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# taz.de -- Verfassungsreferendum Ägypten: Brot, Freiheit, Scharia
> Das Verfassungsreferendum entscheidet über Ägyptens Zukunft. In Kairos
> Armenvierteln sammeln die Islamisten schon Ja-Stimmen.
Bild: „Wir wollen Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Scharia“
KAIRO taz | Im Armenviertel Schubra-El-Kheima im Norden Kairos herrscht das
übliche Chaos. Der Verkehr steht, weil einige Tuk-Tuks, wie die ägyptischen
Motorrikschas genannt werden, wieder einmal verkehrt herum in die Straße
eingebogen sind.
Die Fahrer hupen und schreien sich gegenseitig an, während von irgendwo der
neuste ägyptische Hit aus einem voll aufgedrehten Autoradio dröhnt. Alles
ist wie immer, wäre da nicht diese hitzige Rede, die aus einem
übersteuerten Lautsprecher kommt.
Sie stammt aus einem hell erleuchteten Zelt am Ende der Straße. Dort werben
Ägyptens Salafisten an diesem Abend für eine Ja-Stimme beim
Verfassungsreferendum am Samstag. Der bärtige Sprecher Usama El-Fikri, ein
Mitglied der salafistischen El-Nour-Partei, läuft sich gerade warm. „Diese
Verfassung ist kein göttliches Werk, sie ist nicht heilig, sie ist von
Menschen geschrieben. Damit ist klar, dass es darin auch Fehler gibt“, ruft
er. Aber dieses Werk sei in Übereinstimmung mit anderen geschrieben worden,
„wir haben versucht, einen größtmöglichen Konsens zu erzielen“.
Ägyptens Liberale streiten dies vehement ab. Sie werfen den Salafisten und
Muslimbrüdern vor, den Verfassungsentwurf fast im Alleingang geschrieben zu
haben, nachdem die Liberalen und die Kirchenvertreter aus der
Verfassungsgebenden Versammlung zurückgetreten sind. Dies geschah aus
Protest gegen die Unnachgiebigkeit der Islamisten. Doch gerade die
salafistischen Scheichs wie El-Fikri predigen in den Moscheen und auf
solchen Veranstaltungen, dass auch sie nachgegeben haben.
„Eigentlich sind wir dafür, dass die Regeln der Scharia die Grundlage für
alle ägyptischen Gesetze darstellen sollten. Aber in diesem
Verfassungsentwurf ist nun nicht von den Regeln, sondern lediglich von den
Prinzipien der Scharia die Rede“, erklärt El-Fikri. „Das ist nicht unsere
Position, aber wir haben es akzeptiert, weil wir warten können, bis es mit
Ägypten wieder vorangeht“, argumentiert er.
Mehrere hundert männliche Zuschauer, die auf den Sitzen im Zelt Platz
gefunden haben und ein paar Dutzend Frauen, die getrennt vor dem Zelt
sitzen, rufen begeistert: „Das Volk möchte, dass Gottes Gesetz praktiziert
wird“. Ein kurzes Intermezzo, denn bisher haben sie alle andächtig dem
Scheich zugehört.
## Würde und Schutz für die Religion
Der wandelt einfach kurz den Slogan der ägyptischen Revolution „Brot,
Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ in seinem Sinne ab. „Wir wollen Brot,
Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Scharia“. Den letzten Teil kreischt
er fast hysterisch. Etwas ruhiger führt er aus: „Damit wir hier in Würde
und im Schutz unserer Religion leben können“.
Ein paar hundert Meter weiter befindet sich in einem heruntergekommenen
Bürogebäude das lokale Büro der islamistischen Konkurrenz, der Freiheits-
und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder. Abdel Hamid Nasser Eddin,
Jugendsekretär der Partei in Schubra Kheima, gibt sich zuversichtlich. „Wir
werden am Samstag 70 bis 80 Prozent Ja-Stimmen beim Verfassungsreferendum
erreichen“, glaubt er.
Der Grund dafür sei einfach. „Wir sind viel präsenter auf der Straße als
die Liberalen. Die kennen die Menschen nur durch irgendwelche
Pressekonferenzen oder Erklärungen aus dem Fernsehen“, meint er. „Wir haben
den direkten Kontakt, sei es auf der Straße, in der Arbeit oder im
Kaffeehaus, überall erklären wir unseren Standpunkt zur Verfassung und das
hat Erfolg“, sagt er.
So mobilisieren in den letzten Tagen sowohl Salafisten, als auch die
Muslimbrüder in jedem ägyptischen Dorf und in jedem Armenviertel. So viele
Menschen wie möglich sollen beim Verfassungsreferendum mit „Ja“ stimmen. Es
ist diese Mobilisierungskraft in den Moscheen und auf der Straße, mit der
sie das kontroverse Verfassungsreferendum wahrscheinlich durchdrücken
werden.
Denn die Vertreter der liberalen Parteien, die kennen sie im Kairoer
Armenviertel Schubra El-Kheima bestenfalls aus dem Fernsehen. Und genau das
stellt das größte Problem der ägyptischen Liberalen dar. Trotz all ihrer
Proteste auf dem Tahrir-Platz und vor dem Präsidentenpalast wissen sie: Der
Kampf gegen die Islamisten lässt sich am Ende nur an den Wahlurnen
gewinnen.
14 Dec 2012
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
## TAGS
Ägypten
Islamismus
Liberale
Referendum
Verfassung
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Mohammed Mursi
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