# taz.de -- Die USA vor der Wahl: „Wie ein Dritte-Welt-Land“ | |
> Der Autor John Jeremiah Sullivan über Prognosen zur Präsidentschaftswahl, | |
> die Romantik der Occupy-Bewegung und einen Freudentanz von Serena | |
> Williams. | |
Bild: „Wir werden ab Mittwoch einen mutigeren Obama sehen“. Präsidiale Han… | |
taz: Mister Sullivan, wer wird der nächste US-Präsident? | |
John J. Sullivan: Barack Obama. | |
Das sagen Sie aber selbstbewusst. Die Umfragen suggerieren doch ein knappes | |
Rennen. | |
Nate Silver, ein Statistiker von der New York Times, schätzt die Chancen | |
Romneys auf den Wahlsieg auf circa 30 Prozent. Ich vertraue ihm. Er bezieht | |
ein, dass Millionen Jungwähler mit Mobiltelefonen nicht befragt werden. | |
Außerdem haben die Medien ein Interesse daran, das Rennen möglichst offen | |
darzustellen, damit die Einschaltquoten der Nachrichten und damit auch die | |
Werbeeinnahmen hoch sind. | |
Der Rolling Stone schrieb neulich, dass Obama mit dem Slogan „No, you | |
won’t“ antreten sollte. Damit sollte er ausdrücken, dass ohne ihn alles | |
schlimmer gekommen wäre. Wieso ist der Enthusiasmus von 2008 verschwunden? | |
Das ist eines der größten Mysterien der US-Politik. Wie kann ein Präsident, | |
dessen Wahl nicht nur ein Land, sondern den gesamten Planeten inspiriert | |
hat, so in die Defensive geraten? Das verwundert mich bis heute. Aber, | |
falls er wiedergewählt wird, werden wir ab Mittwoch einen mutigeren und | |
aggressiveren Obama sehen. Er muss die Macht der Konzerne beschränken. | |
Würde das nicht seinem demokratischen Nachfolger als | |
Präsidentschaftskandidaten schaden? | |
Ich hoffe, dass eine eindeutig progressive Agenda einem demokratischen | |
Kandidaten eher nützen würde, weil Obama damit die Basis wieder begeistern | |
kann. Kommt dann noch die Ökonomie wieder in Schwung, kann sich die | |
Stimmung schnell wieder in Richtung der Vision von 2008 wenden. | |
Die politische Rechte hat im Jahr nach Obamas Amtsübernahme ihre eigene | |
basisnahe Vision hervorgebracht – die Tea Party. | |
Genau daran scheidet sich die Rechte. Die Tea Party wurde vom | |
republikanischen Establishment nicht umarmt, sondern war eher ein Mittel, | |
um die Demokraten einzuschüchtern. Das Parteiestablishment hätte lieber die | |
USA unter Reagan oder Nixon zurück. Aber sie wissen, dass die Zahlen nicht | |
für sie sprechen. Deshalb interessieren sie sich so für das Wahlrecht und | |
die Aufteilung der Wahlbezirke. Und wenn man gewinnen will, stellt man auch | |
keinen Ayn-Rand-Fan als Vizepräsidenten auf. Dagegen wirken die Demokraten | |
doch wie relativ vernünftige Zentristen. | |
Warum wird der Mythos des „Zentrismus“ im Moment wieder beschworen, etwa in | |
der TV-Serie „Newsroom“? | |
Letztlich ist das Teil unserer Verfassung, dieses Systems der Checks and | |
Balances. Nur bin ich mir unsicher, ob das in unserem Land noch | |
funktioniert. Wir bekommen es nicht mal hin, die abgeschwächte Version | |
eines Gesundheitssystems wie in Europa einzuführen, sondern lassen uns | |
seine Bedingungen von den Versicherungsfirmen diktieren. Die Rechte sieht | |
den Zentrismus nicht mehr als ihr Programm an. | |
Wie konnten die Republikaner selbst in der Gesundheitsdebatte Wähler | |
mobilisieren, deren Interessen sie nicht vertreten? | |
Das bleibt ihr Geheimnis. Es gibt aber eine Tendenz der Arbeiterklasse, zu | |
glauben, dass man zu den Gonna-Haves, den Aufsteigern, gehören wird. Sie | |
identifizieren sich fast mit den Reichen, die sie wie Helden betrachten, | |
und Romney kann diese Stimmung hervorragend anzapfen. | |
In Ihrer Reportage „In unserem Amerika“ schildern Sie eine Demonstration | |
der Tea Party gegen Obamas Gesundheitsreform und sprechen dabei von „wir“. | |
Warum? | |
Die Stimmung war so aufgeheizt, dass man nicht rational über das | |
Gesundheitssystem debattieren konnte. Jede Seite nahm an, dass man die | |
Position der anderen bis ins Kleinste kennen würde. Und ich wusste, dass 99 | |
Prozent meiner Leser den Artikel mit dieser Haltung lesen würden, also | |
wollte ich ihre Selbstsicherheit destabilisieren. Irgendwie waren es auch | |
„meine“ Leute auf dieser Demonstration – viele Südstaatler, viele arme | |
Weiße. Sie erinnerten mich an Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, und | |
ich fand ihre politische Naivität sympathisch. Die meisten hatten nie | |
ernsthaft über ihre Gesundheitsversorgung nachgedacht, bevor dies ein Thema | |
auf Fox News wurde. Sie waren aufgebracht und wollten Antworten. | |
Republikanische Thinktanks haben diese Lücke dann mit einer E-Mail-Kampagne | |
gefüllt. | |
Auch die Occupy-Bewegung hat mit „We are the 99 Percent“ auf die Masse | |
gezielt, aber die einseitige Verteilung von Reichtum thematisiert. Waren | |
sie erfolgreich? | |
Davon bin ich nicht überzeugt. In den USA ist die Mittelklasse der | |
schlafende Riese, und für diese hat sich Occupy nie interessiert. Meine | |
Mutter ist Englisch-Lehrerin und viele Slogans von Occupy hätten bei ihr | |
Widerhall gefunden. Aber sie hatte niemals das Gefühl, dass sie zu den | |
Camps gehen könnte, weil sich die Occupy-Bewegung schon fast narzisstisch | |
eingekapselt hat. In Wilmington, wo ich wohne, waren ausschließlich Kids | |
und Aktivisten im Camp. Aber die Tea Party wurde in dem Moment | |
ernstgenommen, als Berufstätige auf ihren Demos auftauchten. Wenn das bei | |
Occupy passiert wäre, hätte Washington aufgehorcht. Ich war nicht | |
sonderlich von der Romantik der Occupy-Bewegung angetan. Ich wollte, dass | |
sie etwas bewegen. | |
Obama hat dank Unterstützung der afroamerikanischen Basis 2008 die Wahl | |
gewonnen. Wie hat sich deren Situation verändert? | |
Die Mittelklasse ist für Afroamerikaner durchlässiger geworden, | |
gleichzeitig sperren wir immer noch eine obszön hohe Anzahl Schwarzer ein. | |
In vielen afroamerikanischen Communitys herrscht völlige Chancenlosigkeit. | |
Ich komme aus dem Süden. Dort, etwa in Mississippi, ist das Schulsystem | |
teilweise auf dem Stand eines Dritte-Welt-Landes. Das wäre nicht der Fall, | |
wenn diese Countys mehrheitlich von Weißen bewohnt wären, wenngleich die | |
Situation für arme Weiße nicht viel besser aussieht. Ethnizität und Klasse | |
verschränken sich dort. | |
Wie kann man denn als weißer Südstaatler angemessen über Rassenfragen | |
sprechen? | |
Ich habe das Gefühl, dass man darüber gar nicht sprechen kann. Direkt nach | |
der Wahl Obamas hat die schwarze Aktivistin und Autorin Bell Hooks gesagt: | |
„Die Menschen werden über ein postethnisches Amerika reden und so tun, als | |
hätten wir wegen eines schwarzen Präsidenten keinen Rassismus mehr.“ Ich | |
denke aber, dass Rassismus gerade dadurch erhalten bleibt, indem Debatten | |
über Ethnizität unterdrückt werden. Man muss den Leuten den Rassismus | |
vielleicht nicht unter die Nase reiben, aber man muss ihn zumindest | |
auftischen. | |
Haben Sie deshalb in einem Porträt der beiden tennisspielenden | |
Williams-Schwestern erzählt, dass Serena Williams die Biografie des | |
Sklavenführers Toussaint L’Ouverture in ihrer Pariser Wohnung als Deko | |
stehen hat? | |
Sie kannte den gar nicht. Vielleicht mochte sie nur den Umschlag mit einem | |
Schwarzen in stolzer Pose. Aber haben Sie den Tanz gesehen, den sie | |
aufgeführt hat, nachdem sie in London die Goldmedaille gewonnen hat? | |
Nein, ich bin kein Tennisfan. | |
Das war ein Crip Walk, den Mitglieder der Crips, einer Gang aus Los | |
Angeles, berühmt gemacht haben. Sie und Venus wurden als Kinder auf dem Weg | |
zum Tennisplatz von den Crips beschützt. Mit diesem Tanz hat sie ein | |
unglaubliches Statement gemacht. Als ich sie danach fragte, entgegnete sie: | |
„Das war nur so ein Tanz.“ | |
Wenn sie Verbindungen zu Gangs zugeben würde, hätten sich doch alle – | |
Medien, Politiker – auf sie gestürzt. | |
Genau. Besonders nach den Olympischen Spielen, wo sie ihr Land vertrat. | |
Stellen Sie sich vor, zwei wunderschöne Schwestern aus einer weißen Familie | |
würden jahrelang eine Sportart so dominieren wie die Williams-Schwestern. | |
Wir würden ihre Gesichter in den Mount Rushmore meißeln. Im Tennis gibt es | |
eine Menge Leute, die sich danebenbenehmen. Marat Safin war ein Monster, er | |
behandelte Linienrichter schlecht und hatte Wutanfälle auf dem Platz. Aber | |
bei den Williams-Schwestern sagen alle, dass sie den Sport gewalttätig | |
machen. Und ich glaube, dies ist ein Code für die Unfähigkeit, über „Race�… | |
zu reden, und stattdessen Spiegelfechtereien zu betreiben. | |
5 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
## TAGS | |
Barack Obama | |
US-Wahl | |
Republikaner | |
Demokraten | |
Tea Party | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
USA | |
US-Wahl | |
US-Wahl | |
Barack Obama | |
US-Wahl | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
US-Gericht kippt Wahlrechtsgesetz: Minderheitenschutz nicht zeitgemäß | |
Der Supreme Court annulliert einen Kernteil des Gesetzes gegen | |
Diskriminierung von schwarzen Bürgern bei Wahlen. Barack Obama zeigt sich | |
„zutiefst enttäuscht“. | |
Kommentar US-Wahl: Der lange Schatten von Florida 2000 | |
Die Anwälte von Republikanern und Demokraten liegen auf der Lauer. Bei | |
einem richtig engen Wahlergebnis könnte die Präsidentschaftswahl vor | |
Gericht entschieden werden. | |
Debatte US-Wahl: „Sandy“ gegen die Heuschrecke | |
Rettet Hurrikan „Sandy“ Barack Obama – und den American Dream? Mitt Romney | |
im Weißen Haus wäre eine Entscheidung gegen die Zukunft der USA. | |
Zwei Bücher zu US-Wahl: Den Staat ertränken | |
Philipp Schläger erklärt Psychologie und Politik der Tea Party. Christoph | |
von Marschall befasst sich mit Obamas Programm für die zweite Amtsperiode. | |
Debatte US-Wahlen: Eine katastrophale Bilanz | |
Die Gewerkschaften sind in Schockstarre, die Ungerechtigkeit schreit zum | |
Himmel. Schuld ist Obama. Wählen muss man ihn trotzdem. |