# taz.de -- Debatte US-Wahlen: Eine katastrophale Bilanz | |
> Die Gewerkschaften sind in Schockstarre, die Ungerechtigkeit schreit zum | |
> Himmel. Schuld ist Obama. Wählen muss man ihn trotzdem. | |
Bild: Barack Obama uns seine WählerInnen. Ob sie es bleiben? | |
Barack Obamas Wahlsieg 2008 hatte viele aufregende Elemente, und er kam | |
keinen Moment zu früh. Die US-Wirtschaft war auf dem Absturz in eine totale | |
Rezession, wenn nicht Depression. Viele Millionen Beschäftigte – | |
insbesondere Gewerkschaftsaktivisten, Afroamerikaner und Studenten – | |
unterstützten Obama enthusiastisch. | |
Als ich 2008 zur Wahl ging – und ich wählte Obama – war eine riesige | |
Menschenmenge vor meinem Wahllokal in Virginia. Schon vor fünf Uhr morgens | |
kamen die Menschen zusammen. Es war wie eine Feier. Nie zuvor hatte ich | |
mehr als ein paar Dutzend Leute vor dem Wahllokal Schlange stehen sehen. | |
Ungläubig gingen meine Frau und ich herum. | |
War das das Ende des kriminellen Regimes von Bush und Cheney? Wir kamen an | |
die Spitze der Schlange, wo wir auf eine Gruppe von Wählern trafen, die die | |
ganze Nacht dort verbracht hatten, um die ersten zu sein, die ihre Stimme | |
für Obama abgaben. Nach der Stimmabgabe gingen die Leute nur dann weg, wenn | |
sie unbedingt zur Arbeit mussten – Chefs in den USA sanktionieren | |
Verspätungen harsch, auch am Wahltag. | |
## Wandel leichtfertig verspielt | |
In diesem Jahr wird es weder Menschenmengen noch Jubelfeiern geben, da bin | |
ich mir sicher. Was ein in jeder Hinsicht historischer Moment war und ein | |
authentisches Mandat für progressiven Wandel, ist von der Obama-Regierung | |
leichtfertig verspielt worden. Obamas Unterstützer und freiwillige | |
Wahlhelfer von 2008 sind fast ausnahmslos demoralisiert, schlimmstenfalls | |
in Schockstarre. | |
Unter Aktivisten und Mitgliedern der Gewerkschaft – bei denen ich seit den | |
1970er Jahren aktiv bin – herrscht Verzweiflung über Obamas Scheitern und | |
Nichthandeln. Gewerkschaftsveteranen haben die Erfahrung enttäuschter | |
Hoffnungen schon öfter machen müssen, aber diesmal war es schlimmer. Für | |
viele erschien Obama als Messias. Das ist er nicht, das wissen nun alle. | |
Diese Stimmung bei den Gewerkschaften ist potenziell desaströs für Obama | |
und die Demokraten, denn selbst in unserer geschwächten Lage stellen die | |
Gewerkschaften doch noch immer einen Großteil der Wahlhelfer, der Wähler | |
und der Spender. | |
Die politische Krise in Obamas Wiederwahlkampagne hängt direkt mit seiner | |
gescheiterten politischen Agenda und Regierungsstrategie der letzten drei | |
Jahre zusammen. Während er einen neuen Rekord im Redenhalten und bei | |
Weltreisen aufstellte, hat er eine Wirtschaftspolitik verfolgt, die | |
Unternehmensprofite und Vermögensanhäufung auf neue Höchststände trieb – | |
auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung. Er hat sich geweigert, die | |
schamlosen Unternehmens-, Banken-, Kredit- und Finanzverbrechen | |
strafrechtlich zu verfolgen, die direkt in die Wirtschaftskrise geführt | |
haben. | |
Schlimmer noch, er hat viele Posten in seiner eigenen Regierung an Leute | |
aus völlig diskreditierten Unternehmen vergeben. Und er hat ohne jede | |
Erklärung alle Anstrengungen fahren lassen, die Fähigkeit der | |
Gewerkschaften zu Mitgliederrekrutierung und Wiederaufbau nach Jahren | |
harter Angriffe vonseiten der Unternehmer wiederherzustellen. | |
## Keine Jobs, keine Gerechtigkeit | |
Die Arbeitsbeschaffungsprogramme der Regierung sind nach 2009 abgelaufen | |
und ließen Millionen Arbeitsloser im Nichts zurück. Obamas vielbeschworene | |
Programme zum Wiederaufbau unserer angeschlagenen Industrieproduktion waren | |
wenig mehr als die Zustimmung für die Lohnkürzungsvorhaben der Unternehmer. | |
Obama hat nichts unternommen, unser unfaires und korruptes Steuersystem zu | |
reparieren. Noch immer tragen Beschäftigte und Rentner die größte Bürde. | |
Sein bewusster Angriff auf das öffentliche Schulsystem fördert massive | |
Privatisierung und die Entlassung von erfahrenen Lehrkräften. | |
Obamas Gesundheits„reform“ – „Obamacare“ – lässt die astronomisch … | |
Kosten der Gesundheitsversorgung unangetastet, private | |
Versicherungsmonopole behalten das US-Gesundheitssystem fest im Griff. | |
Obama hat mehrmals – zuletzt in der ersten TV-Debatte mit Konkurrent Mitt | |
Romney – deutlich gemacht, dass er den zerstörerischen Angriffen auf das | |
Rentensystem („Social Security“) und die Gesundheitsversorgung für Alte | |
(„Medicare“) nichts entgegensetzen wird. | |
In der Außenpolitik hat Obama unsere beispiellosen und lähmend hohen | |
Militärausgaben beibehalten, er ist mit dem vollständigen Rückzug aus dem | |
Irak gescheitert, hat das Engagement im afghanischen Morast sogar | |
gesteigert. Er verteilt Waffen und Militärberater überall auf der Welt. | |
Seine Bilanz im Bereich bürgerlicher Freiheiten, Folter und | |
Kriegsverbrechen ist schrecklich. | |
Wir als Gewerkschaften können mit dieser Bilanz im Rücken den Wählern nur | |
versuchen klarzumachen, dass es unter Romney noch viel schlimmer wäre. | |
Schwächung ist besser als vollkommene Zerstörung. | |
Romney hat seine Absicht kundgetan, die Gewerkschaften komplett | |
abzuschaffen, und kaum verschleiert ist seine Absicht, Gehälter zu | |
reduzieren und Beschäftigte in einem Umfang der Verarmung anheimzugeben, | |
wie wir das seit der Great Depression nicht mehr gesehen haben. | |
Einer von allen Seiten bedrohten Gewerkschaftsbewegung gibt eine Wiederwahl | |
Obamas zumindest ein bisschen Zeit und Spielraum, sich neu zu formieren und | |
zu entscheiden, wie wir aus der Belagerung herauskommen. Das ist nicht sehr | |
inspirierend. Aber so ist die Lage. | |
## Obamas Vorteil? Romney | |
Obamas Entscheidung, die Beschäftigten und die Gewerkschaften aufzugeben, | |
hat ihn einen Schlüsselvorteil im Wahlkampf gekostet – hochmotivierte | |
Freiwillige, vor allem Gewerkschaftsaktivsten. Alle anderen Vorteile liegen | |
bei Romney: Er hat mehr Geld, er hat die Medienmaschine der Unternehmer, | |
und er hat die republikanische Parteiorganisation, die am Wahltag versuchen | |
wird, Millionen von Obama-Wählern am Wählen zu hindern. Der einzige | |
Vorteil, den wir beim Versuch haben, Obama wiederzuwählen, ist Romney | |
selbst. | |
Romney und Ryan müssen aufgehalten werden. Dann wird die organisierte | |
Arbeiterschaft hoffentlich eine Lösung finden, wie wir aus dieser | |
politischen Falle wieder herauskommen – bevor wir endgültig kaputt sind. | |
2 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Chris Townsend | |
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