine Kneipe?“
„Absurd, völlig absurd“ war daher bei Prozessbeginn die am häufigsten
gebrauchte Vokabel. Etwa 200 Freunde und Unterstützer des Pianisten hatten
sich vor dem Justizpalast in Istanbul versammelt. Auch die künstlerische
Leiterin der Staatsoper, Rengim Gökmen, konnte es nicht fassen: „Wie kann
man nur einen weltweit bekannten Künstler für so etwas vor Gericht zerren.
Fazil Say liebt die anatolische Kultur. Der Prozess ist absurd.“
Tatsächlich ist die türkische Justiz mit dem gestern begonnenen Prozess
dabei, ein ähnliches Eigentor zu schießen wie vor einigen Jahren: Damals
wurde der spätere Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wegen „Beleidigung
des Türkentums“ angeklagt, weil er sich kritisch darüber geäußert hatte,
dass der Völkermord an den Armeniern in der Türkei geleugnet wird.
## Say zeigte seine Ablehnung der Regierung öffentlich
Dieses Mal geht es darum, dass der bekannteste zeitgenössische Komponist
des Landes die religiösen Werte und Gefühle gläubiger Muslime öffentlich
herabgewürdigt haben soll. Deshalb drohen ihm nun 18 Monate Haft.
Fazil Say hatte in einigen Tweets über heuchlerische Imame und andere
Frömmler gelästert. Darüber hinaus hat er aus seiner Ablehnung gegen die
gegenwärtige islamische Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan
keinen Hehl gemacht.
In Interviews in den letzten Jahren hatte er mehrmals über die
Islamisierung der türkischen Gesellschaft geklagt und angedeutet, dass er
deshalb vielleicht das Land verlassen werde. Aus Kreisen der regierenden
AKP war ihm häufig vorgehalten worden, seine Musik sei westlich und habe zu
den Menschen in der Türkei keinen Bezug.
Seinen internationalen Durchbruch hatte Say 1994 geschafft, als er den
ersten Preis beim europäischen Nachwuchswettbewerb für Musiker gewann.
Seither ist der Pianist in allen großen Konzertsälen weltweit aufgetreten.
Zu Hause hatte er sich bei der Regierung auch deshalb unbeliebt gemacht,
weil er in seinen Kompositionen aktuelle gesellschaftliche Fragen
aufgreift. Eine seine letzten großen Arbeiten ist eine Komposition zum
Gedenken an den ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink.
## Der kleinste Raum im größten Gericht
Der Prozess begann gestern Morgen, wie häufig bei spektakulären Verfahren
in der Türkei, völlig chaotisch. Obwohl er in einem erst kürzlich erbauten,
gigantischen Gerichtsgebäude stattfand – auf Plakaten wird stolz darauf
verwiesen, es sei das größte Gerichtsgebäude Europas –, hatte man für die
Verhandlung offenbar den kleinsten Raum ausgesucht.
14 Plätze standen für Besucher zur Verfügung, nur vier Journalisten durften
die Sperren passieren. Alle anderen traten sich mit den Freunden und
Unterstützern von Fazil Say in sicherer Entfernung vom Gerichtssaal auf die
Füße.
Drinnen ging es dann relativ unspektakulär zu. Fazil Say äußerte sich nur
zu seiner Person und reichte seine Stellungnahme schriftlich ein. Die
Vorwürfe wies er als völlig unbegründet zurück. Die Kläger sind drei
Bürger, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen.
Ob sie die Anzeigen gegen den Künstler aus eigenem Antrieb gestellt haben
oder von einer Organisation vorgeschickt wurden, blieb zunächst unklar.
Einer der drei, Emre Bukagili, ist als notorischer Anzeigensteller bekannt.
Er hat bereits gegen verschiedene religionskritische Romane und Sachbücher
geklagt, unter anderem gegen Nedim Gürsels „Die Töchter Allahs“ und gegen
ein Buch von Richard Dawkins.
In einem Interview mit der Literaturzeitschrift Zabid Fikir bezeichnete er
sich als Anhänger des bekannten türkischen Kreationisten Adnan Oktar. Am
Donnerstag behauptete er, vom „Ungläubigen“ Fazil Say beleidigt worden zu
sein.
Das Gericht hat sich nach der Anhörung nun erst einmal Zeit ausbedungen:
Der Prozess wird im Februar nächsten Jahres fortgesetzt. Der Richter
befreite Fazil Say allerdings von einer Anwesenheitspflicht bei den
folgenden Verhandlungstagen.
18 Oct 2012
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan
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Blasphemie
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Hungerstreik
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