| # taz.de -- Gedenken an Naziopfer: Zuerst Deutsche! | |
| > Ein Staatsakt in preußischer Tradition kann nicht verdecken, was dieses | |
| > Land wirklich benötigt: Migranten endlich zu deutschen Staatsbürgern zu | |
| > machen. | |
| Bild: Bereits bestens integriert: deutsche Fahne im Plattenbau. | |
| Nein, den in Deutschland lebenden Türken von heute geht es trotz der Opfer | |
| rechtsextremistischer Gewalt nicht wie den Juden von gestern: Juden wurden | |
| nach 1933 jeglichen Schutzes des Rechts beraubt, stigmatisiert, öffentlich | |
| erniedrigt und ausgeplündert, um endlich deportiert, in Gettos gesperrt, im | |
| Freien erschossen oder qualvoll vergast zu werden. | |
| Der Nationalsozialismus mit all seinen Verbrechen war ein politisches | |
| Projekt: ein Koalitionsregime von Bürgerlichen, schwachen Liberalen, | |
| opportunistischen Kirchen, revanchistischen Nationalen, | |
| ressentimentgeladenen Technokraten, fast allen Fraktionen des deutschen | |
| Kapitals sowie ein paar völkischen Spinnern. | |
| Der Überdimensionalität der von dieser Koalition arbeitsteilig begangenen | |
| Verbrechen ist es geschuldet, dass sich die Bundesrepublik Deutschland als | |
| bisher einziger Staat der Welt bereit gefunden hat, den Opfern ihres | |
| Vorgängerstaates in Sichtweite ihres Parlaments, mit Peter Eisenmans | |
| Stelenfeld ein Denkmal zu setzen - eine gleichsam Stein gewordene Variation | |
| von Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, der die Unantastbarkeit der | |
| Würde des Menschen - nicht des Deutschen - zum Prinzip des Staates erhebt. | |
| Doch sosehr der deutsche Staat dem Gedenken an seine verbrecherische | |
| Vergangenheit eine gelungene Form zu geben vermochte, so wenig gelingt ihm | |
| dies im Blick auf seine eben vergangene Gegenwart. | |
| ## Warum Gendarmenmarkt und nicht im Bundestag | |
| Die Lage der in Deutschland lebenden Türken ist, wie schon erwähnt, mit der | |
| Lage der Juden im nationalsozialistischen Europa nicht gleichzusetzen - | |
| dennoch fragt man sich, warum der Staatsakt zur Ehrung der von der | |
| Zwickauer Gruppe ermordeten Immigranten nicht ebenfalls im Deutschen | |
| Bundestag, im Reichstagsgebäude, sondern (nur?) am Gendarmenmarkt | |
| stattfinden wird. | |
| Der gewachsenen deutschen Gedenkkultur an den Holocaust entsprach, dass vor | |
| gut drei Wochen Marcel Reich-Ranicki, Überlebender des Warschauer Gettos, | |
| eine ergreifende Rede zum 27. Januar hielt - im Deutschen Bundestag, vor | |
| dem Parlament. Und nun das Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt? | |
| Niemandem, der Gespür für die Bedeutung von Orten hat, kann entgehen, dass | |
| der Gendarmenmarkt mit seinem nach einem klassizistischen Entwurf von Karl | |
| Friedrich Schinkel 1821 erbauten Konzerthaus eher für Preußen denn für | |
| Deutschland steht. Man muss den aktuellen Rummel um Preußen gar nicht | |
| mitmachen, um zu wissen, dass dieses fritzische, autoritäre Preußen eines | |
| jedenfalls nicht war: fremdenfeindlich! | |
| ## Hunderte Opfer | |
| Die Bundesrepublik Deutschland allerdings, auf der Wende vom 20. zum 21. | |
| Jahrhundert, weist diese Züge durchaus auf: Der in ihrer Bevölkerung | |
| wabernden Menschenfeindlichkeit fielen seit 1989 Hunderte von Menschen, | |
| keineswegs nur Immigranten, sondern auch Obdachlose und andere, zum Opfer. | |
| Gleichwohl unterscheidet sich Deutschland von seinen Nachbarländern, in | |
| denen diese Fremdenfeindlichkeit ebenfalls grassiert, in einer Hinsicht: | |
| Anders als in allen Nachbarländern sitzt im deutschen Bundesparlament aus | |
| Gründen, die mit der schon erwähnten Gedenkkultur zusammenhängen, keine | |
| rechtspopulistische Partei. | |
| Sogar Politiker, die mit derlei liebäugeln, wissen nur zu gut, dass sie | |
| nicht nur ihren Ruf irreparabel schädigen, sondern sich auch in die | |
| babylonische Gefangenschaft von Spinnern und Querulanten begeben würden. | |
| Das aber ist schon alles: Die anderthalb Millionen verkauften Exemplare des | |
| pseudowissenschaftlichen Machwerks von Thilo Sarrazin belegen, dass das | |
| Potenzial für derartige Parteien allemal - auch in der Mitte der | |
| Gesellschaft - vorhanden ist. | |
| ## Fremd im eigenen Land | |
| Die Forschungen Wilhelm Heitmeyers haben gezeigt: Etwa 30 Prozent der | |
| deutschen Bevölkerung haben 2011 der Meinung zugestimmt, dass bei knapp | |
| werdenden Arbeitsplätzen "Ausländer" wieder "nach Hause" geschickt werden | |
| sollen. Immerhin ist ein Rückgang bei der Islamfeindlichkeit zu | |
| verzeichnen: Während sich 2010 beinahe 40 Prozent angesichts der | |
| hierzulande lebenden Muslime fast wie fremd im eigenen Land fühlten, waren | |
| dies 2011 nur noch 30 Prozent. | |
| Schließlich sind rechtspopulistische Einstellungen insgesamt zwischen 2003 | |
| und 2011 von 13,6 auf 9,2 Prozent zurückgegangen. Gleichwohl hat die | |
| Zwickauer Terrorzelle in ebendiesem Zeitraum zehn Menschen ermorden können | |
| und waren Polizei und Geheimdienste nicht nur unfähig, diese Morde | |
| aufzuklären, sondern in ihrem gemeingefährlichen Interesse am Schutz ihrer | |
| "V-Männer" sogar daran beteiligt, die Verfolgung dieser Taten zu vereiteln. | |
| Man darf gespannt sein, wie die neue Hauptrednerin bei diesem Staatsakt, | |
| die Bundeskanzlerin, auf diese Versäumnisse eingehen wird. Mit einem | |
| würdigen Verlauf, ergreifenden Ansprachen von Verwandten der Ermordeten ist | |
| allemal zu rechnen, ebenso wie mit einer bundesweiten Schweigeminute. | |
| ## Ein anrührendes Ritual | |
| Dennoch ist all dies wohlfeil, weil es sich eben nur um ein anrührendes | |
| Ritual, nicht aber um jenen echten, das heißt politischen Staatsakt handeln | |
| wird, der den Betroffenen erst wirkliche Genugtuung und echte Sicherheit | |
| als BürgerInnen der Bundesrepublik garantieren könnte: eine Änderung des | |
| Staatsangehörigkeitsrechts vom Abstammungs- zum Geburtskriterium. | |
| Erst dieser echte Staatsakt, diese parlamentarische Entscheidung, wäre ein | |
| wirksames Signal an das breite Spektrum der bundesdeutschen Rechten - von | |
| der bildungsbürgerlichen Leserschaft Thilo Sarrazins zu den entstehenden | |
| konservativen Zirkeln in CDU/CSU über die Grau- beziehungsweise Braunzonen | |
| von LeserInnen der Jungen Freiheit bis zur jetzt um "Bürgerlichkeit" | |
| bemühten NPD und den diversen Cliquen der Neonazis -, dass ihre Agitation | |
| sinnlos ist. | |
| Alles andere ist Beiwerk: Selbstverständlich müssen die Versäumnisse der | |
| Geheimdienste aufgeklärt, der öffentliche Raum in der ländlichen Fläche | |
| Ostdeutschlands von der Hegemonie jugendlicher Rechtsextremisten befreit | |
| und die mit einem NPD-Verbot verbundenen Fragen ernsthaft geprüft werden. | |
| Doch wäre all dies nicht mehr als eine gut gemeinte Bereinigung des Status | |
| quo, eines Zustands, der strukturell Fremdenfeinden noch immer Anlass zur | |
| Tat gibt. Zielten doch die Mordtaten der Zwickauer Zelle vor allem darauf, | |
| unter Immigranten Angst und Schrecken zu verbreiten, damit sie und ihre | |
| Kinder früher oder später Deutschland verlassen. | |
| ## Noch immer "Ausländer" | |
| Erst eine endgültige Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts würde die immer | |
| wieder fremdenfeindliche Gewalttaten motivierende Aussicht, die "Ausländer" | |
| irgendwann vertreiben zu können, null und nichtig werden lassen. Noch immer | |
| nämlich folgt das von Rot-Grün nur leicht modifizierte | |
| Staatsbürgerschaftsrecht einem ethnischen Kriterium. | |
| Noch immer unterliegen hier geborene Kinder von Immigranten dem Zwang, sich | |
| bei ihrem achtzehnten Lebensjahr für die deutsche oder die | |
| Staatsbürgerschaft ihrer Eltern entscheiden zu müssen. Noch immer gilt es | |
| als Voraussetzung für die Einbürgerung, dass die Eltern der Kinder | |
| mindestens acht Jahre lang legal in Deutschland gelebt haben müssen. | |
| Noch immer ist die Bundesrepublik meilenweit davon entfernt, prinzipiell | |
| diejenigen als Inländer zu begreifen, die auf deutschem Boden geboren | |
| werden, wie es etwa in den USA selbstverständlich geübte Praxis ist. | |
| ## Solidarität und Mitgefühl | |
| Der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt wurde | |
| ein preußischer, ein idealistischer Rahmen zugedacht: hinter einem Denkmal | |
| von Friedrich Schiller, in einem klassizistischen Gebäude soll der | |
| Ermordeten gedacht und ihren zehn Jahre lang drangsalierten Angehörigen | |
| Solidarität wie Mitgefühl bekundet werden. | |
| Vielleicht eröffnet dieser Ort jedoch über seine repräsentative Form hinaus | |
| auch eine weiterführende Perspektive: vor beinahe zweihundert Jahren, am | |
| 11. März 1812, erließ König Friedrich Wilhelm III. auf Druck der | |
| preußischen Reformer ein "Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse | |
| der Juden in dem Preußischen Staate", dessen Artikel eins folgenden | |
| Wortlaut hatte: | |
| "Die in Unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit Generalprivilegien, | |
| Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden | |
| und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu | |
| achten." | |
| Nein, die Türken von heute sind nicht die Juden von gestern, aber | |
| vielleicht ähnelt ihre Lage doch den Juden von vorvorgestern. Das wäre | |
| durchaus ein Thema für einen neuen Bundespräsidenten, indes: Von Joachim | |
| Gauck ist diese Rede nicht zu erwarten - war er es doch, der dem in der | |
| Wolle gefärbten Rassisten Thilo Sarrazin respektvoll eine hohe moralische | |
| Tugend, nämlich "Mut", zugesprochen hat. | |
| 23 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Protest | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedenkveranstaltung in Köln: Ein stiller leerer Platz | |
| Weniger als 100 Menschen folgen dem Aufruf von Gewerkschaften und | |
| Arbeitgeberverband in Köln zur Gedenkveranstaltung für die Opfer des | |
| rechtsextremen Terrors. | |
| Gedenkfeier für NSU-Opfer in Berlin: "Eine Schande für unser Land" | |
| Angela Merkel kritisiert, dass rechte Gewalt zu oft verdrängt wird und ihre | |
| Opfer zu schnell vergessen sind. Bei den Angehörigen der Ermordeten | |
| entschuldigt sie sich. | |
| Neonazi-Helfer gesteht Waffenbeschaffung: Waffenlieferung an Terroristen | |
| Neonazi-Helfer Carsten S. sagt aus, die Tatwaffe geliefert zu haben, mit | |
| der das Zwickauer Trio neun Morde begangen hat. Davon habe er allerdings | |
| nichts gewusst. | |
| Kommentar Trauerfeier: Ehrliche Gesten des Verzeihens | |
| Angela Merkel hat den richtigen Ton getroffen. Das ist zu wenig. Die | |
| Antworten auf die Fragen, wie es zu den Morden kommen konnte, sind wir den | |
| Opfern schuldig. | |
| Gedenken zu Neonazi-Morden: Nicht einmal Opfer sein dürfen | |
| Beim Gedenken an die Opfer der Neonazi-Terrorzelle spricht eine Tochter vom | |
| Verdacht gegen ihre Familie: "Ahnen Sie, wie sich das anfühlt?" | |
| Gedenken an Neonazi-Mordopfer: "Ich bitte um Verzeihung" | |
| Das Gedenken für die Opfer der Neonazi-Terrorzelle NSU hat begonnen. | |
| Bundeskanzlerin Merkel entschuldigte sich bei den Angehörigen für falsche | |
| Verdächtigungen durch die Ermittler. | |
| Neonazi-Kampagne auf Facebook: Solidarität für möglichen Terrorhelfer | |
| Mit einer Netzkampagne fordern zahlreiche Neonazis die Freilassung von Ralf | |
| Wohlleben. Er steht im Verdacht der Terrorzelle NSU eine Pistole beschafft | |
| zu haben. | |
| Ombudsfrau kritisiert Ermittlungen zur NSU: "Die Polizei muss moderner werden" | |
| Die Opferbeauftragte für die Neonazi-Mordserie, Barbara John, hat ein | |
| Umdenken bei der Polizei gefordert. Die Behörden hätten zu lange einseitig | |
| in die falsche Richtung ermittelt. | |
| Regierung aktualisiert rechte Mordopferzahl: Einige mehr und viele zu wenig | |
| Die Bundesregierung hat die offizielle Zahl der Opfer rechter Gewalt | |
| aktualisiert: Mit enthalten sind nun auch die Opfer der Neonazi-Terrorzelle | |
| NSU. Initiativen gehen von einer viel höheren Zahl aus. | |
| Widerstand gegen Neonazi-Aufmarsch: Dresden geht denken | |
| In Dresden fällt es schwer, den Weltkriegsopfern zu gedenken. Neonazis | |
| versuchen, das Thema zu okkupieren. Der Widerstand dagegen hat das | |
| bürgerliche Lager erreicht. |