# taz.de -- Opferangehörige über die NSU-Morde: „Es waren eben nur Türken�… | |
> Vor einem Jahr flog die Terrorzelle NSU auf. Fadime Simsek, Nichte des | |
> ersten Opfers, über das Leben nach dem Mord und ihr verlorenes Vertrauen | |
> in die Behörden. | |
Bild: Die zehn Opfer der Neonazi-Terrorzelle: Enver Simsek ist oben links zu se… | |
taz: Frau Simsek, was ist Ihre Lieblingsblume? | |
Fadime Simsek: Ich mag Callas sehr gerne (holt ein cremefarbenes Exemplar | |
aus dem Flur). Schön, oder? | |
Waren das auch die Lieblingsblumen Ihres Onkels Enver Simsek? | |
Er liebte Rosen. Er stammte ja aus der Nähe der türkischen Stadt Isparta, | |
der Stadt der Rosen. Weil die Rosen aus Holland nicht richtig duften, hat | |
er aus der Türkei immer Rosenduft mitgebracht und auf die Blumen | |
geträufelt. Er wollte den Menschen eine Freude bereiten. | |
Was war er für ein Mensch? | |
Für mich war er ein Vorbild. Er war phantasievoll, hatte viele Ideen. Er | |
wusste immer, was er wollte, hatte keine Angst. Zum Beispiel hat er seinen | |
Arbeitsplatz aufgegeben, um seinen Traum zu erfüllen und einen Blumenhandel | |
zu eröffnen, obwohl ihm jeder davon abgeraten hatte. | |
Nach seiner Ermordung haben Sie hier in der hessischen Kleinstadt | |
Schlüchtern das Blumengeschäft Ihres Onkels Enver übernommen. | |
Ja. Seine Witwe hatte viel gelitten damals. Sie hatte die Liebe ihres | |
Lebens verloren, bekam Depressionen. Sie konnte den Laden nicht | |
weiterführen. Also habe ich ihn zum Andenken an meinen Onkel übernommen, | |
bis wir das Geschäft sechs Jahre später leider schließen mussten. | |
Können Sie sich noch an den 9. September 2000 erinnern, den Tag, an dem | |
Enver Simsek in Nürnberg an seinem Blumenstand erschossen wurde? | |
Sehr gut sogar. Es war ein schöner Nachmittag, ein Samstag, eine Freundin | |
von mir feierte Geburtstag. Am Abend hat dann plötzlich meine Tante | |
angerufen und gesagt, mein Onkel sei angeschossen worden. Ich dachte, | |
vielleicht wollte ihm ein Verbrecher sein Geld klauen. Wir haben zwei Tage | |
gewartet, gehofft, gebangt und kein Auge zubekommen. Dann haben die Ärzte | |
im Krankenhaus in Nürnberg die Geräte abgeschaltet. | |
Bis zu der Aufklärung der Tat sind elf Jahre vergangen. Erst im November | |
2011 wurde öffentlich bekannt, dass eine Neonazi-Terrorzelle Ihren Onkel | |
und neun weitere Menschen ermordete. Wie ging es Ihnen an diesem Tag? | |
Es war für uns eine große Erleichterung. Endlich wussten wir, wer die Täter | |
waren und was der Hintergrund dieser Morde war. Gott hat die Balance | |
wiederhergestellt und für Gerechtigkeit gesorgt. Die beiden Mörder meines | |
Onkels sind tot. | |
Die Polizei stellte jahrelang falsche Verdächtigungen auf. Erst geriet | |
Enver Simseks Witwe ins Visier, später hieß es: Der Ermordete selbst könnte | |
Drogen von Holland nach Deutschland geschmuggelt haben – dabei hat er dort | |
nur Blumen beim Großhandel gekauft. Wie hat Ihre Familie all das elf Jahre | |
lang ausgehalten? | |
Wir hatten erst Mal Angst. Wir wussten ja nicht, ob sich vielleicht jemand | |
auch noch an uns rächen will. Deswegen haben wir an unserem Auto auch nicht | |
den Namen Simsek als Werbung für den Blumenladen angebracht. | |
Und wie gingen Sie mit all den Beschuldigungen um? | |
Das Schlimme war: Irgendwann habe auch ich angefangen mich zu fragen, ob an | |
den Verdächtigungen der Polizei nicht etwas dran sein könnte. Ich dachte | |
mir: Die sind geschult, klug, geben sich Mühe, die wissen es vielleicht | |
besser. Und hat nicht jeder Mensch seine Schattenseite? Aber in meinem | |
Herzen war mir immer klar, dass mein Onkel nicht so ein Mensch war, wie | |
plötzlich behauptet wurde. Wir hatten ja auch immer wieder vermutet, dass | |
die Täter Rassisten oder Neonazis sein könnten. Mit Gottes Hilfe ist die | |
Wahrheit ans Licht gekommen. | |
In den Medien wurde die Serie von Morden an einem griechischstämmigen und | |
acht türkischstämmigen Männern „Döner-Morde“ genannt ... | |
... das fand ich krass. Da wurden Menschen zu einem Klumpen Fleisch | |
reduziert. Aber was hätte man machen sollen? Im Nachhinein denke ich, wir | |
Türken waren zu passiv, wir hätten auf den Tisch hauen müssen. Wir haben | |
still abgewartet, bis die Täter entdeckt werden. | |
Aber es gab doch Demos, 2006 in Kassel und Dortmund. | |
Ja, aber das war viel zu wenig. | |
Sie als Angehörige können doch nicht selber ermitteln! | |
Nein, aber wir hätten mehr Druck ausüben können auf die Regierung. Es | |
wurden acht Türken ermordet. Wären es Menschen aus anderen Ländern gewesen, | |
den USA, Frankreich oder England, dann wäre im Land doch die Hölle | |
losgewesen. Aber es waren eben nur Türken, deswegen haben die | |
Sicherheitsbehörden nicht richtig gearbeitet und geschlampt. Beim | |
Verfassungsschutz haben sie die drei Affen gespielt: Nichts hören, nichts | |
sehen, nichts sagen. | |
Sie sind sehr kritisch der türkischen Gemeinde gegenüber. Hätte nicht die | |
Mehrheitsgesellschaft wachsamer sein müssen? | |
Der war das egal, das haben wir ja festgestellt. Die Deutschen haben ihrem | |
Land vertraut, das habe ich ja auch gemacht. Deutschland ist so ein | |
mächtiger Staat. Wenn er sein bestes gegeben hätte, dann hätten nicht so | |
viele Menschen sterben müssen. Man hat uns im Stich gelassen. | |
Ein Türke ist hierzulande weniger Wert als andere Menschen? | |
So sieht es aus. | |
Trotz alldem engagieren Sie sich seit zwei Jahren ehrenamtlich als | |
Integrationslotsin für dieses Land. Warum? | |
Das hat nichts mit dem Mord an meinem Onkel zu tun. Ich mache das, um | |
Menschen mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Ich sage meinen Söhnen | |
immer, dass sie hier nur durch eine gute Ausbildung und durch einen guten | |
Job Anerkennung bekommen. Als Migrant muss man immer noch ein bisschen | |
besser sein als die anderen. | |
Würden Sie Deutschland als Ihre Heimat bezeichnen oder die Türkei? | |
Das war einmal. Ich bin in der Türkei geboren, aber in Deutschland | |
aufgewachsen. Seit 2002 habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Es gibt | |
eine Redewendung: Die Fremde ist nicht Heimat geworden, aber die Heimat | |
Fremde. Das trifft es ziemlich gut. | |
Gibt es einen Ort der Erinnerung an Ihren Onkel Enver Simsek? | |
Hier in Schlüchtern nicht, aber in seinem Heimatort in der Türkei. Dort ist | |
sein Grab. Wenn ich in der Türkei bin, besuche ich es immer. Auch meine | |
Großmütter liegen dort begraben. | |
Waren Sie vor zwei Monaten, am zwölften Todestag Ihres Onkels, an seinem | |
Grab? | |
Nein. Aber Envers Sohn hat sich an diesem Tag verlobt. Das ist eine schöne | |
Erinnerung. | |
Was wünschen Sie sich? | |
Dass sich so etwas wie diese Mordserie nie mehr wiederholt. Kanzlerin | |
Angela Merkel hat bei der Trauerfeier für die Opfer im Februar zu Recht | |
gesagt: Das ist eine Schande für Deutschland. | |
1 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
C. Akyol | |
W. Schmidt | |
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