# taz.de -- Ein Jahr nach Gaddafi: Befreit, aber zersplittert | |
> Vor einem Jahr stürzte das Regime in Libyen. Die Spannungen zwischen | |
> Städten und Stämmen werden stärker. Eine Reise durch das gespaltene Land. | |
Bild: Spuren der Zerstörung in Misurata. | |
TRIPOLIS/MISURATA/SIRTE taz | Die Gassen der Altstadt von Tripolis sind eng | |
und staubig. Der Souk hat die besten Jahre hinter sich. Ahmed Tidschanis | |
winziges Büro liegt schräg hinter seinem Elternhaus, die Familie lebt seit | |
200 Jahren hier. | |
Der 55-jährige Illustrator zieht einen Stapel Zeichnungen aus einer | |
Schublade. Darauf ist eine Baggerschaufel mit einem langen Salafistenbart | |
und strengen Augen zu sehen, mitten in den Trümmern einer Sufi-Moschee. | |
Dutzende Gotteshäuser der muslimischen Sekte wurden in Tripolis in den | |
letzten Monaten von Salafisten attackiert, ohne dass irgendjemand verhaftet | |
worden wäre. | |
„Die Zeitung Libya Jadidah hat nach der Veröffentlichung meines Cartoons | |
einen Drohbrief erhalten“, sagt der Karikaturist nüchtern. „Mein einziger | |
Schutz ist, dass mich jeder hier in der Altstadt kennt.“ Und dass die | |
Libyer diese Extremisten mehrheitlich ablehnen. An Polizei oder Gerichte | |
bräuchte sich Ahmed Tidschani nicht zu wenden. Die in blendendes Weiß | |
gekleideten Beamten beobachten zwar an Kreuzungen den Verkehr, trauen sich | |
aber nicht einmal bei Verkehrsunfällen, in das Geschehen einzugreifen. | |
„Tripolis besteht aus vielen Nachbarschaften, die für sich auch gut | |
funktionieren, aber nicht miteinander. Wie ganz Libyen zurzeit“, sagt | |
Ahmeds Nachbar Mohammed Abdasalm. Er ist auf dem Weg nach Misurata. Die | |
Fahrt in Libyens Wirtschaftsmetropole dauert im Sammeltaxi zwei Stunden und | |
kostet 3 Euro. Die acht Fahrgäste sind wie Mohammed auf dem Weg zu ihren | |
Familien, um das Opferfest im Kreis der Familie zu verbringen. | |
Quälenden Staus und unzähligen Checkpoints an der Küstenstraße begegnen die | |
Reisenden mit Geduld und Austausch der neuesten Gerüchte. In Tripolis hat | |
der Krieg bis auf die von der Nato bombardierten Militäranlagen kaum Spuren | |
hinterlassen. Auf der völlig zerschossenen Tripolis-Straße im Zentrum von | |
Misurata hingegen hat jemand „Misratagrad“ auf eine Wand gesprüht. | |
Tatsächlich blieb hier kaum ein Stein auf dem anderen. | |
Vor einem frisch renovierten Laden steht Dschamel Alaweeb. Der ehemalige | |
Bürgermeister begrüßt die Reisenden aus Tripolis. „In Misurata kennt jeder | |
jeden“, sagt er, „wir sind im Gegensatz zu Tripolis eine eingeschworene | |
Gemeinschaft.“ Ein erschöpft aussehender Milizionär ergänzt: „Während i… | |
in Tripolis nicht einmal eine Regierung zustande bekommt, machen wir für | |
ganz Libyen die Drecksarbeit.“ Er weist stolz auf das Abzeichen seiner | |
Brigade. „Wir haben heute Bani Walid erobert und verhaften nun jeden der | |
1.000 Gaddafi-Verbrecher, die auf unserer Fahndungsliste stehen.“ | |
## Normalität und Krise | |
Sieben Monate lang war Misurata im vergangenen Jahr von den Truppen des | |
Exdiktators Gaddafi belagert worden. Alaweeb führt gern durch die Trümmer. | |
Er selbst stand auf einer Fahndungsliste Gaddafis, weil er sich im | |
Fernsehen öffentlich gegen den Diktator gewandt hatte. „Ich möchte, dass | |
meine Stadt wieder zu einem Wirtschaftszentrum wird. Und dafür hat die | |
Stadt eigentlich alle Voraussetzungen.“ | |
Den zerbombten Militärflughafen haben die Behörden in wenigen Monaten | |
entmint. Ohne Hilfe aus Tripolis ist eine Abfertigungshalle aus Containern | |
entstanden. Turkish Airlines fliegt Misurata aus Istanbul an, gerade landet | |
ein nagelneuer Airbus von Libyan Airlines aus Bengasi. Normalität und Krise | |
liegen zurzeit dicht beieinander. | |
„Es fehlen nur noch die ausländischen Firmen“, seufzt Dschamel Alaweeb. Die | |
Nachrichten vom Angriff mehrerer tausend Soldaten aus Misurata auf das | |
benachbarte Bani Walid, Hochburg der letzten Gaddafi-Getreuen in Libyen | |
heute, werden internationale Firmen von Misurata noch länger fernhalten. Es | |
liegt ein Kriegstrauma über dieser Stadt, das sich mit aller Macht ihren | |
Weg zu suchen scheint. | |
Rund 800 Panzer haben die einst Belagerten aus Misurata von der | |
Gaddafi-Armee übernommen und sind damit zu einem neuen Machtfaktor in | |
Libyen geworden. „Nach der Entführung und Folter unseres Revolutionshelden | |
Omran Shaban in Bani Walid mussten wir einfach gegen diese Verbrecher | |
vorgehen“, sagt Alaweeb, bevor er sich mit den anderen zu seiner Familie | |
verabschiedet. | |
Bilder des jungen Omran Shaban hängen an jeder Ecke in Misurata, wie zur | |
Rechtfertigung für den Krieg, der den Jahrestag der Befreiung Libyens am | |
23. Oktober überschattet. Shaban hatte den Diktator in einem Abwasserrohr | |
in Sirte gefunden und wurde damit zum Symbol der Revolution. Und zum Symbol | |
der Feindschaft zwischen Sirte, Bani Walid und Misurata. | |
## In Sirte ist „nichts mehr“ | |
Muammar al-Gaddafi hatte Libyen mit kolonialen Mitteln regiert. Loyale | |
Gemeinden wurden mit Geldern und Posten bedacht, so wie Bani Walid und das | |
benachbarte Sirte, illoyale wie Misurata ignoriert. Je näher man sich | |
Sirte, Gaddafis Heimatort und Machtbasis, von Misurata aus nähert, desto | |
angespannter wirken die Straßenposten, die Autos und Insassen streng | |
kontrollieren. „Was wollt ihr denn ausgerechnet in Sirte?“, fragt der | |
Soldat in der Uniform der neuen libyschen Armee. „Dort ist doch nichts | |
mehr.“ Die Häuserruinen am Stadteingang scheinen ihm recht zu geben. | |
Die sonst überall in Libyen verbreiteten Graffiti mit variantenreichen | |
Verunglimpfungen von Gaddafis Lockenkopf fehlen völlig. Sirte wirkt wie | |
stillgelegt. Offen unterstützt hier zwar niemand mehr die so genannte | |
Volksherrschaft Gaddafis. Sitzt man aber lange genug im Café und sind keine | |
Zuhörer in der Nähe, werden die Klagen über den Umsturz laut. Oder man | |
schweigt und weist den Besucher auf die von Einschusslöchern übersäten | |
Häusergerippe. | |
„Vorher waren die Libyer zumindest nicht gespalten,“ sagt Imal al-Gaddafa, | |
ein Verwandter des Colonels und Student an der Universität in Sirte. | |
„Libyen war sicher nicht perfekt, aber vorher zu 75 Prozent besser als | |
jetzt.“ Zu den tausenden politischen Gefangenen und Gaddafis willkürlichem | |
Regierungsstil möchte sich keiner im Café äußern. 80 Prozent der Häuser in | |
Sirte wurden bei den Kämpfen durch die Misurata-Brigaden zerstört. Übrig | |
blieb eine Kraterlandschaft mit Stahlskeletten, ausgebrannten Büros, wo in | |
einigen abends das Licht brennt und jemand Schutt wegräumt. | |
„Wir brauchen Millionen Dollar, um unsere Stadt wiederaufzubauen“, sagt Ali | |
Labaz vom inoffiziellen Stadtrat. Dramatisch versucht er die Lage mit einem | |
Beispiel zu untermauern: „Im Bürgermeisteramt gab es anfangs nur einen | |
Stift, den wir uns alle geteilt haben.“ | |
## Ein Viertel der Einwohner sind Flüchtlinge | |
Der Stadtrat hat sich in Ouagadougou eingerichtet, Gaddafis opulentem | |
Konferenzzentrum, das später einmal Sitz der Vereinigten Staaten von Afrika | |
werden sollte. Eines der wenigen funktionierenden Gebäude der Stadt. | |
Jedes Detail am Bau scheint einen leichten Grünstich zu haben. Grün war die | |
Farbe der Dschamaharia – der Volksbewegung – und ist im Rest Libyens fast | |
völlig verschwunden. Das Gebäude symbolisiert, was viele Libyer dem | |
Exzentriker in den letzten Jahren am meisten vorwarfen: wenig für Libyen, | |
aber viel für Subsahara-Afrika getan zu haben – um Führer des Kontinents zu | |
werden; Ouagadougou ist das Symbol dieses Größenwahns. | |
„Über 10.000 Gebäude wurden in Sirte zerstört, von den 100.000 Einwohnern | |
sind ein Viertel Flüchtlinge“, sagt Abduldschalil Saoush, der Sirte im | |
Nationalkongress in Tripolis vertritt. Es herrscht akute Wohnungsnot, den | |
Flüchtlingen geht es besonders schlecht: „Die Truppen aus Misurata haben | |
auch unsere Stadt dem Erdboden gleichgemacht, genau wie Sirte“, beschwert | |
sich Moktar Mohammed al-Dabouh aus Tawarga. | |
Die gleichnamigen dunkelhäutigen Tawarga, Nachfahren von Flüchtlingen aus | |
Schwarzafrika, kämpften auf der Seite des Regimes. Sie hatten gute Posten | |
in Polizei und Armee zu verlieren. Die Beteiligung an der Belagerung von | |
Misurata zahlten sie mit der völligen Zerstörung ihrer Stadt. „Wir werden | |
in Sirte gut behandelt, aber es ist eben nicht unsere Heimat“, sagt Dabouh. | |
## Nur die Misratis waren für die Revolution | |
Von den vier Stämmen in Sirte, den Firjanis, den Warfallahs, den Gaddafas | |
und den Misratis, haben nur Letztere die Revolution unterstützt. Die | |
Spannungen zwischen Revolutionären und Regimetreuen sind nach wie vor groß. | |
Kurz vor dem Jahrestag von Gaddafis Tod – dem 20. Oktober – kam es auf | |
offener Straße zu Schießereien zwischen Jugendlichen beider Gruppen. | |
Brennende Autoreifen als Protest gegen den Feldzug gegen Bani Walid machen | |
die Weiterfahrt unmöglich. Fotografieren wird mit offenen Drohungen | |
beantwortet. | |
Die Nationale Armee hat eine Ausgangssperre verhängt. „Jeden, der nach 22 | |
Uhr aufgegriffen wird, verhaften wir“, brüllt Sheik Swessi Musa nervös über | |
seinen leeren Schreibtisch im Hauptquartier des SSC, des obersten | |
Sicherheitskomitees. Er ist wie alle hier in Sirte nervös. Der SSC | |
untersteht dem Innenministerium in Tripolis. 1.200 Mann, dazu ein paar | |
freiwillige Revolutionäre aus Bengasi. | |
Sie haben die Mehrheit im Ort gegen sich, und der Sturm auf die Warfalla in | |
Bani Walid, keine 120 Kilometer entfernt, macht die Lage nicht besser. | |
Wieder sind es Einheiten aus Misurata, die sich auf die Jagd nach den | |
letzten Gaddafi-Anhängern begeben haben. | |
In Sirte fürchtet man, dass der Krieg in Bani Walid so endet wie der in | |
ihrer eigenen Stadt, mit großflächiger Zerstörung. „Die Warfalla leben üb… | |
ganz Libyen verteilt. Die Gefahr ist groß, dass der Konflikt zwischen | |
Misurata, Bani Walid und Sirte auf den Rest des Landes übergreift“, warnt | |
der Journalist Mohammed Aboudschanah aus Bengasi. | |
„Die Libyer haben in ihren Städten völlig unterschiedliche Erfahrungen | |
gemacht, sowohl während der Diktatur als auch in der Revolution“, sagt | |
Aboudschanah, der für einen Radiosender aus Sirte berichtet. „Die | |
Hauptaufgabe der neuen Regierung besteht darin, die Versöhnung zwischen den | |
Städten in die Wege zu leiten, auf die früheren Regimeleute zuzugehen. | |
Sonst sehen wir dunklen Zeiten entgegen.“ | |
25 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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