| # taz.de -- Leben nach dem Knast: „Das ist alles Dreck da drinnen“ | |
| > Klaus Witt war schon als Kind kriminell. 30 Jahre hat er im Gefängnis | |
| > gesessen. In der Freiheit muss er damit zurechtkommen, dass er allein | |
| > ist. | |
| Bild: Zellenabschluß – 30 lange Jahre. | |
| taz: Herr Witt, Sie wurden vor neun Monaten aus der Sicherungsverwahrung | |
| entlassen. Lange Jahre wussten Sie nicht, wann und ob dieser Tag kommen | |
| würde. Wie feiern Sie dieses Jahr Weihnachten? | |
| Klaus Witt: Hm. | |
| Weihnachtsbaum, Geschenke auspacken… | |
| 1997 feierte ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin. Das war das schönste | |
| Weihnachten, an das ich mich erinnern kann. Da hatte ich sogar einen | |
| Weihnachtsbaum aufgestellt. | |
| Das war in der kurzen Phase in Freiheit. Wie war es in den übrigen 30 | |
| Jahren im Gefängnis? | |
| Ach … | |
| Egal? | |
| Scheißegal. Ich habe einen Horror vor der Zeit. | |
| Was ist nicht scheißegal? | |
| Freiheit. Das Wichtigste ist, dass ich meine Entscheidungen alleine treffen | |
| kann. Aber die Freiheit genießen, weil man Geld und einen Job hat, ist was | |
| anderes. | |
| Wie war der erste Tag in Freiheit? | |
| Ich bin ich einen Tag vor der Entlassung zu den Bullen. Ich hatte mir | |
| vorher über einen Kumpel eine Wohnung besorgt und brauchte Geld für die | |
| Kaution. Ich sage: Ich muss noch mal zur Zahlstelle, brauche Geld. Wie viel | |
| denn, fragt der. Ich sage: 1.600. Die sagen, das muss ich mir genehmigen | |
| lassen. Ich sage: Erstens ist das mein Geld, und zweitens ich werde morgen | |
| entlassen! Da ist der runter zum Teilanstaltsleiter, und der sagt, ich | |
| dürfe nur 400 Euro mitnehmen. Ich sage: Warum? Und der sagt: Wegen | |
| Fluchtgefahr. | |
| Und dann? | |
| Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig. Mit so einem Mist haben die mir | |
| die Bude versaut. | |
| Was haben Sie in Freiheit als Erstes gemacht? | |
| Ich habe mir Papiere besorgt, eine AOK-Karte, und was man so macht: das | |
| Leben genießen. | |
| Zum Beispiel? | |
| Die wilden Zeiten sind ja vorbei. Man genießt gewisse Sachen. Aber man | |
| stellt nach 13 Jahren Knast auch fest, dass man bestimmte Sachen | |
| überbewertet hat. | |
| Das heißt? | |
| Man merkt, dass man aus einer anderen Generation kommt. Ich hatte eine | |
| Beziehung zu einer Fotografin. Da habe ich so Sachen gemerkt wie | |
| Unzuverlässigkeit, und da habe ich gesagt: Das passt mir nicht. | |
| Wie lange ging die Beziehung? | |
| Vier Wochen. Bis vor Kurzem hatte ich wieder eine Beziehung. Doch | |
| irgendwann kommt immer die Frage nach meiner Vergangenheit. Sie hatte damit | |
| vielleicht keine Probleme, aber das Umfeld. Da merkt man, das man ein | |
| Einzelgänger geworden ist. | |
| Erzählen Sie freimütig von Ihrer Vergangenheit oder kommt die Fragen eher | |
| vom Gegenüber? | |
| Das kommt darauf an. Wenn der Kontakt intensiver wird, spiele ich mit | |
| offenen Karten. Ich habe keinen Bock, lange rumzumachen. Arbeitsmäßig | |
| spielt sich sowieso nichts ab. Ich bin zum Arbeitsamt und habe gesagt: | |
| Finanziert mir einen Führerschein, dann habe ich eine Möglichkeit. Da haben | |
| die sich krummgemacht bis zum Abwinken. Läuft nicht. | |
| Mit welcher Begründung? | |
| Der Arbeitgeber soll das vorfinanzieren. Da sag ich: Ich muss doch erst mal | |
| einen Arbeitgeber finden. Der Weg ist doch ein anderer. Wenn ich einen | |
| Führerschein habe, finde ich leichter Arbeit. Aber wenn ich zum Arbeitgeber | |
| gehe, fragt der mich: Was haben Sie denn die letzten 30 Jahre gemacht? Das | |
| Jobcenter wollte mir was auf 400-Euro-Basis vermitteln. Sind die beknackt? | |
| Das ist überhaupt nicht drin. | |
| Haben Sie eine Idee, was Sie machen können, damit Sie nicht wieder | |
| kriminell werden? | |
| Da gibt es keine Idee. Ich gehe ab und zu pokern, weil ich das ganz gut | |
| kann. Verdiene da ein paar Mark. Ich merke aber deutlich: Du hast keine | |
| Chance, auf die Füße zu kommen. | |
| Haben Sie Angst, wieder in den Knast zu kommen? | |
| Nein, eigentlich nicht. Ich würde es nicht mehr überstehen. Ich würde einen | |
| Schlussstrich ziehen. | |
| Wie wirkte sich das Gefängnis auf Sie aus? | |
| Das hat viel kaputtgemacht. Man soll ja draußen soziale Kontakte aufbauen. | |
| Man hat aber keine Gemeinsamkeiten mit den Menschen draußen. Die haben | |
| andere Interessen. In der Kneipe zu sitzen, geht mir zum Beispiel auf den | |
| Zünder. Dieses Gelaber. Ich habe es mal in einem Fußballverein für alte | |
| Herren versucht. Da hat man hinterher zusammengesessen. Die sprechen über | |
| Arbeit, Familie. Da hast du keinen Bezug zu. Willst du da irgendeine | |
| Geschichte erfinden? | |
| Sie haben eine Knastidentität? | |
| Mit der Mentalität im Knast habe ich nichts am Hut. Das ist auch alles | |
| Dreck da drinnen. Im Prinzip bist du einsam. Du bist allein und musst damit | |
| klarkommen. Die letzte Freundin sagte immer zu mir: Hör doch mal auf, | |
| nachzudenken. | |
| Worüber denken Sie denn nach? | |
| Ich bin unzufrieden. Wie will man mit 374 Euro am Leben teilnehmen? Wie | |
| soll das gehen? Soll ich mich in meine Wohnung zurückziehen und vorm | |
| Fernseher verblöden? Man ist dazu verdammt, nicht am Leben teilzunehmen. | |
| Ich konnte mir ja im Knast mehr leisten. Ich habe 260 Euro verdient und | |
| bekam Essen und Trinken umsonst. Ich konnte ansparen, und wenn ich | |
| Ausführung hatte, konnte ich mir was leisten. | |
| Glauben Sie noch daran, einen regulären Job zu finden? | |
| Ich bin 60, und mit meiner Biografie ist das unrealistisch. Es gibt so | |
| viele Arbeitslose, die haben Berufe gelernt, und jetzt komme ich und sage: | |
| Hallo, ich will Arbeit haben. Ja, wer sind Sie denn? Ja, ich bin der, der | |
| 30 Jahre in der Kisten gesessen hat. Du kriegst den Knast nicht aus dem | |
| Kopp raus. | |
| Aber Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, oder? | |
| Dann wäre ich tot. | |
| Haben Sie sich jetzt Ziele gesetzt? | |
| Mit der letzten Frau hatte ich mir eine Zukunft vorgestellt. Das war sehr | |
| intensiv, wir hatten schon eine Wohnung, und dann ist alles geplatzt. Das | |
| ist momentan ein Problem. Ich lebe dahin, von einem Tag in den anderen. Das | |
| Gute ist, ich hau mir keine Drogen in den Schädel. Wenn ich anders | |
| gestrickt wäre, wäre ich vielleicht eine Gefahr für die Allgemeinheit. | |
| Weil der Frust so groß ist? | |
| Richtig. Ich könnte mir vorstellen, dass da einer mal Amok läuft, dass er | |
| sich sagt: Ich habe versucht, mit allen Mittel auf die Beine zu kommen. Man | |
| hat mir keine Chance gegeben. | |
| Woran liegt das? | |
| Die müssten Programme für Leute wie mich haben, damit man eine Chance hat, | |
| legal zu leben. Aber das ist nicht der Fall. Ich rede nicht von den Jungen, | |
| aber die Leute im Knast werden ja immer älter. Entweder gehen sie krank und | |
| kaputt raus, als Fall fürs Pflegeheim, oder sie haben keine Chance. | |
| Denken Sie jetzt als 60-Jähriger öfter an Ihre Kindheit, wo es noch keine | |
| Kriminalität gab? | |
| Ich war ja als Kind schon kriminell. Ich habe schon mit zehn Jahren | |
| geklaut. | |
| Was haben Sie geklaut? | |
| Ich habe in der Nollendorfstraße gewohnt, bin zum KaDeWe gelaufen und habe | |
| Spielzeug geklaut. | |
| Gab es nichts Positives in Ihrer Kindheit? | |
| Fürsorgeerziehung ist nichts Positives. Ich versuche, mich nicht mit der | |
| Vergangenheit zu beschäftigen. Das bringt nichts. Das war einmal und ist | |
| nicht mehr. | |
| Wie kam es, dass Sie schon als Kind geklaut haben? | |
| Wahrscheinlich soziale Umstände. Mutter Alkoholikerin, im Heim gelebt. Ich | |
| habe jetzt zu zwei Bekannten aus dem Heim wieder Kontakt. Wir sind die | |
| einzigen Überlebenden. | |
| Überlebenden? | |
| Ja. Wir haben uns unterhalten und einer sagte: Wir sind Überlebenskünstler. | |
| Wir haben es geschafft durch diese ganze Scheiße. Aber wir haben natürlich | |
| auch einen Haufen Defizite. | |
| Was machen die anderen? | |
| Bei einem weiß ich es nicht. Er ist in Thailand oder in Haft. Der andere | |
| wohnt in Oranienburg. Wir haben uns zufällig in einer Kneipe getroffen. | |
| Davor hatten wir uns 50 Jahre nicht gesehen. | |
| War er auch im Gefängnis? | |
| Ja. 1965 waren 40 Leute in dieser Fürsorgeerziehung. Von diesen 40 sind | |
| alle kriminell geworden. Alle! Kinderficker, Mörder, Rauschgifthändler. | |
| Wirklich alles vertreten, was Sie sich denken können. | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| Wenn einer weiß, wie ’65 die Methoden waren. Das war schlimmer als Knast. | |
| So einen Arrest, wie ich ihn da gemacht habe, habe ich nie wieder erlebt. | |
| Das waren Schweine. Erzieher aus der Nazizeit, Drecksäcke. Wenn man die | |
| draußen treffen würde … Es gibt einen Film mit Johnny Depp, der seine | |
| Erzieher, die ihn sexuell missbraucht haben, in einer Kneipe sieht und | |
| erschießt. Das waren Schweine, absolute Schweine. | |
| Warum sind Sie die einzigen Überlebenden? | |
| Selbstdisziplin. Ich habe im Knast Leute kennengelernt, die gemeint haben, | |
| sie wären stark. Die waren aber nur stark gegenüber anderen. In dem Moment, | |
| wo sie Selbstdisziplin zeigen mussten, sind sie eingebrochen. Da hat man | |
| gesehen, was das teilweise für Schwächlinge sind. Nur mit Selbstdisziplin | |
| habe ich die 30 Jahre überlebt. Das ist kein Kampf nach außen, den musste | |
| ich mit mir selbst führen. | |
| Wie? | |
| Man braucht ein Ziel. Ich wollte nicht im Knast krepieren. Ich wollte raus. | |
| Okay, irgendwann kippt man um und ist tot. Die Vorstellung aber, dass ich | |
| in so einer Schweinezelle den Löffel abgebe, hat mich verrückt gemacht. | |
| Hatten Sie früher konventionellere Ziel? | |
| Als kleiner Bengel wollte ich zur See fahren. | |
| Kennen Sie Leute, die aus dem Knast raus sind und bei denen es besser | |
| funktioniert hat, als bei Ihnen? | |
| Legal? | |
| Ja. | |
| Kenne ich keine. | |
| Glauben Sie, es gibt ein Happy End? | |
| Was ist das? | |
| Immerhin sind Sie entlassen worden. Als Sicherungsverwahrter brauchten Sie | |
| ein positives Gutachten. | |
| Ich hatte ja genug andere Gutachten. Aber ich habe trotz dieser Vollidioten | |
| weiter gekämpft. Die letzten 13 Jahre waren die schlimmsten in meinem | |
| Leben. | |
| Weil Sie in Sicherungsverwahrung nicht wussten, wann Sie wieder rauskommen? | |
| Ja, aber ich habe mir eine Grenze gesetzt, wo ich wusste, da werde ich dann | |
| eine Entscheidung fällen. | |
| Ausbruch? | |
| Das wäre die letzte Entscheidung gewesen. Flucht ist stressig, und ich | |
| hätte sofort was machen müssen, um die finanziellen Mittel zu haben. Das | |
| wäre die Ultima Ratio gewesen. | |
| Sie haben sich dagegen entschieden? | |
| Ich habe mir diese Option immer offen gehalten. | |
| Woran glauben Sie? | |
| Nichts vergeht, nichts kommt von nichts, und nichts vergeht in nichts. | |
| 23 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Kai Schlieter | |
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