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# taz.de -- Bisexueller R'nB-Sänger Frank Ocean: Wir müssen die Dämonen übe…
> Ein echter Segen: „Channel Orange“, das Debütalbum des kalifornischen
> Sängers Frank Ocean, ist ein Liebesbekenntnis zum Dasein – mit all seinen
> Abgründen.
Bild: Den Selbstzweifeln und der Vereinsamung entkommen: Frank Ocean.
Brauchen wir heute ernsthaft noch Liebeslieder, nachdem Ikonen wie Marvin
Gaye oder Etta James schon vor Jahrzehnten mannigfaltige Auswüchse des
Verliebtseins erörtert und tief in unsere gebrochenen Herzen verankert
haben? Oder warum ist es genau jetzt an der Zeit für eine Renaissance des
Lovesongs, wo das Misstrauen in die Menschenfreundlichkeit unseres sozialen
Systems weltweit einen kritischen Höhepunkt erreicht?
Eine Antwort gibt das geniale Erstlingswerk eines 25-jährigen Künstlers aus
Südkalifornien, der kürzlich mit einem offenen Liebesbrief nicht nur seinen
poetischen Elan bewies, sondern sich auch öffentlich zur Bisexualität
bekannte.
Frank Oceans Coming-out hat ihm gewiss die verdiente Aufmerksamkeit für
sein Glanzstück „Channel Orange“ gesichert. Was sich auf diesem Album
offenbart, ist nicht nur ein Update des Lovesongs, sonder ein echter Segen
für das seit Langem stagnierende Genre Rhythm and Blues insgesamt.
## Das Coming-out
„Bad Religion“ heißt die Ballade, mit der Frank Ocean dem US-Publikum
kürzlich live die Verzweiflung eines schwarzen schwulen Mannes ans Herz
legte. In Begleitung der Band The Roots löste Oceans TV-Auftritt in der
„Jimmy Fallon Show“ große Euphorie aus. Erst im Mai hatte sich Präsident
Obama für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, die in den USA seit
vielen Jahren kontrovers diskutiert wird.
„Herr Taxifahrer, für die nächste Stunde sind sie mein Seelenklempner.
Lassen sie die Uhr laufen und nehmen sie ruhig Umwege, wir müssen die
Dämonen überholen.“ Der Taxifahrer antwortet: „Allahu Akbar“, Gott ist
größer. Den Hintergrund von „Bad Religion“ zeichnen nur eine elektrische
Kirchenorgel und ein paar sparsam gesetzte Streicher, was den mehrdeutigen
Worten Oceans umso mehr Kraft verleiht.
Dass es sich bei den Dämonen um gleichgeschlechtliches Begehren handelt,
ist nur zu erahnen, da Ocean einige Wochen zuvor öffentlich von seiner
ersten Beziehung zu einem Mann berichtete. Genauso gut könnte es um die
gnadenlose Aufopferung des Selbst an eine Geliebte gehen. Oceans Lyrik
greift über Andeutungen: Es geht um eine unerwiderte Liebe, zu einer Person
oder zu Gott, der nach konservativen Glaubensauslegungen kein Erbarmen für
Homosexuelle hat.
„Beten würde mir nicht schaden, aber wenn es mich in die Knie zwingt, dann
ist es eine schlechte Religion.“ Der zugehörige Song, „Bad Religion“, ist
ein aufwühlendes Klagelied gegen Selbstzweifel, gegen Vereinsamung und
zugleich gegen überholte Moralvorstellungen.
## Öffentlicher Respekt
Nicht nur in gläubigen Kreisen, auch in der HipHop-Szene stellt
Homosexualität einen ambivalenten Gegenstand dar. Immerhin, nach Frank
Oceans Outing zollten ihm HipHop-Größen wie Jay-Z und Russell Simmons
öffentlich ihren Respekt und sprachen sich erstmals gegen die Homophobie in
der Rapszene aus, die häufig kleingeredet oder gar verschwiegen wird.
Überraschend ist, dass Ocean selbst Teil des kalifornischen
Skater-Rap-Kollektivs Odd Future war, welches unter anderem auch durch
schwulenfeindliche Aussagen für Publicity sorgte. Oceans Solo-Mixtape
„Nostalgia Ultra“ hatte im vergangenen Jahr sein künstlerisches Potenzial
bereits angedeutet und ihn in puncto Kreativität deutlich vom Rest der
Flegelgruppe abgehoben und auf größere Umlaufbahnen transportiert.
Seine lebendigen Sprachbilder wurden bald von Stars wie Beyoncé und John
Legend hochgeschätzt, sie ließen sich Songs von Ocean schreiben. Es scheint
nicht nur so, als hätte Frank Ocean durch vielgestaltige Erfahrungen eine
interessante Geschichte zu erzählen, er tut dies unentwegt, mit
Detailtreue, kritischen Gedanken und unausgeschöpften Metaphern in seiner
Textpoesie.
Sein Debütalbum „Channel Orange“ schickt uns nun 17 unkonventionelle
Erzählungen, die von Lebenslust zeugen, aber auch von menschlichen
Abgründen. Ausgerechnet aus Los Angeles, der Heimat Hollywoods, Traumfabrik
aller vereinheitlichten Lebensideale, die alles Andersartige in Frage
stellt. Doch genau dieser örtliche Kontext ist wichtig für Oceans Werk.
## Zwischen Sinnleere und Faszination
Mit ausgeblichenen Farben liefert er Bilder zum Alltag in Südkalifornien,
etwa in „Sweet Life“. Sein Beat ist laid-back und Vintage, Keyboardmelodie
und Gesang sind eine Hommage an Stevie Wonder. Für die Komposition zeichnet
kein Geringerer als Pharrell Williams (N.E.R.D.) verantwortlich, der zu den
innovativsten US-Popproduzenten der letzten zehn Jahre zählt.
Das Setting von „Sweet Life“ bilden die Ladera Heights, das „schwarze
Beverly Hills“. Unschlüssig zwischen Sinnleere und Faszination, besingt
Ocean dessen surreale Dekadenz und Künstlichkeit: „Warum die Welt sehen,
wenn du den Strand hast? Du genießt die Brise, bis du tot im Grab liegst.“
Um die zwiespältige Liebesbeziehung zwischen zwei Süchtigen, die keine
Gemeinsamkeiten mehr teilen außer einen Kühlschrank und die
Drogenabhängigkeit, geht es in dem verträumten und halbironischen Stück
„Pilot Jones“. So kritisch sich der Erzähler auch gibt, lässt er sich
letztlich doch verführen, zum Kiffen und zum Sex. Gedämpfte Klänge,
hypnotische Verzerrungen und die reduzierte Lautstärke des Instrumentals
ergänzen die subtile Story fast zur Musical-Tauglichkeit.
## Zurück zu den Ursprüngen
Frank Ocean reizt das musikalische Potenzial von R ’n’ B aus, ohne die
Grenzen des eingängigen Pop zu verlassen. Ja, er nutzt progressive
Elemente, um die Tradition an ihre vielschichtigen Wurzeln zurückzuführen.
Die Entstehung von R ’n’ B verdankt sich den Musiksalons in den
US-Großstädten während des Zweiten Weltkriegs. Dort entstand die Fusion aus
Blues, Swing und Gospelgesang.
Mit der Einwanderungswelle von Afroamerikanern aus den ländlichen
Südstaaten in die Metropolen des mittleren Westens und der Ostküste wurde
schwarze Musik um regionale Blues-Stile und rhythmische Variationen
erweitert. R ’n’ B war ursprünglich ein leichtfüßiger Hybrid aus allen
überlieferten musikalischen Strömungen. Der weiße Mainstream bezeichnete
seine Platten erst als „Race Records“ und dann als „Rhythm and Blues“.
Sicher war dies eine Vorsichtsmaßnahme, um schwarze von weißen Musikern
abzugrenzen, die bald denselben Sound etwas beschleunigten und „Rock ’n’
Roll“ nennen sollten. Frank Oceans Songs wollen zu jedem sprechen, dennoch
verzichten sie nicht auf Themen, die afroamerikanische Musik schon lange
beschäftigen.
In Oceans Song „Crack Rock“ geht es um Sucht, jedoch erscheint sie hier
weniger sublimiert als in der Kifferromanze „Pilote Jones“. Seine direkte
Sprache und die funkige Siebziger-Jahre-Soul-Ästhetik erinnern an die
Junkie-Songs eines Curtis Mayfield oder eines Gil Scott-Heron. „Du weißt
nicht, wie bedeutungslos du bist, bis du vollkommen vereinsamt in Arkansas
sitzt, mit dem letzten Steinchen in deinem Glasrohr.“ So trocken wie dieses
Bild kommt auch Oceans Intonation daher, die sich bei jedem Song dem
Textlichen aufs Neue anpasst.
Wenn es romantisch zugeht, wie im ekstatischen „Thinkin Bout You“, greift
Ocean zur Kopfstimme. Auf dem etwas differenzierteren zehnminütigen
Liebesepos „Pyramids“, das clever zwischen historischen Bezügen zur
Schönheit Kleopatras und einer Stripperin im Las-Vegas-Nachtclub „Pyramids“
wandelt, führt der Sänger seine gesamte Bandbreite an stimmlichen
Möglichkeiten von Gospel-Einlagen bis hin zum Sprechgesang vor.
Eine Stilübung in Sachen Liebeslied ist „Channel Orange“ aber nicht.
Verliebtheit zieht sich durch das schattige Werk als orangefarbener Faden.
Dabei geht es häufig in einem kosmischen Kontext des Daseins um die
Hassliebe zum Schicksal und um Fehlbarkeit. Sein Coming-out begann Frank
Ocean mit den Worten: „Wer auch immer du bist, wo auch immer du bist … Ich
glaube, wir sind uns sehr ähnlich. Menschen, die um die Dunkelheit
kreisen.“ Ja, wir sind uns tatsächlich sehr ähnlich.
Frank Ocean: "Channel Orange" (DefJam/Island/Universal)
20 Jul 2012
## AUTOREN
Fatma Aydemir
Fatma Aydemir
## TAGS
Debütalbum
Rap
Musik
Pop
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