# taz.de -- Gedenken zu Neonazi-Morden: Nicht einmal Opfer sein dürfen | |
> Beim Gedenken an die Opfer der Neonazi-Terrorzelle spricht eine Tochter | |
> vom Verdacht gegen ihre Familie: "Ahnen Sie, wie sich das anfühlt?" | |
Bild: Semiya Simsek und Gamze Kubasik gedenken ihren Vätern. | |
BERLIN taz | Ganz zum Schluss, nach der Rede der Kanzlerin, nach Gedichten | |
von Erich Fried und Ahmet Muhip Diranas, nach Musikstücken von Bach, John | |
Lennon und Cemal Resit Rey tritt Semiya Simsek auf die Bühne. | |
Es muss unendlich schwer sein für die junge Frau, vor den 1.200 Gästen des | |
Staatsakts hier im Konzerthaus am Gendarmenmarkt und Millionen vor den | |
Fernsehschirmen zu reden. Aber Simsek hat eine Botschaft. Und so wird sie | |
für sechs Minuten an diesem Donnerstagvormittag zum Gewissen der Nation. | |
"Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", sagt sie | |
mit fester Stimme. "Immer lag da die Last über unserem Leben, dass | |
vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie | |
verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters." | |
Semiya Simsek redet über die falschen Verdächtigungen gegen ihre Mutter. | |
Und die gegen ihren ermordeten Vater, er könne in kriminelle Machenschaften | |
verstrickt sein. "Dass all diese Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren und | |
völlig haltlos waren, das wissen wir heute: Mein Vater wurde von Neonazis | |
ermordet", sagt sie. "Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das | |
Gegenteil ist der Fall." Schräg hinter hier auf der Bühne hängt schlaff | |
eine Deutschlandflagge. | |
## Worte, die ins Mark gehen | |
Semiya Simsek war 14, als ihr Vater Enver ermordet wurde. Der Mann aus | |
Schlüchtern in Hessen hatte seinen mobilen Blumenstand am 9. September 2000 | |
in der Liegnitzer Straße in Nürnberg geparkt, als plötzlich zwei Männer | |
auftauchten und ihn auf der Ladefläche seines Transporters regelrecht | |
hinrichteten. Er war das erste Opfer einer beispiellosen Neonazi-Mordserie, | |
bis April 2007 erschossen die rechten Terroristen neun Geschäftsleute mit | |
türkischen und griechischen Wurzeln und zuletzt in Heilbronn die Polizistin | |
Michéle Kiesewetter. | |
In einem Bekennervideo, das nach dem Tod der beiden Haupttäter verschickt | |
wurde, bejubeln die Neonazis die Morde aufs Zynischste. "Ticket in die | |
Hölle" steht auf einem Bild von Enver Simsek, später wird in dem Clip ein | |
Foto eingeblendet, das den blutüberströmten Blumenhändler zeigt - die | |
Mörder haben es selbst aufgenommen. "Enver Simsek weiß nun wie ernst uns | |
die Erhaltung der deutschen Nation ist", hieß es in einem Vorläufervideo | |
der Neonazibande. | |
Doch verdächtigt wurden jahrelang nicht Rassisten, sondern die Familien der | |
Ermordeten, ihr Umfeld - und die Opfer selbst. | |
So war es auch bei Enver Simsek. Zunächst wurde seine Frau verdächtigt, | |
später vermuteten die Fahnder, Simsek könnte Drogen aus den Niederlanden | |
nach Deutschland geschmuggelt haben - dort kaufte er beim Großmarkt frische | |
Blumen ein. | |
"Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich | |
selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden?", fragte Semiya | |
Simsek am Donnerstag beim Staatsakt. "Und können Sie erahnen, wie es sich | |
für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine | |
schon ohnehin betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?" | |
Es sind Worte, die ins Mark gehen. Auch unter den Repräsentanten des | |
Staates, der es nicht vermocht hat seine Bürger zu schützen, haben einige | |
Tränen in den Augen. Von einer "Schande für unser Land" hatte die Kanzlerin | |
gesprochen. | |
## Eine Kerze für die Hoffnung | |
Es gibt viele hochemotionale Momente an diesem Donnerstag. Direkt vor | |
Semiya Simsek war Ismail Yozgat auf die Bühne getreten, dessen Sohn am 6. | |
April 2006 in den Kopf geschossen wurde - er starb im Alter von 21 Jahren | |
in den Armen seines Vaters. Kurzfristig hatte Ismail Yozgat darum gebeten, | |
auch ein paar Worte sagen zu dürfen. | |
Er wolle kein Geld vom Staat, sagte er auf Türkisch, sondern dass die Täter | |
und ihre Helfer alle gefasst werden. Und dass die Straße in Kassel, in der | |
sein Sohn in seinem Internetcafé ermordet wurde, doch bitte umbenannt | |
werden soll in Halit-Yozgat-Straße. | |
Die Rede von Semiya Simsek muss die Repräsentanten des Staats doppelt hart | |
treffen. Denn die Frau, die im Hosenanzug vor ihnen steht, ist hier geboren | |
und aufgewachsen, sie ist studierte Pädagogin - und hadert mit diesem Land, | |
ihrer Heimat. Sie quäle sich mit der Frage: "Bin ich in Deutschland zu | |
Hause?" | |
Im Vorfeld der Gedenkfeier hatte Simsek angekündigt, im Juni in die Türkei | |
zu gehen. "Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein", sagt sie | |
dagegen an diesem Donnerstag. "Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann | |
die Lösung sein." | |
Am Ende trägt Semiya Simsek zusammen mit Gamze Kubasik, deren Vater | |
ebenfalls von den Neonazis ermordet wurde, eine Kerze aus dem Großen Saal | |
des Konzerthauses. Sie steht für die Hoffnung "auf eine Zukunft, die von | |
mehr Zusammenhalt geprägt ist". | |
23 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Wolf Schmidt | |
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