# taz.de -- Neues Album von Cody ChesnuTT: Der Bärtige, der sich die Brust hä… | |
> Er wäre gern der neue Marvin Gaye: Der afroamerikanische Sänger Cody | |
> ChesnuTT legt sein neues Album „Landing on a Hundred“ vor. Hat ihm die | |
> zehnjährige Auszeit gutgetan? | |
Bild: Helm, Bart und Brust mit Soul: Cody ChesnuTT. | |
Fast wäre Cody ChesnuTT in Vergessenheit geraten. Zuletzt war der | |
US-Soulsänger vor zehn Jahren auf dem mittlerweile als Klassiker geltenden | |
Raptrack „The Seed (2.0)“ mit der Band The Roots zu hören. Sein Name wird | |
seither mit diesem einen Lied assoziiert. | |
Das ist nicht verwunderlich, denn in der Zwischenzeit hat ChesnuTT nichts | |
mehr veröffentlicht. Stattdessen hat er eine Familie gegründet und sich | |
eine Elternzeit genommen, aus der dann unerwartet ein Jahrzehnt wurde. Und | |
jetzt, wo niemand mehr mit ihm rechnet, taucht er aus dem Nichts wieder | |
auf, mit „Landing on a Hundred“, einem soliden Soul-Album, das den | |
siebziger Jahren huldigt. | |
„Es ist der perfekte Moment, um zurückzukehren“, erklärt ChesnuTT beim | |
Interview in Berlin. „Ich habe das Gefühl, das Publikum ist offener | |
geworden für den musikalischen Dialog. Vor zehn Jahren hat sich im Pop | |
alles an der Oberfläche abgespielt, heute sehnen sich die Leute wieder nach | |
Tiefgang.“ Cody ChesnuTT ist sichtlich aufgeregt über sein Comeback. Immer | |
wieder betont er, es sei die richtige Entscheidung gewesen, so lange damit | |
zu warten. | |
„The Seed“ war ein Überraschungshit, ChesnuTT hatte das Lied eigentlich f�… | |
sein Debütalbum „The Headphone Masterpiece“ geschrieben, das er auf einem | |
analogen Vierspurgerät im eigenen Wohnzimmer aufgenommen hat. Seinem Titel | |
wurde „The Headphone Masterpiece“ absolut gerecht: der dumpfe Sound, die | |
ungeschliffenen Arrangements und ChesnuTTs introvertierte Lyrik benebelten | |
den Kopf des Hörers regelrecht. Dabei vibrierte man mit Rap und | |
psychedelischem Soul auf 36 Songs durch einen rücksichtslosen | |
Stimmungstrip. | |
Doch die angemessene Beachtung bekam das reizende Debüt von Cody ChesnuTT | |
erst, als es einem gewissen Herrn ?uestlove in die Hände fiel. Der Drummer | |
und Kopf der HipHop-Band The Roots lud ChesnuTT nach Philadelphia ein, um | |
eine zweite Uptempo-Version von „The Seed“ inklusive Rap und Gitarren | |
aufzunehmen. Der Erfolg des verfänglichen Stücks rückte auch ChesnuTTs | |
Soloarbeiten ins Rampenlicht. Die Medien überhäuften ihn mit Lob, | |
Majorlabels klopften an seiner Tür. Doch in diesem Moment beschloss | |
ChesnuTT, sich zurückzuziehen. | |
„Ich stehe nach wie vor hinter dem Song und dem Gefühl, das er ausdrücken | |
wollte“, sagt der Sänger. „Doch gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich oft | |
missverstanden wurde.“ Bei Auftritten spiele er „The Seed“ nicht mehr. Er | |
wolle nur Lieder machen, bei denen sofort klar sei, wovon er spreche. „Wir | |
werden heute mit Informationen überflutet. Meine Musik soll nicht | |
überfordern, sie soll direkt ins Herz treffen, mehr will ich nicht.“ | |
## Vor allem eindeutig | |
Tatsächlich zeichnet sich sein neues Album vor allem durch Eindeutigkeit | |
aus. Songtitel wie „Love is More than a Wedding Day“ oder „Where is all t… | |
Money going?“ sind selbstreferenziell und wirken fast wie | |
Essay-Überschriften. Nicht nur textlich ist Cody ChesnuTT zugänglicher | |
geworden, auch der Sound seines neuen Albums ist präziser. Während der | |
Charme des frühen Werks noch im Diffusen liegt, setzen die neuen Stücke auf | |
Kontraste und geschlossene Formen. | |
„Landing on a Hundred“ entstand in Memphis in jenem Studio, in dem Al Green | |
einst „Let’s Stay Together“ aufnahm. Der Geist des Albums verneigt sich | |
jedoch schon innerhalb der ersten Takte vor einer anderen Soul-Größe: | |
Marvin Gaye steckt in ChesnuTTs Leib und Seele. Nicht der glattgebügelte | |
Motown-Marvin Gaye, sondern der Bärtige mit sozialem Bewusstsein und großem | |
Charisma. Es ist nicht nur Cody ChesnuTTs ähnliche Intonation: Auch auf der | |
Bühne steht der Sänger bei langgezogenen Tönen gerne gebeugt und hält sich | |
die Brust, wie Gaye. | |
„Marvin Gaye ist ein großer Teil meines Lebens. Ich habe ihn verinnerlicht, | |
wie andere Leute Kirchenlieder“, beschreibt der 44-Jährige ohne zu zögern | |
seine Ideale. „Marvin ist ein Meister darin, auf einer sehr verletzlichen | |
Ebene zu kommunizieren. Er hat mich gelehrt, mich zu öffnen. Wie | |
kompliziert die Dinge bei ihm auch waren, er ließ sein Publikum daran | |
teilhaben, und das möchte ich auch tun.“ | |
Ob Cody ChesnuTT diese Öffnung hilft, bleibt fraglich. „I used to smoke | |
crack back in the days“, stimmt der Sänger zu Beginn eines Stücks an, nur | |
um danach in ein extrem theatralisch ermunterndes „Hab ich doch alles schon | |
verdaut“ abzugleiten. Und diese kalkulierte Bestimmtheit hält die Hörer auf | |
Distanz. Hübsch produziert und toll gesungen ist „Landing on a Hundred“ | |
allemal, doch das, was ChesnuTT einst so unersetzbar machte, ist ihm leider | |
entsprungen: innige Verspieltheit ohne Rücksicht auf ein Publikum. | |
4 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Soul | |
Musik | |
Album | |
Musik | |
HipHop | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Questloves Memoiren: Geburt des HipHop in Bill-Cosby-Show | |
The-Roots-Drummer Questlove hat Memoiren verfasst. Sie wirken wie | |
exzentrische Episoden aus einer Sitcom, die eine Chronik des US-HipHops | |
nachstellt. | |
Soulsängerin Jessie Ware: Die Schleierhafte | |
Sophisticated und massenkompatibel: Die britische Soulsängerin Jessie Ware | |
flirtet beim Konzert im Berliner Astra Club mit der Tanzfläche. | |
Die Berliner Band Haudegen: Lizenz zum Mitgrölen | |
Das Berliner Duo Haudegen setzt auf Hausgemachtes. Ihr Deutschrock spielt | |
mit altmodischen Proletenklischees und schwammigen Politparolen. | |
Kulturaustausch Berlin-Istanbul: Neugierig auf die Buraks | |
Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Das Berliner Radialsystem und das | |
Borusan Müzik Evi in Istanbul haben eine Kooperation in Sachen Musik | |
eingeläutet. | |
Bisexueller R'nB-Sänger Frank Ocean: Wir müssen die Dämonen überholen | |
Ein echter Segen: „Channel Orange“, das Debütalbum des kalifornischen | |
Sängers Frank Ocean, ist ein Liebesbekenntnis zum Dasein – mit all seinen | |
Abgründen. |